Mit gemeinwohlorientierten Plattformen und freiem Wissen gegen Desinformation

Analyse

Desinformation verbreitet sich heute schneller denn je. Reine Regulierungsmaßnahmen greifen zu kurz – gefragt sind gemeinwohlorientierte Räume, die Teilhabe und demokratische Kontrolle ermöglichen.

Illustration von sechs sprechenden Personen um einen Laptop mit Weltkugel; Sprechblasen zeigen digitale Kommunikation.

Desinformation ist kein neues Phänomen. Aber die Digitalisierung der Kommunikation hat die Rahmenbedingungen für ihre Verbreitung verändert. Ihre Produktion ist leichter geworden und sie kann über wenige riesige Plattformen leicht verteilt werden. Mit Regeln versuchen Regierungen und EU-Kommission die Verbreitung von Desinformationen und digitaler Propaganda einzudämmen. Aber Regulierung allein wird nicht ausreichen. Im digitalen Diskursraum braucht es öffentliche Infrastrukturen und Plattformen, die wie ein öffentlicher Platz dem Gemeinwohl und nicht in erster Linie kommerziellen oder politischen Einzelinteressen dienen. Wir brauchen digitale Räume, in denen die Menschen, die sie nutzen, selbst aushandeln, wie sie gestaltet und kontrolliert werden. Ein Ort, an dem das seit zwanzig Jahren weltweit gut funktioniert, ist die Wikipedia.

Freies Wissen als Instrument gegen Desinformation

Das gemeinsame Zusammenleben von Menschengruppen in demokratischen Gesellschaften beruht auf einem ständig andauernden, pluralistischen Prozess der Konsensbildung darüber, wie wir die Welt wahrnehmen und deuten und was wir als Wissen akzeptieren. Darauf basiert unser individuelles oder kollektives Handeln. Das Wissen über die Welt sollte dabei möglichst den bestehenden Lebensrealitäten entsprechen, es sollte nachvollziehbar und faktenbasiert sein. Akteur*innen, die Desinformation verbreiten, kündigen diesen Konsens auf. Sie verzerren oder verdrehen Fakten, arbeiten mit Auslassungen oder sogar kontrafaktischen Aussagen. Ihr Ziel: Unsere Sicht auf die Welt zu verändern und damit die Grundlagen des individuellen und kollektiven Handelns in ihrem Interesse zu verschieben. 

Das Wissen über die Welt sollte nachvollziehbar und faktenbasiert sein und den bestehenden Lebensrealitäten entsprechen. Akteur*innen, die Desinformation verbreiten, kündigen diesen Konsens auf.

Im Umgang mit Desinformation werden aktuell vor allem Maßnahmen getroffen, die versuchen, den faktenbasierten Grundkonsens wiederherzustellen. Die Herausforderung besteht darin, verhältnismäßige Maßnahmen zu finden, um desinformative Inhalte zu unterbinden, aber die Aushandlungsprozesse über die Weltsichten, hergestellt über die Meinungs- und Informationsfreiheit, nicht zu gefährden.

Zu den Maßnahmen gehört, dass die Plattformen selbst Inhalte überprüfen. Die meisten großen Internet-Plattformen versuchen mit technischen Mitteln und einer hohen Anzahl prekär beschäftigter Content-Moderator*innen, aber auch durch die Unterstützung von sogenannten Fact Checker*innen, beleidigende, falsche und andere schädliche oder illegale Inhalte zu identifizieren und von ihren Plattformen zu entfernen.

Bildungsinstitutionen, Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen bemühen sich zweitens, Empfänger*innen von Information im Erkennen von und Umgang mit desinformativen Inhalten zu schulen. 

Ein dritter Ansatz gegen Desinformation ist der freie Zugang zu vielfältigen und zuverlässigen Informationen. Erst ein faktenbasiertes Informationsökosystem ermöglicht realitätsnahe Entscheidungen über die Welt. Die Bedeutung von Akteur*innen, die verlässliches Wissen bereitstellen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gemeinwohlorientierte Online-Plattformen wie Wikipedia und andere Projekte wie Wikibooks können wie eine öffentliche Bibliothek im digitalen Raum dieses Wissen bereit stellen. Im Unterschied zu den meisten kommerziellen Plattformen verwenden die Wikimedia Projekte ähnlich wie andere gemeinwohlorientierte Plattformen wie Projekt Gutenberg, Global Voices, Mastodon, Fixmystreet oder OpenStreetMap keine Nutzendendaten, um mit Hilfe von Algorithmen die ausgespielten Inhalte so zu optimieren, dass Nutzende länger auf der Plattform bleiben. Wikipedia und Co. machen einfach Wissen verfügbar, das mit seriösen Quellen belegt sein soll. Das Bevorzugen von Informationen, weil sie etwa emotionalisiert oder polarisierend wirken können, erfolgt nicht. 

Das Wikipedia-Prinzip gegen Desinformation

Das Wikipedia-Prinzip kann ein Beispiel gegen Desinformationen sein, seine verschiedenen Aspekte können daher hilfreich sein, auch auf anderen Plattformen gegen Desinformationen vorzugehen. 

Wikipedia-Artikel werden nicht alle frei von Fehlern sein. Aber die Regeln, die die Community gemeinsam ausgehandelt hat und deren Einhaltung sie gemeinsam überwacht, schützen die Online-Enzyklopädie gut gegen Desinformation. Ein Artikel wird fast nie von einer Person verfasst, sondern ist ein Gemeinschaftswerk. Viele Ehrenamtliche befassen sich damit, Änderungen oder Ergänzungen zu prüfen, Quellen zu checken oder Vandalismus zu identifizieren und zu beheben. Strittige Punkte werden ausführlich und nach festen Regeln diskutiert. Hinzu kommt die besondere Plattformkonstruktion: Jede noch so kleine Bearbeitung bleibt für immer im System gespeichert und ist über die Versionsgeschichte der Artikel jederzeit für alle einsehbar. 

Aufgrund der umfassenden Offenheit und Transparenz bei Wikipedia werden die Informationen, anders als bei vielen anderen Plattformen, mit der Zeit vielfach immer korrekter. Ihre Prinzipien sind zugleich eine Ausbildung in journalistischen Grundsätzen, wie sie in Schulungen zur Medienkompetenz angestrebt werden. Die Mitarbeit an Wikimedia-Projekten trägt so zu einer Sensibilisierung im Umgang mit Desinformation und zu kritischer Quellenkompetenz bei.

Soziale Aspekte von Desinformation: Das Prinzip Gemeinschaft

Kommunikation erfüllt neben der Informationsübertragung auch das Bedürfnis nach Verbindung, Zugehörigkeit und Bestätigung. Die Kommunikationswissenschaftlerin Alice Marwick schreibt: "Within social environments, people are not necessarily looking to inform others: they share stories (and pictures, and videos) to express themselves and broadcast their identity, affiliations, values, and norms.

Beim sozialen Aspekt von Desinformation geht es also nicht um Kategorien von wahr oder falsch, sondern um Abgrenzung und Zugehörigkeit.

Die Verbreitung von Desinformation kann also auch mit der Bestätigung von Zugehörigkeit zu tun haben, die Menschen in bestimmten Räumen des öffentlichen Austausches hält. Das hat zur Folge: Selbst wenn eine Person erkennt, dass die Inhalte, die sie geglaubt und verbreitet hat, nicht korrekt sind, kann es sein, dass sie auf ihrem Standpunkt beharrt. Denn das Aufgeben des Standpunktes oder eines gemeinsamen Narrativs würde die Abkehr von einer Gruppenzugehörigkeit bedeuten. Dann spricht man von „kognitiver Dissonanz”, also dem Auseinanderklaffen von Überzeugungen und Wissen. Prof. Jeanette Hofmann vom Weizenbaum-Institut geht noch einen Schritt weiter: “Desinformation aus meiner Sicht ist eine radikalisierte Form des Widerstands gegen die Diskurse der politischen Eliten, denen kein Glauben mehr geschenkt und das Vertrauen entzogen wird. Es ist ein Angriff auf die Wissensdimension von Demokratie im weitesten Sinne.” Beim sozialen Aspekt von Desinformation geht es also nicht um Kategorien von wahr oder falsch, sondern um Abgrenzung und Zugehörigkeit. Damit ist Desinformation schwer mit „richtigen" Informationen zu korrigieren. 

Wie also vorgehen? Ein Ansatz kann sein, diejenigen Gemeinschaften zu stärken, die keine Desinformation betreiben und dennoch breite Anerkennung als glaubwürdige, „zugehörige” Diskursräume haben. Der “offen für alle” Community-Ansatz einiger gemeinwohlorientierter Plattformen ist dabei ein unschlagbarer Vorteil.

Wikimedia-Projekte basieren auf Gemeinschaft und Vertrauen

Die Mitarbeit an der Wikipedia bietet eine Möglichkeit, einer Gemeinschaft beizutreten. Diese Gemeinschaft verbindet der konkrete Beitrag zu einer der wichtigsten Informationsquellen weltweit, das gemeinsame Ziel, freies Wissen zu fördern und Wissensgerechtigkeit zu schaffen.

Anerkennung erhalten diejenigen, die den demokratischen und faktenbasierten Regeln der Wikiprojekte folgen und ihre Arbeit einbringen. Die Identifikation findet statt über die Art der Zuarbeit, das Besondere des Spezialgebietes. Das kann ein Thema sein über das man Wissen teilt, aber auch das Prüfen von Quellen oder Rechtschreibung, das Hinzufügen von Fotos oder die Unterstützung von Neulingen. Diese Anerkennung kann zu privilegierten Rollen führen - etwa erweiterte editorische Rechte zur Überprüfung von Artikeln. Die Selbstregulierung der Freiwilligen - die Community Governance - ist ein Erfolgsfaktor der Plattform. Regelmäßige Treffen sind essentielle Mittel der Gemeinschaftsbildung. Sie tragen dazu bei, dass sich die aktiven Freiwilligen kennenlernen können, motiviert und inspiriert werden und Vertrauen zueinander aufbauen. 

Wissen ist auch in der Wikipedia Ergebnis eines dauernden Aushandlungsprozesses und die Diskussionsseite zeigt transparent, wie um die inhaltliche Darstellung gerungen wird.

Wissen ist auch in der Wikipedia Ergebnis eines dauernden Aushandlungsprozesses und die Diskussionsseite zeigt transparent, wie um die inhaltliche Darstellung gerungen wird. Diese Einbindung von Kontroversen sorgt für weltweites Vertrauen in Wikipedia als eine verlässliche Quelle und erhöht den Aufwand, in der Wikipedia Desinformationen zu verbreiten. Sie festigt aber auch die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft. 

Gemeinwohlorientierte Werte, Plattformdesign, Selbstregulierung und  “soziales Drumherum” können in den Wikimedia Projekten nicht auseinandergezogen werden. Zwar hat sich die Wikipedia in den über zwanzig Jahren ihrer Existenz stetig weiterentwickelt. Im Kern beruht sie aber weiterhin auf sozialen Kommunikationsgemeinschaften, die sich wahrheitsgemäßer Information verpflichtet haben. 

Was unsere demokratischen Gesellschaften brauchen

Desinformation untergräbt den Wissensaspekt von Demokratie und mobilisiert Widerstandsgruppen. Es ist nicht verwunderlich, dass vor allem politische Entscheidungsträger*innen mit autoritärer Agenda sich des Mittels der Desinformation bedienen. Aber auch in Demokratien wird Desinformation gezielt eingesetzt, nicht nur von Populist*innen. 

Das bedeutet für Plattformen faktenbasierten Wissens wie Wikipedia, dass sie aufgrund ihrer Legitimität, ihres Wissens, ihrer Glaubwürdigkeit und aufgrund der Personen, die zu diesem Wissen beitragen, als Gegner*innen betrachtet werden. Öffentlich-rechtliche Medien, Wissenschaftsinstitutionen, professionelle Journalist*innen und auch Editor*innen der Wikipedia finden sich in den letzten zehn Jahren häufiger in einer Verteidigungsrolle wieder - metaphorisch oder ganz konkret. Online-Beleidigungen, aber auch strategische Klagen, die darauf abzielen, öffentliche Beteiligung zu untergraben (sogenannte SLAPPs) sollen diejenigen behindern, die sich faktenbasierten Informationen verpflichtet sehen. Werden ehrenamtliche Wikipedianer*innen mit solchen Klagen konfrontiert, versuchen die Kläger*innen oft, die Identität der Freiwilligen herauszufinden und drohen ihnen mit finanziellen Vergeltungsmaßnahmen. Das ist für die Freiwilligen besonders belastend und birgt das Risiko, dass das Wikipedia-Angebot gestört wird. Der Schutz personenbezogener Daten und das Recht auf Privatsphäre sind eine unabdingbare Voraussetzung für den Zugang zu faktenbasierten Informationen. Dieser Schutz sowie Mechanismen gegen strategische Gerichtsverfahren (SLAPP) brauchen viel mehr Beachtung und Ressourcen als bisher. 

Am Ende haben wir selbst und vor allem die politischen Entscheidungsträger*innen es in der Hand, ob die Menge an Desinformation, Verschwörungserzählungen und halluzinierten KI-Inhalten im Informationsraum ansteigt.

Das Ökosystem faktenbasierter Online-Informationen muss stabilisiert werden. Gemeinwohlorientierte, freie und offene digitale Wissensplattformen unterstützen die Widerstandsfähigkeit dieses Ökosystems und können - wenn sie interaktiv aufgebaut sind - allgemeine Media Literacy Fähigkeiten erhöhen. Entscheidend ist zudem der soziale Aspekt von Kommunikation, der beim Plattformdesign berücksichtigt werden sollte. Im Fall von Wikipedia gehören die transparente Selbstverwaltung der Plattform, die Moderation der Inhalte durch eine Gemeinschaft von Freiwilligen, der Respekt ihrer Privatsphäre und die Stärkung dieser Gemeinschaft durch soziale Interaktionsmöglichkeiten zusammen. Eine Möglichkeit, solche Online-Räume zu schützen, ist der so genannte „Wikipedia-Test“ mit sieben Fragen, die sich ein Gesetzgeber stellen kann, bevor er Vorschriften erlässt. 

Am Ende haben wir selbst und vor allem die politischen Entscheidungsträger*innen es in der Hand, ob die Menge an Desinformation, Verschwörungserzählungen und halluzinierten KI-Inhalten im Informationsraum ansteigt. Ein als positiv erlebtes Engagement auf gemeinwohlorientierten, dezentral gesteuerten Informationsplattformen kann dazu beitragen, Widerstand zu moderieren und das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie zurückzugewinnen. Aber erst ein Zusammenspiel an Maßnahmen, die weit über eine Plattformbetrachtung hinausgehen, kann erfolgreich sein.

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