
Klug, sensibel, unermüdlich: Annemarie Böll war Lebenspartnerin, Erstlektorin und intellektuelle Gefährtin Heinrich Bölls – und selbst eine prägende Stimme der Nachkriegszeit.
Das Leben der Annemarie Böll - Eine Würdigung Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung kostenfrei, ISBN 978-3-86928-276-3 Ab 15. Juli in unserem Bookshop erhältlich. Jetzt vorbestellen! |
Ein Auszug aus der Einleitung der Autorin:
Annemarie Bölls Leben (23. Juni 1910 – 15. November 2004) umspannt fast ein Jahrhundert, zwei Weltkriege und vier politische Systeme. Geboren in der habsburgischen Doppelmonarchie stirbt Annemarie Böll im wiedervereinigten Deutschland. Sie war, auch wenn sie meist außerhalb des Rampenlichts wirkte, eine wichtige Intellektuelle in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte. Ob als gesellschaftspolitische Aktivistin, als tatkräftige Unterstützerin einer west- und osteuropäischen Annäherung, als Kirchenkritikerin, als Mitbegründerin der Heinrich-Böll-Stiftung und der Germania Judaica (der größten wissenschaftlichen Bibliothek zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums in Europa), als äußerst produktive und fähige Übersetzerin (zum Beispiel von bedeutenden Werken wie J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ (1962) und Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (1973), die zu den größten belletristischen Erfolgen in Deutschland nach 1945 zählen) und natürlich als Erstlektorin von Heinrich Bölls literarischem Werk: Annemarie Böll verkörperte wie kaum eine andere Frau den emanzipatorischen Aufbruchsgeist der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
Geboren im böhmischen Pilsen, verband Annemarie Böll wie wenige Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland eine ost- und eine westeuropäische Perspektive. Später kam durch die Ehen ihrer Söhne René und Vincent und deren Familien noch eine ausgeprägte Nähe zu Südamerika hinzu. Dieser nahezu selbstverständliche Kosmopolitismus ermöglichte es Annemarie Böll, in Zeiten des Kalten Krieges als Anlaufstelle für aus der Sowjetunion exilierte Schriftsteller zu fungieren und später im ehemaligen Sommerhaus der Bölls in Langenbroich ein internationales Stipendienprogramm für Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt zu begleiten.
Heinrich Böll (21. Dezember 1917 – 16. Juli 1985), einer der herausragenden deutschen Autoren und Intellektuellen der Nachkriegszeit, hat sich zu den zentralen Fragen seiner Zeit stets scharfsinnig und mutig geäußert; die Stimme des Nobelpreisträgers besaß viel Gewicht. Seine öffentlich vertretenen Einlassungen und Positionen waren meist das Ergebnis von gemeinsamen Erörterungen mit seiner (sieben Jahre älteren) Frau Annemarie gewesen.
In der Öffentlichkeit, ob in Mutlangen oder anderswo, sah man die beiden meist zusammen. Das berühmte Paar stand für eine harmonische Lebens-, Liebes- und Arbeitsgemeinschaft, wie man sie nur selten findet.
Vielleicht könnten einem noch Jeanne-Claude und Christo einfallen oder John Lennon und Yoko Ono. Aber viele Paare gibt es nicht, bei denen sich einem ein ähnliches Gefühl von intellektueller Geistesverwandtschaft und tiefer emotionaler Verbundenheit vermittelt.
Lange Zeit war es in den Kultur- und Geisteswissenschaften üblich, die Frauen „an der Seite“ berühmter Männer zu ignorieren. Dabei sind große Karrieren selten das Werk eines Einzelnen. Man braucht nicht nur akribisch danach zu suchen, was die Ehefrauen berühmter Männer selber in den Nachtstunden schrieben, komponierten, erfanden und erdachten, um ihr Sein und Tun aufzuwerten. Es wird wirklich Zeit, sie endlich auch dafür anzuerkennen, was sie oft ein ganzes Erwachsenenleben lang an Expertise, Geduld, Intelligenz, Tatkraft und Talent in die Karriere ihrer Männer mit investiert haben. Diesbezüglich ging es einer emanzipierten Frau wie Annemarie Böll darum, eine gesellschaftliche Vision gemeinsam mit Leben zu erfüllen, sicht- und lesbar zu machen.
Dieser Bereich des gemeinschaftlichen Arbeitens ist viel zu wenig beleuchtet worden, möglicherweise auch deshalb, weil man in Deutschland oft annimmt, großes Talent oder gar „Genialität“ reiche a priori aus, um auf hohem Niveau Kunst zu schaffen und hiermit im Lichte der kritischen Öffentlichkeit zu bestehen. Vor allem der dritte Aspekt, der Transfer aus dem „stillen Kämmerlein“ hinaus in die Welt und der Umgang mit dieser verlangt Geschick, oft auch Mithilfe und ergibt sich keineswegs „von selbst“, nur weil jemand begabt und gut ist.
Dem gegenüber stehen viele nicht gelebte Karrieren von talentierten Künstlern, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage waren, solche Beziehungen zu führen, vor allem: die keine engagierte und kluge Partnerin an ihrer Seite hatten. Allerdings gibt es nur sehr wenige Künstler von Weltrang, die so selbstlos und ehrlich wie Heinrich Böll stets auf die Unterstützung und Leistung der eigenen Frau verwiesen haben. Und natürlich war Annemarie Böll eine ganz besondere Frau und Intellektuelle. Sie war eine kluge, ebenso pragmatische wie sensible Frau-Partnerin-Erstlektorin-Korrespondenzführerin-Mitdenkerin-Managerin-Reisebegleiterin-Hausärztin-Psychologin-Trösterin-Unterstützerin-Kindererzieherin.
Heinrich Böll war zweifellos von seiner Gedankentiefe, seiner Einfühlung und Sensibilität, hinsichtlich seiner schöpferischen Kraft, Phantasie und seinem scheinbar leicht anmutenden Erzählen-Können ein literarisches Genie. Aber zu einer Karriere von Weltrang gehört eben noch so viel mehr. Das war ihm klar. Deshalb räumte er stets ein, welche Bedeutung Annemarie für ihn privat und für die fortgesetzte Arbeit an seinem Werk besaß. Von ihm ist der Satz „Ohne Annemarie wäre ich verloren“ nicht nur überliefert[i], er ist auch glaubhaft.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität, dass künstlerisch und kreativ arbeitende Frauen gestern wie heute oft nicht die öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten, die sie verdient hätten, steht nach wie vor an. Das betrifft in besonderem Maße die Leistungen von Übersetzerinnen und Übersetzern, die bis vor wenigen Jahrzehnten kaum adäquat honoriert wurden.
Auch hierzu möchte der vorliegende Text beitragen.
Die Autorin Tanja Dückers:
Tanja Dückers, * 1968 in Berlin (West), Schriftstellerin, Publizistin, Dozentin (Germanistik) hat nach dem Studium der Neueren deutschen Literatur, der Nordamerikanistik und Kunstgeschichte über 20 Bücher veröffentlicht, darunter preisgekrönte Romane, Essays, Lyrik, Sachbücher. Sie hat Germanistik (German Studies) im Ausland gelehrt, u. a. am Dartmouth College, Oberlin College, Allegheny College, an der Miami University, an der University of Wisconsin-Madison sowie in Bristol (UK). Sie hat auch in Tschechien, dem Heimatland von Annemarie Böll, gelebt.
Tanja Dückers äußert sich regelmäßig im Deutschlandfunk und an anderen Orten zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen und war Kolumnistin der FR und der ZEIT Online. Sie ist Mitglied beim PEN Berlin und bei Amnesty International. www.tanjadueckers.de