Die Hölle auf Erden in Gaza: Jetzt ist politisches Handeln gefordert

Kommentar

Ohne schnelle und ausreichende Versorgung mit Hilfsgütern sind eine Hungersnot und massenhaftes Sterben im Gazastreifen unvermeidlich. Die jüngst eingesetzte Hilfe reicht bei Weitem nicht aus. Politischer Druck auf die israelische Regierung muss jetzt erhöht werden, um die Katastrophe zu verhindern. 

Tausende Mensch*en mit Säcken auf staubiger Straße zwischen Zelten und zerstörten Gebäuden.

Wenn der Hunger anfängt, verbraucht der Körper erst die Fettreserven, dann die Muskelmasse und dann geht der Körper in den Überlebensmodus.

Der Gazastreifen im Überlebensmodus

Den Datenerhebungen der renommierten IPC Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) zur Folge steht das schlimmste Szenario einer Hungersnot im Gazastreifen unmittelbar bevor. Extremer Mangel an Nahrungsmitteln und akute Unterernährung mit Todesfällen sind zum grausamen Alltag der Menschen in Gaza geworden: Mehr als eine halbe Million Menschen erlebe, so der IPC, Hungersnot-ähnliche Bedingungen. Ärzte berichten von einem raschen Anstieg der hungerbedingten Todesfälle bei Kindern.

Für viele der abgemagerten Kinder wird Hilfe, wenn sie sie überhaupt erreicht, zu spät kommen. Denn bei Kindern ist im Überlebensmodus bereits das Gehirn geschädigt.

Hilfsorganisationen alarmieren erneut: Ohne schnelle und ausreichende Versorgung mit Hilfsgütern sind eine Hungersnot und massenhaftes Sterben im Gazastreifen unvermeidlich. Die jüngst eingesetzte Versorgung der Bevölkerung aus der Luft und die wenigen Lastwagen, die in ungeordnete Situationen, ohne ausreichenden Schutz und flächendeckende Verteilstrukturen in den Gazastreifen hineinkommen, reichen bei Weitem nicht aus.

Systematischer Mangel: Wie Hilfe behindert wird

Die Not und das Leid der Menschen im Gazastreifen ist gemacht und hat sich in den vergangenen Monaten ins Unermessliche verwandelt: Seit dem 2. März 2025 hat die israelische Regierung – ähnlich wie zu Beginn des Krieges – über zwei Monate hinweg eine vollständige Abriegelung des Gazastreifens verhängt und keine Hilfslieferungen mehr zugelassen. Auch Wasser und Benzin wurden knapp. 

Seit Ende Mai, und nachdem das funktionierende System humanitärer Hilfe durch die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen ausgeschaltet war, gab die von Israel und den USA ins Leben gerufene sogenannte „Gaza Humanitarian Foundation“ nur noch an vier Ausgabestellen minimale Rationen an Nahrungsmitteln und Hilfsgütern aus. Die Stiftung und der neue Verteilmechanismus sind aber in keiner Weise humanitär, vielmehr sind sie darauf angelegt, nur wenige Menschen zu versorgen und das in entwürdigender Art und Weise. Über tausend Palästinenser*innen kamen zudem beim Versuch Nahrungshilfe zu erlangen durch Beschuss seitens des israelischen Militärs oder Wachleuten ums Leben. 

Eine adäquate und bedarfsorientierte Versorgung der Menschen in Gaza, wie es sie zuvor durch die Verteilmechanismen der Vereinten Nationen (UN) und anderer Hilfsorganisationen mit 400 flächendeckenden Vergabestellen zumindest in Ansätzen gegeben hatte, wurde durch das israelische Militär de facto außer Kraft gesetzt. 

Die Hilfsorganisationen der UN und andere warnen seither vor dem massenhaften Hungertod im Gazastreifen und auch vor Pandemien. Durchfall- und Gelbfieber-Erkrankungen sind im Gazastreifen aufgrund der völlig unzureichenden Wasserversorgung massiv angestiegen. Kinder siechen dahin, alte Männer kollabieren, Mütter können ihre Babys nicht mehr stillen.

Ende Juli hat Israel den Weg für zusätzliche Hilfslieferungen per LKW und sogenannte Airdrops freigemacht. 

Diese Hilfen reichen aber nicht aus. Abwürfe aus der Luft sind gefährlich und erfolgen hauptsächlich im Norden des Gazastreifens in vom israelischen Militär besetzte Zonen. Wie die Hilfsgüter von dort aus verteilt werden sollen, bleibt ein Rätsel. Die effektive Versorgung der hungernden Bevölkerung kann nur über den Landweg erfolgen. Aber die Bedingungen dafür müssen verbessert werden! Seit einigen Tagen sind auch wieder etwa 250-300 Lkws mit Hilfsgütern an den Übergängen zum Gazastreifen abgefertigt worden. Das dauert jedoch lange und wird durch die Koordination mit den israelischen Behörden verkompliziert. Zudem werden die Konvois nicht abgesichert, sodass verzweifelte Palästinenser*innen aber auch organisierte Banden die Lkws häufig geplündert haben. Die Sicherheit für Hilfsorganisationen ist nicht gewährleistet, denn es herrscht ja keine Waffenruhe und es sind keine wirklichen „humanitären Korridore“ eingerichtet, sondern zerstörte Straßen und unwegbares Gebiet gegeben. 

Es bräuchte mindestens 600-700 LKWs täglich mit den richtigen Hilfsgütern, sagen Expert*innen, und das über einen längeren Zeitraum, um die Hungersnot abzuwenden. 

Politischer Druck zur Verbesserung der humanitären Lage

Hilfsorganisationen der UN, das Welternährungs-Programm (WFP) etwa, sagen deutlich, dass genügend Hilfsgüter in der Region bereitstehen, die ausreichen würden, um die unmittelbar bevorstehende Hungerkatastrophe abzuwenden. Die Organisationen haben nochmals ihre Bereitschaft erklärt, diese Hilfe zu den Menschen zu bringen. Doch damit das auch wirklich funktioniert, braucht es einen dauerhafteren Waffenstillstand, der die Freilassung der Geiseln genauso beinhaltet wie uneingeschränkten Zugang für humanitäre Hilfe. Und es braucht eine Rückkehr zu dem im Mai vom israelischen Militär abgeschafften flächendeckenden und humanitären Standards entsprechenden Verteilsystem durch UN Organisationen und anderer Hilfsorganisationen.

Dafür wie auch für eine Rückkehr zu einem politischen Prozess sollte sich die internationale Staatengemeinschaft einsetzen. 30 „westliche“ Staaten haben dies in einer gemeinsamen Erklärung bereits getan. Arabische Staaten haben der Hamas auf der Grundlage des Wiederaufbauplans der Arabischen Liga eine klare Absage erteilt und Sicherheitserklärungen für Israel erteilt. All das sind gute Ansätze, auf die es politisch aufzubauen gilt. Doch bisher ist der Druck auf die israelische Regierung immer noch zu gering und zu inkonsequent. 

Zu lange war der Blick darauf verstellt, dass die gegenwärtige israelische Regierung auch unter dem Druck ihrer radikalen Minister genau das tut oder zu tun gedenkt, was lautstark angekündigt ist: Unverhältnismäßiges Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung etwa oder die Errichtung eines Lagers, der sogenannten „humanitären Stadt“ auf den Ruinen Rafahs, Und auch der klarere Blick auf Annexionspläne tut dringend Not.

Die deutsche Außenpolitik sollte aufhören zu glauben, dass wir als Freunde Israels bei Netanjahus Regierung Gehör mit unseren Einwänden finden. Natürlich braucht es Gespräche, aber im europäischen Verbund sollte die Bundesregierung darüber hinaus konkrete Hebel ausloten und sich zumindest nicht da widersetzen, wo politischer Druck zur Verbesserung der humanitären Lage in Gaza erhöht werden kann. Eine friedliche Zukunft für Israel und Palästina kann nur durch ein Ende des Krieges und Verhandlungen erreicht werden, nicht durch Gewalt und Vertreibung!

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