
Schon eine ganze Weile belastet mich der Übergang vom Schlafen zum morgendlichen Erwachen. In diesen Momenten hadere ich mit mir, ob ich weiterschlafen sollte, auch wenn der Schlaf quälend war. Bin ich aus dem wohlig warmen Bett aufgestanden, denke ich sogleich an die, deren Zuhause kein Zuhause mehr ist, deren Schlafzimmer zerstört ist und die unter freiem Himmel leben. Und ich denke an die Familien der israelischen Geiseln, wie sie wohl geschlafen haben oder, genauer gesagt, nicht geschlafen haben, während ihre Kinder in den Tunneln von Gaza ächzen.
Dabei fallen mir aus einem Gedicht des palästinensischen Lyrikers Mahmud Darwisch folgende Zeilen ein: „Wenn Du zurückkehrst nach Hause, in Dein Haus, denk an die Anderen: Vergiss nicht das Volk der Zelte“. Daher empfinde ich augenblicklich Scham, da ich ein Zuhause habe, in das ich zurückkehren kann.
Ich gehe ins Badezimmer, und da kommt mir in den Sinn, dass es in Gaza in einer Unterkunft der UNRWA für durchschnittlich 220 Menschen eine Toilette gibt. Ich trete unter die Dusche und denke erneut an Gaza, wo es für 4.500 Menschen eine Dusche gibt. Ich möchte in der Dusche vor lauter Scham ertrinken. Wäre es nicht doch sicherer gewesen, auf der weichen Matratze und unter der warmen Decke zu bleiben?
Wir sitzen am Küchentisch bei einem einfachen Frühstück: Olivenöl, Zatar, Labane - ein selbstgemachter Frischkäse, ein Laib Brot, Kaffee mit Milch, und mir kommt eine weitere Zeile aus dem Gedicht von Darwisch in den Sinn: „Wenn Du Dein Frühstück bereitest, denk an die Anderen: Vergiss nicht, die Tauben zu füttern.“
Insgeheim sage ich zu Darwisch: „Bitte verzeih mir, aber momentan denke ich an Tauben anderer Art, an die kleinen Mädchen und Jungen, die nichts zu essen und zu trinken haben. Das Leben, so zeigt sich, ist eine Geschichte der Absurdität: Die Einwohner von Gaza leben in einem Gebiet, das in den heiligen Schriften das ,Land, in dem Milch und Honig fließen’ genannt wird, wo Gott allen Bewohnern, gleich welcher Religion, welcher Rasse oder welchen Geschlechts, alles Gute zuteilt, was das Land hergibt. Gleichzeitig jedoch plagt die Bevölkerung Gazas Hunger, um genau zu sein, wird sie ausgehungert, und dieser Hunger ist kein Werk der Natur. Sie ist nicht verursacht durch eine Dürre, ein Erdbeben oder eine zerstörerische Flut. Dieser Hunger ist das Werk des Menschen, der das Gute, das die gesamte Region den Hungernden zukommen lassen will, nicht nach Gaza hineinlässt.
Andererseits greifen innerhalb Israels Gruppierungen von jüdischen Extremisten die Lkws mit den Hilfsgütern an, holen sie von der Straße herunter, hindern sie daran, in das Land der Hungernden zu gelangen. Die Kisten mit dem Mehl, Öl und Reis werden auf die Erde geschleudert. Die israelische Polizei, die die Hilfsgüter absichern soll, beobachtet das absurde Geschehen lediglich aus der Ferne. Die Lkws kehren um.
Im Lauf des Tages schalte ich das Smartphone aus, das für mich wegen der Flut an tagtäglichen Meldungen über die Getöteten, Verletzten, in Ruinen Eingeschlossenen und hungernden Kinder zum Nightmare-Phone mutiert ist. Es gab mal eine Zeit, in der war das Telefon gnädig und musste sich mit Sprachanrufen begnügen. Heute zwingt einen das Smartphone, sich Horrorbilder anzusehen: Blut, bleiche und vom Schock gezeichnete Kinder, deren Gesichter von den Luftangriffen mit grauem Staub bedeckt sind. Soeben sind sie aus der Hölle der zerstörten Häuser entkommen. In einem Video flüstert beschämt und mit Tränen in den Augen ein Mädchen aus Gaza - schön wie eine Blume-, dass sie Hunger habe, und ich frage mich, warum sie dabei Scham empfinden sollte, denn Scham sollte die Welt ringsum empfinden.
Ich frage mich, ob auch der Soldat, der auf einen Knopf drückt und den Tod von mehr als 400 Palästinensern herbeiführt, als Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Und ein weiterer Gedanke lässt mich nicht los: Was erzählt der Fahrer des „Caterpillar D9“, der ein mehrstöckiges Haus nach dem anderen abreißt, seinen Kindern und Angehörigen, wenn er von seinem Feldzug nach Hause kommt? Ich bezweifle, dass ihn die Trümmerberge seiner Zerstörung und die Tausende an Obdachlosen, die er verschuldet hat, mit Stolz erfüllen.
In diesem Krieg gibt es keine Sieger. Jede Rakete, die Israel auf Gaza abfeuert, kommtin ähnlicher Weise zurück. Die erste Rakete führt zu Zerstörung und Tötung und die zweite zur Zerstörung der Demokratie, der Justiz, der Pressefreiheit, der Kultur und auch der Zerstörung der Menschlichkeit. Letztendlich führt diese Rakete dazu, dass die Mächte der Finsternis aufsteigen und sich in den Vordergrund spielen.
Das Gefühl zu ersticken, dominiert und manchmal frage ich mich, weshalb der Übergang in eine neue Realität unmöglich sein sollte. Warum kann man nicht so, wie man die Wohnung oder den Wagen wechselt, die Realität wechseln. Uns aber bleibt keine andere Wahl, als sie zu korrigieren.