Die Freilassung Alaa Abdel Fattahs: Nach der Freilassung ist vor den Verhaftungen

Analyse

Der ägyptisch-britische Demokratieaktivist, Blogger und Software-Entwickler Alaa Abdel Fattah ist am 22. September 2025 nach Jahren willkürlicher Haft überraschend von Ägyptens Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi begnadigt und kurz darauf aus der Haft entlassen worden. Sein Fall ist längst zu einem internationalen Symbol für den Einsatz für Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit und die Freilassung politischer Gefangener geworden. So groß die Erleichterung über Alaas Freilassung ist, darf sie keineswegs als Akt der Nächstenliebe des Sisi-Regimes verklärt werden. Weder bedeutet sie Gerechtigkeit, noch markiert sie einen politischen Kurswechsel. 

Alaa Abdel Fattah sitzt mit seiner Mutter, Laila Soueif und umarmt sie.
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Aktivist Alaa Abdel Fattah sitzt mit seiner Mutter, Laila Soueif, in seinem Haus, nachdem er am 23. September 2025 in Kairo, Ägypten, aufgrund einer Begnadigung durch den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah El-Sisi aus dem Gefängnis entlassen wurde. 23. September 2025 I Kairo, ÄgyptenKairo, Ägypten, am 23. September 2025.

Vielmehr dürfte sie das Ergebnis innen- und außenpolitischer Abwägungen eines autoritären Regimes sein, das weiterhin systematisch gegen Andersdenkende vorgeht. Die Bundesregierung und die Europäische Union (EU) sollten Alaas Freilassung daher als das einordnen, was sie ist: ein politisches Manöver – und sie als Ausgangspunkt für eine konsequente menschenrechtliche Neuausrichtung ihrer Beziehungen zu Ägypten nutzen.

Ein Blick in die Gesichter der Familienmitglieder, Freund*innen und Unterstützer*innen Alaas genügt, um zu erkennen, wie tief die Erleichterung über seine Freilassung ist – aber auch, wie groß die kollektive Erschöpfung nach Jahren der Ungewissheit und Repression ist. Alaas Fall steht exemplarisch für das Schicksal Zehntausender politischer Gefangener in Ägypten, die weiterhin unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert sind – häufig ohne rechtsstaatliche Verfahren, allein aufgrund ihrer politischen Überzeugungen oder ihres zivilgesellschaftlichen Engagements. Laut Schätzungen befinden sich in Ägypten über 60.000 politische Gefangene in Haft, viele von ihnen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.

Auch zeigt der Fall exemplarisch, wie autoritäre Regime weltweit restriktive Gesetze, willkürliche Strafverfolgung und Überwachung einsetzen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Einschränkung von Bürgerrechten wie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, systematische Überwachung, willkürliche Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen prägen den Alltag von Reformkräften innerhalb der ägyptischen Zivilgesellschaft. In politisch motivierten Prozessen agiert die Justiz häufig im Einklang mit den Interessen der Regierung. 

Ägypten zählt weiterhin zu den Ländern mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalist*innen weltweit. In der Rangliste der Pressefreiheit 2025 von Reporter ohne Grenzen belegte das Land Platz 170 von 180. Auch Social-Media-Influencer*innen geraten regelmäßig ins Visier der Behörden, wie zuletzt im August 2025, und auch LGBTIQ*-Personen werden systematisch verfolgt. Nicht einmal im Ausland sind ägyptische Andersdenkende sicher: Das Regime setzt Spyware gegen Exil-Ägypter*innen ein, während ihnen konsularische Dienste im Ausland verweigert werden. Zudem treffen die Repressalien nicht selten stellvertretend die Familienangehörigen im Ausland lebender Regime-Kritiker*innen.

Ein Hoffnungsträger im Kontext der Unterdrückung

In diesem repressiven Kontext gilt Alaa als einer der prominentesten Kritiker des autoritären ägyptischen Regimes. Seit der Revolution von 2011 erhob er kompromisslos seine Stimme gegen Langzeitmachthaber Husni Mubarak und alle postrevolutionären Regierungen Ägyptens, wofür er den Großteil des vergangenen Jahrzehnts im Gefängnis verbringen musste. Sowohl unter Mubarak als auch unter Mohammed Mursi und Sisi wurde er zum Ziel staatlicher Repression: Verfahren mit unzureichendem Rechtsschutz, Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen und willkürliche Verlängerung seiner Haft über die ursprüngliche Dauer hinaus. 

Nachdem Alaa bereits eine fünfjährige Haftstrafe wegen eines Protests gegen Militärgerichte Ende November 2013 verbüßt hatte, nahmen ihn die ägyptischen Behörden Ende September 2019 erneut fest. Nach zweijähriger Untersuchungshaft wurde er im Dezember 2021 ein weiteres Mal zu fünf Jahren Haft verurteilt – dieses Mal wegen des Vorwurfs, Falschnachrichten verbreitet zu haben, nachdem er einen Social-Media-Post über einen Häftling geteilt hatte, der infolge von Folter im Gefängnis gestorben sei. 

Alaas Widerstand gegen die autoritären Regierungen Ägyptens hat ihm weltweite Unterstützung aus Menschenrechtskreisen, der Zivilgesellschaft und der Politik eingebracht. Auch die Heinrich-Böll-Stiftung begleitete Alaas Fall mit solidarischem Engagement im Austausch mit seiner Familie. Zu seiner internationalen Bekanntheit hat schließlich auch das 2021 veröffentlichte Buch „You Have Not Yet Been Defeated“ („Ihr seid noch nicht besiegt“) beigetragen – eine eindrucksvolle Sammlung seiner Schriftstücke, in denen Alaa die ägyptische Revolution sowie den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit reflektiert. Zur englischsprachigen Veröffentlichung 2021 und zum Erscheinen der deutschen Fassung 2022 organisierte die Stiftung Lesungen aus dem Buch. 

Über seine Mutter Laila Soueif erhielt Alaa Ende 2022 die britische Staatsbürgerschaft, um ihm konsularischen Zugang zu ermöglichen und den internationalen Druck auf das Regime zu erhöhen. Die in London geborene renommierte Wissenschaftlerin und Aktivistin hatte sich unermüdlich für die Freilassung ihres Sohnes eingesetzt – zuletzt mit einem rund zehnmonatigen Hungerstreik. Ende September 2024 hätte Alaa freigelassen werden sollen. Doch die Behörden rechneten ihm seine Untersuchungshaft nicht an. 

Auch die britische Regierung setzte sich auf höchster Ebene für Alaas Freilassung ein: Der britische Premierminister Keir Starmer rief Präsident Sisi wohl drei Mal an, um auf Alaas Entlassung aus der Haft zu drängen. Am 21. Juli 2025 wurde Alaa schließlich von der Terrorliste genommen, am 22. September begnadigt und kurz darauf gemeinsam mit fünf weiteren Gefangenen freigelassen. Dass Alaas Freilassung jedoch keinen politischen Kurswechsel bedeutet, zeigte sich schon kurz darauf mit der Verhaftung des Journalisten Ismail Alexandrani am 24. September 2025.

Inszenierte Nachgiebigkeit

Internationaler und zivilgesellschaftlicher Druck – vom unermüdlichen Einsatz Alaas Familie über Menschenrechtsorganisationen bis hin zu diplomatischen Interventionen auf höchster Ebene – konnte über viele Jahre hinweg keine Freilassung Alaas bewirken. Was Sisi letztlich zur Begnadigung bewogen hat, ist noch unklar. Doch der Druck dürfte den Fall Alaa für das Sisi-Regime zu einer wertvollen Verhandlungsmasse gemacht haben, sowohl gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch gegenüber anderen Regierungen. Es liegt nahe, dass das Zusammenwirken verschiedener innen- und außenpolitischer Faktoren die Freilassung gerade jetzt besonders opportun erscheinen ließ. 

Die Spannungen zwischen Ägypten und Israel sind aktuell hoch, vor allem weil Ägypten eine mögliche Vertreibung von Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen auf den Sinai fürchtet. Seit dem israelischen Angriff auf Katars Hauptstadt Doha am 9. September 2025, der einer Verhandlungsdelegation der Hamas galt, wächst in Ägypten außerdem die Sorge vor einem weiteren israelischen Angriff auf Hamas-Mitglieder in Kairo oder andernorts im Land. Auch ist anzunehmen, dass das Sisi-Regime Lehren aus dem Zwölf-Tage-Krieg im Juni 2025 gezogen hat, in dessen Verlauf Israel versuchte, einen Regime-Sturz in Teheran herbeizuführen – dabei jedoch den Zusammenhalt in der iranischen Bevölkerung unterschätzte.

Angesichts dieser Drohszenarien dürfte das Sisi-Regime aktuell ein größeres Interesse daran haben, innergesellschaftliche Spannungen abzubauen und den Druck zu entschärfen, bevor er sich explosiv entlädt. Auch ermöglicht die Geste es europäischen Staaten, ihre Kooperation mit dem ägyptischen Regime in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Auch die Entscheidung des Präsidenten, den umstrittenen Entwurf der Strafprozessordnung kurz vor der Freilassung Alaas vorerst nicht zu unterzeichnen, weist in diese Richtung. Beides dürfte darauf abzielen, die Bevölkerung zu beschwichtigen und es ausländischen Regierungen zu ermöglichen, ihre Zusammenarbeit mit dem Regime aufrechtzuerhalten und gegenüber eigenen Kritiker*innen zu rechtfertigen, sollte das Sisi-Regime ernsthaft unter Druck geraten.

Gerade Deutschland und die EU dürften die Schritte somit nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht begrüßt haben, sondern auch, weil die Stabilisierung des bevölkerungsreichen Landes in der unmittelbaren Nachbarschaft mit Blick auf Sicherheits- und Migrationsfragen einen hohen Stellenwert genießt. Dies gilt umso mehr angesichts der andauernden Kriege im Gazastreifen und im Sudan, die zu katastrophalen humanitären Krisen an Ägyptens Grenzen geführt haben – und auch im Nachbarland Libyen bleibt die Lage höchst volatil. Somit ist nicht auszuschließen, dass Alaas Freilassung Teil einer Annäherung oder Abmachung zwischen Großbritannien und Ägypten hinsichtlich der Zukunft der im Gazastreifen lebenden Palästinenser*innen war – möglicherweise auch in Form eines Dreiecksdeals oder Verhandlungspakets unter Beteiligung weiterer Staaten.

Nach der Freilassung ist vor den Freilassungen – und den Reformen

Die Bundesregierung und die EU sollten das außen- und innenpolitische Momentum nutzen, um Ägypten zu weiteren Zugeständnissen zu bewegen. Willkürliche Inhaftierungen sind ein Instrument autoritärer Herrschaft und keine nachhaltige Strategie zur Stabilisierung. Sie mögen dem Regime kurz- bis mittelfristig Stabilität verschaffen, stellen aber mittel- bis langfristig eine erhebliche Gefahr für den sozialen Frieden im Land dar – nicht zuletzt aufgrund von Radikalisierung. Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien im Dezember 2024 hat erneut gezeigt, wie autoritäre Regime, die über Jahre auf massenhafte willkürliche Inhaftierungen und systematisches Verschwindenlassen gesetzt haben, entgegen aller Erwartungen zusammenbrechen können. Derartige Übergange verlaufen selten geordnet. 

Auch in Ägypten wäre eine destabilisierende Transformation mit gewaltsamen Auseinandersetzungen – oder gar ein Bürgerkrieg wie nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen – keineswegs auszuschließen. Ein politischer Zusammenbruch Ägyptens – mit über 110 Millionen Einwohner*innen das bevölkerungsreichste Land der Region – hätte aufgrund seiner strategischen Lage und Rolle als regionaler Sicherheitsakteur tiefgreifende Auswirkungen auf Europa. Schon heute wirkt die Repression des Sisi-Regimes als treibender Faktor für Migration. Gerade willkürliche Inhaftierungen beschleunigen die Abwanderung der kritischen Zivilgesellschaft, was dazu beigetragen haben dürfte, dass Ägypten nicht mehr nur als Transitland, sondern zunehmend auch als Herkunftsland relevant ist.

Die Bundesregierung und die EU sollten daher die unverzügliche und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen fordern, die allein aufgrund ihrer Überzeugungen oder ihres friedlichen politischen Engagements inhaftiert sind. Eine unabhängige Überprüfung dieser Fälle durch eine neutrale Kommission könnte hierfür einen ersten Schritt darstellen. Darüber hinaus sollten sie die Unterstützung für Opfer von Repression durch Rehabilitation und Kompensation fordern. So wie Alaa hätten viele andere politische Gefangene nie in Haft sein dürfen. Doch nicht nur willkürliche Haft, sondern auch willkürliche Begnadigungen sind Ausdruck eines autoritären Systems und verdeutlichen, dass Ägypten über keine unabhängige Justiz verfügt. Solange strukturelle Reformen ausbleiben – etwa zur Sicherstellung rechtsstaatlicher Verfahren und verlässlicher gesetzlicher Rahmenbedingungen zum Schutz von Bürgerrechten – bleiben Freilassungen ein machtpolitisches Instrument ohne rechtsstaatliche Grundlage. 

Deutschland und die EU sollten sich deshalb entschieden für grundlegende Reformen des ägyptischen Justiz- und Sicherheitssystems einsetzen. Künftige Unterstützung – etwa in Form von Budgethilfen, Investitionszusagen und privatwirtschaftlichen Förderprogrammen – muss an konkrete Schritte wie faire und transparente Gerichtsverfahren, den Rückbau repressiver Gesetze sowie institutionelle Reformen geknüpft werden, die den willkürlichen Inhaftierungen Andersdenkender ein Ende setzen. Nur eine resiliente ägyptische Gesellschaft wird letztlich in der Lage sein, interne wie externe Schocks nachhaltig zu bewältigen.

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