Über Reue und Trost

Breite, geschwungene Pinselstriche in Rot auf rosa Hintergrund, teils quer und überlappend verlaufend.

Am 13. Oktober 1943 hielt Thomas Mann im Coolidge Auditorium der Library of Congress in Washington einen Vortrag mit dem Titel: The War and the Future [Der Krieg und die Zukunft]. Der Exil-Autor, der Deutschland 1933 zunächst für die Schweiz, dann die USA verlassen hatte, eröffnete seinen Vortrag mit schmerzlichen Worten über die Entfremdung zu seinem Land, die das NS-Regime ihm aufzwang, und mehr noch zu seiner Kultur und Sprache. „Aber unser Schicksal ist es, den Kampf gegen unser eigenes Land […] führen zu müssen“, hatte Mann im Namen der Deutschen geschrieben, die wie er in deutscher Sprache Scham und Reue darüber bekannten, Deutsche zu sein, und Scham und Reue über die von Deutschland verübten Taten. „Aber unser Schicksal ist es, den Kampf gegen unser eigenes Land […] führen zu müssen – gegen das Land, dessen Sprache der geistige Stoff ist, darin wir wirken, das Land, in dessen Kultur wir wurzeln, dessen Tradition wir verwalten und dessen Landschaft und Lebensluft auch unsere natürliche Berge wäre.“

Der Schriftsteller Colm Tóibín beschreibt in seinem Buch Der Zauberer sehr gut Thomas Manns Entfremdung und Einsamkeit in den USA, die Sehnsucht nach den fernen Landschaften und der Atmosphäre von Lübeck und München, zu der es kein Zurück gab, selbst wenn der Krieg beendet und das Naziregime besiegt werden würde.

Ich will die Gräuel des Regimes, das Thomas Mann anprangerte, nicht mit den Verbrechen vergleichen, die die israelische Regierung in Gaza im Namen der Israelis verübt, und doch erfahre ich in den letzten Monaten die gleiche Entfremdung von dem Ort, der Sprache und der Kultur, die mein Zuhause sind, ohne selbst im Exil zu sein. Zwar reise ich gern zwischen Ländern und Städten, lerne neue Sprachen und Kulturen kennen, doch ein wandernder Jude bin ich nicht; ich bin ein israelischer Autor, der auf Hebräisch schreibt und der in der jüdischen Kultur zu Hause ist.

Und dennoch: Als sich vor einigen Wochen Millionen Juden in Israel und der ganzen Welt am Sederabend an gedeckte Tafeln setzten, weigerte ich mich erstmals, in der Haggadah zu lesen, die schildert, wie das Volk Israels die Fesseln der Sklaverei abwirft und in die Freiheit zieht. Deutlicher denn je spürte ich, wie mein Land das palästinensische Volk unterdrückt, und das machte es mir unmöglich, meine Freiheit zu feiern.

An Israels Unabhängigkeitstag, der in der Stunde beginnt, da ich diese Zeilen schreibe, überkommt mich beim Anblick der Flagge meines Landes Traurigkeit und ich bin an dem Tag, an dem das israelische Volk seine Unabhängigkeit errang, außerstande, Freude zu empfinden. Mehr denn je spüre ich, wie sehr der Freudentag des israelischen Volkes auch der Tag der Katastrophe des palästinensischen Volkes ist, dem mein Land es nicht ebenfalls ermöglicht, in Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichberechtigung zu leben.

Auf keinen Fall aber lasse ich es zu, dass die israelische Regierung oder der Staat Israel einen Keil zwischen mich und die hebräische Sprache treibt, die wesentlich älter und tiefwurzelnder ist als der Staat, oder zwischen mich und die jüdische Literatur, die Tausende Jahre vor der Staatsgründung geschrieben wurde. Mit dieser Sprache und Literatur suche ich weiterhin nach einer Möglichkeit, an meinem Volk festzuhalten – und auch nach einem Ausweg aus der Verzweiflung. Nach Wegen, zu glauben und zu hoffen.

Und ich finde einen Ausweg. Einer der Autoren, der mir dabei hilft, ist der Prophet Jona, einer der eher kurzen Bibeltexte und einer der schönsten. Die Geschichte ist bekannt: Am Anfang bittet Gott Jona, sich in die Stadt Ninive aufzumachen und den Bewohnern die Nachricht zu überbringen, dass die Stadt zur Strafe für die von ihnen begangenen Verbrechen bald zu Grunde gehen wird. Jona versucht, sich dieser Prophezeiung zu entziehen. Er geht an Bord eines Schiffes, das vom Hafen Jafo ausläuft, er will vor Gott fliehen und der Mission, die dieser ihm aufgebürdet hat. Weshalb, erklärt er nicht, möglicherweise, weil die Bewohner Ninives keine Juden, d.h. keine Angehörigen seines Volkes sind und er ihrer Vernichtung gleichgültig gegenübersteht.

Als ein Sturm das Schiff zu zermalmen droht, kommen die Schiffsleute dahinter, dass das Unglück sie wegen Jona heimsucht und werfen ihn über Bord, nicht ohne ihm zuvor Gelegenheit gegeben haben, den Fluch zurückzunehmen und zu bereuen. Was Jona nicht tut. Er wird ins Meer geworfen, von einem Fisch verschluckt, in dessen Bauch er drei Tage und drei Nächte Gott anruft, bis er eine zweite Chance erhält. Der Fisch spuckt Jona aus, Jona macht sich auf, geht nach Ninive und überbringt den Bewohnern die Nachricht der baldigen Zerstörung der Stadt, doch dann geschieht in dieser Geschichte das Wunder. Im Gegensatz zu den Bewohnern anderer Städte, denen in der Bibel die Vernichtung angedroht wird, kehrt die Stadt Ninive um, tut Buße, und die Tötung der Massen wird abgewendet. Es gibt nicht viele Geschichten in der Bibel mit einem solchen Happy End, die uns die Hoffnung lassen, dass eine Katastrophe auch aufhören kann.

Wie wurde die Zerstörung und das Töten verhindert? Warum überlegte Gott es sich anders? Der Schlüssel ist Reue. Die Verbrechen von Ninive werden nicht ausgelöscht. Es genügt nicht, dass die Stadtbewohner nicht mehr sündigen und ihr Verhalten ändern. Gott will ihre Reue, damit er seine Entscheidung, Zerstörung über sie zu bringen, zurücknehmen kann.

Worin besteht Reue? In der Erkenntnis, dass die eigenen Taten verwerflich sind. In der Buße. Im Bitten um Vergebung. Die hebräische Sprache liefert uns den Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen Reue und dem Abwenden einer Katastrophe: durch die Ähnlichkeit zwischen dem Verbstamm nichem (hat Reue gezeigt, bereut) und dem Nomen nechama (Trost). Erst durch das Bereuen unserer Taten können wir den Tag der Reue und des Trostes herbeiführen, das heißt, den Tag, an dem die Katastrophe aufhört. Und genau das geschieht in der Geschichte: Die Bewohner von Ninive und deren Anführer, vom Vieh, das in der Stadt lebt, bis hin zum König, gehen zur Buße in Sack und Asche und fasten dreißig Tage lang, und führen so den Tag der Reue herbei. In den letzten, wunderbaren Versen des Buches begehrt der Prophet dagegen auf, dass Gott das angekündigte Übel reute – genau deswegen sei er vor der Mission der Prophezeiung geflohen, denn er habe geahnt, dass Gott es sich anders überlegen würde – und Gott erklärt ihm mit dem Gleichnis vom Rizinusstrauch, weshalb es ihn reute. Er pflanzt einen Rizinus, der dem Propheten Schatten spendet und dann dörrt er ihn mit einem heißen Ostwind aus. Als Jona bedauert, dass der Rizinus eingegangen ist, sagt Gott zu Jona, dass auch er, Gott, mit all seinen Geschöpfen Erbarmen hat:

Dir ist leid um den Rizinus, mit dem du keine Mühe gehabt, und den du nicht großgezogen, der in einer Nacht entstanden und in der andern Nacht verschwunden ist. Und mir sollte nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in welcher mehr als zwölf Myriaden Menschen sind, die nicht wissen [zu unterscheiden] zwischen rechts und links, dazu vieles Vieh?

Im Jahr 1945, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es Juden, die für den Mord an Millionen von Juden Rache am deutschen Volk üben wollten. Wir wissen heute von den Plänen einiger Überlebender, deutsche Brunnen zu vergiften. Und siehe da, achtzig Jahre später, wollen Juden sich nicht mehr an Deutschland rächen. Im Gegenteil. Viele Juden wollen in Deutschland leben, vielleicht sogar Zuflucht dort finden vor dem Krieg in ihrem Land – und auch andere, die wie ich nicht in Deutschland wohnen, empfinden die Nähe zwischen den Völkern. Der Grund dafür, so scheint mir, ist nicht nur die seit dem Krieg verstrichene Zeit, sondern die echte Reue vieler Deutscher seither. Die Tatsache, dass Deutschland seine Taten bereute, spendete den Juden Trost – und den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen die Möglichkeit zu einem Tag der Reue und des Trostes.

Werden Israelis und Palästinenser eines Tages zusammenleben und ihre kulturelle und sprachliche Nähe feiern können? Vielleicht sogar in achtzig Jahren? Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass es nur möglich sein wird, wenn wir Israelis in hebräischer Sprache wahre Reue bekennen angesichts der Katastrophen, die der Staat Israel über die Palästinenser gebracht hat und weiterhin bringt. Erst dann, vielleicht, wird die Geschichte mit diesem Ort, an dem wir alle leben, Erbarmen haben und ihn nach all den Katastrophen trösten – so wie Gott im Buch Jona mit allen Tieren und Menschen Erbarmen hatte.


Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch.

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