
Prolog
(Eine schlafende Frau)
Ein Mann von etwa zwanzig, vielleicht dreißig (oder älter) dringt in dein Schlafzimmer ein. Er ist bewaffnet. Zerrt dich aus dem Bett, drückt dir die Pistole an die Schläfe. Zerrt dich, an Händen und Füßen gefesselt, auf ein Motorrad, vielleicht einen Jeep. Du wirst bald sechzig, vielleicht auch schon siebzig, doch er kennt keine Gnade. Wirft dich brutal in eine kleine stinkende unterirdische Zelle - in einem Tunnel oder feuchten Keller. Darin ist es dunkel und die Decke niedrig. In einer Ecke - eine verdreckte Kloschüssel. An der Wand gegenüber - ein Waschbecken. Er richtet die Pistole auf dich und fragt:
Warum hast du tatenlos zugesehen?!
Auch eine Frage, die du deiner Mutter stellen könntest.
Was hätte ich deiner Ansicht nach tun können? Willst du fragen, aber deine Stimme versagt dir den Dienst.
Warum bist du nicht weggegangen? Warum hast du nichts unternommen?! Schreit er, mit Funken sprühenden Augen.
Sein Bruder, zwei Jahre jünger als er, steht auf der Türschwelle, und sagt: Was machst du mit ihr?
Mit einem Blinzeln bedeutest du ihm, dass es okay ist; dass du wusstest, dieser Moment würde kommen; dass es eine überaus legitime Frage ist, die du dir seit Kriegsausbruch täglich stellst. Es ist ganz natürlich, dass das zweite Kind weniger dazu neigt, sich derartige Fragen zu stellen, aber der Älteste - er ist es, der dich zur Mutter gemacht hat und er pocht darauf, es zu erfahren.
Du willst ihm Antwort geben, gibst ihm jedoch keine -
So wie du damals nicht wusstest, was du tun solltest, weißt du auch jetzt nicht, was du sagen sollst.
Er schießt in die Luft, die Kugel pfeift an deinem Ohr vorbei und dringt in den Rahmen des verbarrikadierten Fensters ein.
Voller Panik wachst du auf.
(Eine Frau wacht voller Panik auf.)
Was sagst du deinem Sohn, wenn er fragen wird: Warum hast du tatenlos zugesehen?
Wenn er in zehn oder zwanzig Jahren fragen wird: Warum hast du tatenlos zugesehen, als du die hungernden Kinder, die verstümmelten Leute, die innerlich zerrütteten Frauen gesehen hast, die kleine, mit Laken zugedeckte Körper in den Armen hielten? Warum hast du tatenlos zugesehen, als du die Luftangriffe gesehen hast? Sag nicht, wir wussten nichts davon. Im Gegenteil, sag: Wir wussten davon. Wir wussten, was sich jenseits der Grenze abspielte, allerdings wussten wir nicht, wie wir dem Einhalt gebieten sollten. Wir wussten, dass etwas vom Kopf her stank, aber wir wussten nicht, ob es richtig war, dass es zu Verrat kam und was eine Schattenregierung ist und warum sie U-Boote anschaffte. Wir versuchten unser Leben fortzusetzen, während die Geiseln in den Tunneln verrotteten, irgendwann war aber nicht mehr klar, wer ihre Rückkehr vereitelte und warum, wer die Geiseln wofür benutzte und wer wann log. Wir glaubten ihnen, als sie sagten, dass wir kein anderes Land hätten und dieses Land hätten, wir glaubten ihnen, als sie sagten, dass es gefährlich sein mochte zu bleiben, aber noch gefährlicher war, es zu verlassen. Sie sagten uns, was wir denken und wovor wir Angst haben sollten, zwangen uns allerdings nichts auf. Sie verrieten uns nicht alles, verboten uns aber auch nicht den Mund. Man konnte einfach schreien: „Kartoffel“ und ein jeder zückte die Pistole. Alle waren gegen alle, sodass es keinen gab, gegen den man sein konnte. Also sahen alle tatenlos zu.
Wenn dich in zehn oder zwanzig Jahren dein Sohn fragt: Warum hast du tatenlos zugesehen, als du die Waisenkinder, die Leichen der an Händen und Füßen gefesselten Ärzte gesehen hast: Sag nicht: Ich war in der Minderheit, ich war gezwungen zu schweigen. Im Gegenteil, sag, dass alle in der Minderheit waren: die Weißen, die Schwarzen, die Braunen, die Gelben, die Homosexuellen, die Linken, die Rechten, die Demonstranten. Und wir haben geschrien, bis es verboten war zu schreien, dann haben wir getwittert, bis es auch verboten war zu twittern und wir haben auch leise unsere Stimme erhoben, bis es uns auch verboten war, die leiseste Stimme zu erheben und dabei fiel uns nicht auf, dass wir zum Schweigen übergingen, und dieses Schweigen war so ohrenbetäubend laut, dass man auf der Straße unmöglich atmen konnte, ohne dass man in der Nachbarstraße einen anderen hörte. Daher bekamen wir Angst zu atmen und antworteten nur, wenn man uns fragte. Und ich sagte zu dir, mein Sohn, du erinnerst dich bestimmt (so wirst du es als Mutter zu deinem Sohn sagen): Ihr sagt nur, dass ihr Juden seid, wenn ein Jude euch danach fragt. Ihr sagt nur, dass ihr Niederländer seid, wenn ein Rettungsflugzeug kommt; ihr tretet nur zum Christentum über, wenn es euch Privilegien bringt; ihr tretet nur zum Islam über, wenn euer Leben bedroht ist; ihr erhebt euch nur, um zu töten, wenn euch einer töten will. Und man wollte uns unaufhörlich töten. Jeder Mensch wurde zum potenziellen Feind, keiner wusste, wer vor ihm stand und wohin er gehörte, denn alle schwiegen, und alle dachten, dass man sie töten wolle. Du konntest einfach schreien: „Kartoffel“ und ein jeder zückte die Pistole. Alle waren gegen alle, sodass man gegen niemanden sein konnte. Also sahen alle tatenlos zu.
Wenn dein Sohn fragen wird: Warum hast du tatenlos zugesehen, als du die Leichenteile an den Zäunen, die zerstörten Gebäude, die Leichen fressenden Hunde gesehen hast. Warum hast du das Land nicht verlassen, wird er fragen. Sag nicht, dass du nicht konntest. Im Gegenteil, sag, dass du konntest. Sag, dass du konntest, aber nicht wolltest. Dass du keinen Fehler begehen wolltest und nicht wusstest, wie du richtig handeln solltest. Du wolltest keine Minderheit in einer Welt darstellen, die immer mehr Risse bekam und die ganze Welt bekam immer mehr Risse und keiner wusste, wo der nächste Krieg ausbrechen würde. Du wolltest das Land verlassen, sag es ihm, aber du konntest dich nicht zu der Entscheidung durchringen, wohin, wie und wann. Und wem hätte es eigentlich geholfen? Du hast das Land nicht verlassen, weil sie noch klein waren, erkläre es, und so dermaßen zugehörig waren. Schließlich kann man sich an alles gewöhnen, sag ihm. Man kann sich an den Lärm der Flugzeuge gewöhnen, die auf ihrem Weg zum nächsten Luftangriff übers Haus fliegen, an die Helikopter, die die Geiseln als Leichen zurückbringen, an den Luftschutzalarm mitten in der Nacht; an das Knallen, das die verängstigten Hunde erschüttert, an das Verriegeln der eisernen Türen des Luftschutzkellers. An die Angst um die Kinder. An den Zorn auf die, die schweigen. An die Schuldgefühle gegenüber den Geiseln. Daran, dass die Pistolen gezückt werden, auch wenn du einfach nur so „Kartoffel“ schreist. Alle waren gegen alle, sodass man gegen niemanden sein konnte. Also sahen alle tatenlos zu.
Aber vielleicht ist es noch einfacher: Sieh nicht tatenlos zu. Schrei einfach: „Kartoffel! Kartoffel“. Das ist es, was ich euch sage! Auf Hebräisch. Und hebe, dich ergebend, die Arme: Selbst wenn ihr mir die Zunge abschneidet - Hebräisch wird meine Muttersprache bleiben.
Übersetzung: Ulrike Harnisch