Die Trümmer Gazas, die Trümmer des Völkerrechts

Vorstandskolumne

Die Zerstörung Gazas ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern auch ein Bruch des Völkerrechts. Mit der drohenden Vertreibung von Palästinenser*innen wird die Gewalt weiter eskalieren. Deutschland und die EU müssen endlich alle Hebel nutzen, um für den Schutz der Menschenrechte einzutreten.

Foto von Imme Scholz, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Lage in Gaza hat sich massiv verschärft, seitdem Israel am 18. März den Waffenstillstand aufgekündigt und den Zugang für humanitäre Hilfe durch die UN und andere unabhängige Organisationen unterbrochen hat. Gaza liegt in Trümmern; die israelische Armee setzt Bulldozer ein, um die letzten noch stehenden Gebäude zu zerstören. Völkerrechtler sind sich einig, dass es sich hier mindestens um Kriegsverbrechen handelt; Menschenrechtsorganisationen und Holocaustforscher sprechen von Genozid. Deutschland muss sich mit der Europäischen Union dafür einsetzen, diese Situation zu beenden.

Kein Essen, kein Wasser, dafür Schüsse auf Verteilstellen

Die Menschen im Gazastreifen verhungern, sie haben keinen Zugang zu Wasser und anderen lebensnotwendigen Gütern. Medizinische Versorgung ist kaum möglich, die meisten Krankenhäuser sind teilweise oder vollkommen zerstört. Zivilist*innen, vor allem Frauen und Kinder, sterben weiterhin durch die Angriffe der israelischen Armee. Die Versorgung des Gaza-Streifens mit Treibstoff ist eingestellt, die letzten Reserven sind bald verbraucht, was lebensbedrohliche Konsequenzen hat. Wer sich den wenigen Verteilstellen der sogenannten „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF) nähert, um humanitäre Güter abzuholen, wird oft beschossen. Der Name ist eine Farce, das System eine Verhöhnung der Grundsätze humanitärer Hilfe.

Letzte Woche hat der israelische Verteidigungsminister Israel Katz zudem angekündigt, auf den Ruinen der zerstörten Stadt Rafah eine sogenannte „humanitäre Stadt“ aufzubauen, um dort 600.000 Palästinenser*innen zusammenzupferchen. Zugang sollen jene bekommen, deren Sicherheitsüberprüfung positiv verläuft, um entweder dort zu verbleiben oder in andere Länder zu gehen. Hinaus sollen sie nicht mehr kommen. Beobachter*innen gehen davon aus, dass sich mittlerweile sehr viele der extrem geschwächten und zutiefst verzweifelten Palästinenser*innen darauf einlassen werden, um ihrer Not zu entkommen.

Verteidigungsminister will 600.000 Palästinenser*innen internieren

Gegen diesen Plan der Konzentration und Vertreibung haben sich international wie in Israel laute Stimmen erhoben. In Israel ist darunter der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert. Fünfzehn angesehene Juristen wie Eyal Benvenisti, der Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen den Genozidvorwurf verteidigt, bezeichnen das Vorgehen als „offensichtlich illegal“ und fordern die Regierung auf, den Plan öffentlich zurückzuziehen und nicht umzusetzen. Doch der Protest verhallt, das übermächtige Schweigen und Wegsehen, die schleichende Akzeptanz der Sprache und der Politik der Gewalt scheinen übermächtig zu sein.

Deutschland ist dem Existenzrecht des Staates Israel verpflichtet, eine Verpflichtung, die nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 klar zum Ausdruck kam. Doch auch die Einhaltung des Völkerrechts gehört zu Deutschlands fundamentalen Verpflichtungen. Die darin verbriefte Verhältnismäßigkeit von kriegerischen Handlungen wird durch Israel grundlegend missachtet. Die Bundesregierung sollte das erkennen und entsprechend handeln.

EU und Deutschland dürfen nicht weiter wegsehen

Der entschiedene Schutz der Menschen in Gaza ist unverzichtbar, um Menschlichkeit und Recht zur Geltung zu bringen – so, wie es im Völkerrecht und in der UN-Charta festgehalten ist. Nur so kann Palästinenser*innen und Israelis eine friedliche Zukunft ermöglicht werden, denn sie bedingt sich gegenseitig.

Deutschland und die EU müssen sich geschlossen gegen diesen Plan zur Vertreibung der Palästinenser*innen stellen und alle Hebel nutzen, um einen Waffenstillstand, sicheren Zugang zu mehr und echter humanitärer Hilfe durch Wiederherstellung der alten UN-geführten Verteilmechanismen und eine politische Perspektive für Palästina zu ermöglichen. Dazu gehört die tatkräftige Unterstützung der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaften, die eine solche Perspektive gegen alle Widerstände propagieren. Wenn wir jedoch weiterhin wegsehen und Tötungen und Vertreibung zulassen, dann verraten wir das Völkerrecht und die universellen Menschenrechte.


Imme und Jan Philipp

Einmischen - die Vorstandskolumne

Einmischen! Als einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben. So hat es Heinrich Böll formuliert und diese Ermutigung inspiriert uns bis heute. Mit dieser Kolumne mischen wir uns als Vorstand der Stiftung in den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskurs ein. Jeden Monat schreiben hier im Wechsel: Jan Philipp Albrecht und Imme Scholz.

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