Verarbeitung einer Krise
Noch weiß niemand wirklich, was am 8. August in Georgien genau passierte, doch schon werden weit reichende Schlüsse gezogen. Nichts sei mehr wie am Tag davor. Das war auch nach dem 11. September 2001 vielfach zu hören gewesen. Die Welt habe sich schlagartig und grundlegend verändert. Und es ist wahr: Noch nie zuvor waren auf dem Boden der USA so viele Menschen bei einem äußeren Angriff umgebracht worden. Es waren Zivilisten. Und es war das Ziel des Angriffes, möglichst viele Zivilisten umzubringen.
Ganz ungewohnt war die Erfahrung der Verletzlichkeit der Städte im eigenen Land durch einen schwer greifbaren Feind. Dieses Gefühl der Verletzlichkeit mag der Grund gewesen, dass Condolezza Rice und andere zur Analogie des Kalten Krieges griffen. In ihm hatte bereits die vorher unbekannte, ebenso wenig fassbare Gefahr des Atomkrieges und der atomaren Vernichtung gelauert.
Indem Rice auf diese Analogie zurückgriff, wollte sie vor allem andeuten, dass nun eine relativ friedliche Ausnahmezeit vorbei sei. Folgerichtig wurde erklärt, dass sich Amerika nun wieder im Krieg befinde, im „Krieg gegen den Terrorismus“. Terrorismus wurde zur Chiffre für die permanente Gefahr einer akuten Verknüpfung von Schurkenstaaten, Massenvernichtungswaffen und islamistischen Terroristen. Zugleich wurde eine Allianz gegen den Terrorismus angestrebt, die möglichst viele Staaten und Mächte umfassen sollte.
Es wurde also das Ende des Kalten Krieges vorausgesetzt, zu dem der neue Krieg zugleich in Analogie gesetzt wurde. In der Sicherheitsstrategie, die das Recht auf präventive Schläge zur Selbstverteidigung begründete, wurde dieser Ausgangslage insofern Rechnung getragen, als von der Zusammenarbeit der Mächte im Kampf gegen den Terrorismus die Rede war, allerdings nur einmal und so unauffällig, dass dieser kooperative Ansatz nie in den Vordergrund trat. Beim Sturz des Talibanregimes spielte er noch eine Rolle. Mit dem Irakkrieg als „zweiter Phase“ des Krieges gegen den Terrorismus trat er völlig in den Hintergrund.
Nach dem 11. September 2001 war also keineswegs "nichts mehr, wie es vorher war". Vielmehr blieb auch danach das Ende des Kalten Krieges die wichtigste Gegebenheit der internationalen Politik. Nur auf dieser Grundlage konnte die allgemeine Übereinstimmung in der Verurteilung von Al Qaida erreicht werden. Gegen Russland, China, Indien und den Iran hätte das Talibanregime nicht gestürzt und das neue Regime nicht etabliert werden können. Die Phrase, dass nichts mehr so sei, wie es gewesen ist, war also vor allem Ausdruck der Unfähigkeit, sich klar zu machen, was sich mit dem Ende des Kalten Krieges so grundsätzlich geändert hatte, dass selbst ein Ereignis wie die Anschläge in New York und Washington daran nichts änderte. Das Nachdenken darüber konnte eingestellt werden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass nun das Gerede von der einzig verbliebenen Supermacht, von Unipolarität und amerikanischem Imperium erst so richtig Hochkonjunktur bekam.
Neue Geopolitik?
Für manche Beobachter scheint nun der 8. August dieses Jahres erneut die Bedeutung eines Ereignisses zu bekommen, das alle Gegebenheiten umwirft. "Russia Changes Everything" schrieb Newsweek am 1. September. Die Schockwellen von Russlands plötzlichem Einmarsch in Georgien wogten rund um den Globus und würden noch auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus spürbar bleiben, hieß es (Newsweek, 1.9.2008, "The World after Georgia. How Russia has changed the Rules of Geopolitics, Oil Markets, even Cyberwar"). Schon bekommen die Zahlen 8/8 für Leute wie Robert Kagan, den Mann vom Mars, paradigmatische Bedeutung. Und wieder geht es darum, mit fragwürdigen Analogien sich der Aufgabe zu verweigern, die Gefahren und Chancen einer genauen Analyse zu unterziehen, die mit dem Ende der Blockkonfrontation in die Welt kamen. Wieder wird behauptet, nichts sei mehr wie vor dem gewaltsamen Zusammenstoß in Georgien, um dann gleich hinterher zuschieben, es sei nun wieder alles, wie es im 19. Jahrhundert schon mal war.
Details darüber, wer was getan habe, damit Russland sich in den Krieg gegen Georgien geworfen hat seien nicht so wichtig, meinte Robert Kagan schon drei Tage nach dem Beginn des Zusammenstoßes und holte dann weit aus: „Historiker werden schließlich den 8. August für einen nicht weniger wichtigen Wendepunkt halten als den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls in Berlin. Russlands Angriff auf souveränes georgisches Gebiet zeigte offiziell die Rückkehr der Geschichte, die Rückkehr zu einer Rivalität unter Großmächten ganz im Stil des 19. Jahrhunderts, voller virulenter Nationalismen, Schlachten um Ressourcen, Kämpfe um Einflusssphären und Territorien und sogar voller Gewalteinsatz zur Erreichung geopolitischer Ziele – auch wenn das unsere 21.- Jahrhundert-Sensibilitäten schockiert.“ (Washington Post, 11.8.2008)
Es muss einiges im Kopf durcheinander geraten sein, wenn der Zusammenbruch des gewaltigsten Imperiums, das die Welt bisher kannte, gleichgesetzt wird mit einer blutigen, aber begrenzten kriegerischen Auseinandersetzung bei der Abwicklung seiner Erbschaft. Es war ja schon schnell nach dem 9. November 1989 klar geworden, dass damit nicht der Frieden auf Erden eingekehrt war. Saddam Hussein überfiel Kuwait. Es wurde mit Waffengewalt befreit. Die Nachfolgekriege in Jugoslawien hatten eine ganz andere Dimension als der Konflikt in Georgien. Trotzdem kam niemand auf die Idee, sie eröffneten kurz nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue Epoche. Sie waren Ausdruck der Tatsache, dass mit dem Ende der Blockkonfrontation auch der Ordnungsmechanismus nicht mehr funktionierte, den sie in Gang gehalten hatte. Das entstandene Vakuum konnte durch keine internationale Ordnungsmacht ad hoc gefüllt werden.
"Frozen Conflicts"
In diese Kategorie von Auseinandersetzungen, die ein früherer Ordnungsmechanismus nicht länger unterdrückt und eine neue internationale Ordnungsmacht weder einhegt noch gar löst, fällt auch der Zusammenstoß in Georgien. Es gibt diese Ordnungsmacht, deren Zentrum der Sicherheitsrat der UN sein müsste, noch nicht. Als innere Widersprüche wurden Konflikte wie die in Georgien unter dem Zementmantel der Sowjetunion ruhig gehalten. In Russland werden sie wie in Tschetschenien auch heute noch unterdrückt, ohne dass das mehr als verbalen und zurückhaltenden Protest hervorriefe. Nach Auflösung der Sowjetunion wurden sie außerhalb Russlands nach ersten gewaltsamen Ausbrüchen durch den russischen Kältestrom eingefroren. Saakaschwili versuchte die „frozen conflicts“ Georgiens mit dem Schneidbrenner zugunsten der georgischen Zentralmacht zu lösen. Russland ist vor allem dafür zu kritisieren, dass seine Truppen im Gegenschlag als Schutzmantel für ossetische Plünderer und Mordbrenner dienten, gegen deren Vertreibungspolitik sie nichts unternahmen. In Georgien ist die Logik der ethnischen Auseinandersetzung nicht durch Russland in Gang gesetzt worden, sondern durch die georgische Zentralstaatsbildung und den südossetischen und abchasischen Widerstand dagegen. McCain wusste wahrscheinlich nicht, was er sagte, als er sich und alle guten Amerikaner zu Georgiern erklärte.
Nein, die geopolitische Landkarte Europas ist durch den Zusammenstoß in Georgien nicht neu gezeichnet worden, wie der Economist meinte (The Economist, 21.08.2008). Russland war schon vorher in den Konflikt involviert. Und Russland ist eine europäische Großmacht, mit der nicht zu rechnen – und zwar gerade, wenn man sie für potenziell gefährlich hält - ein sträflicher Leichtsinn wäre. Die Politik der NATO unter Führung der USA und dem anspornenden Applaus einiger neuen Mitglieder kann sich nicht so recht entscheiden, für was sie Russland hält und was sie von Russland will. Müssen die neuen NATO-Mitglieder vor Russland geschützt werden? Dann wären vor allem in diesen Ländern selbst ganz andere Verteidigungsanstrengungen notwendig und müsste sich die NATO ernsthaft damit auseinandersetzen, wie sie den Verpflichtungen aus Artikel V des NATO Vertrags im Verteidigungsfall nachkommen könnte. Beides geschieht nicht. Unter der Hand folgt die ungebremste NATO-Erweiterung nicht der Logik eines Verteidigungsbündnisses, sondern einer politisch-militärischen Allianz mit nicht genau bestimmten und von Fall zu Fall neu definierten Aufgaben. Im Prinzip könnte da auch Russland einbezogen werden. Über den jetzt suspendierten NATO-Russland-Rat wurde es einbezogen. Zugleich behält die NATO aber unausgesprochen die Rolle eines Verteidigungsbündnisses gegen Russland. Russland wird deshalb bei allen Erweiterungsfragen draußen gehalten. Es hätte kein Vetorecht, wird immer wieder betont. Einflusszonen dürften nicht akzeptiert werden. Sicher, aber das kann doch nicht heißen, Einflüsse, zum Beispiel Russlands, negieren zu wollen.
Das Dilemma der NATO
Gegenüber Georgien und vor allem der Ukraine kommen die Unklarheiten der westlichen Politik drastisch zum Ausdruck: Georgien soll in die NATO, kann aber durch die NATO nicht verteidigt werden. Die Ukraine soll nach dem Willen ihres Präsidenten in die NATO, die Bevölkerung aber ist in dieser Frage völlig geteilter Meinung und im Großen und Ganzen dagegen (vgl. zuletzt Ukraine-Analysen 43 von 9.9.2008). Russland gilt großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung als Friedensmacht und Sicherheitsfaktor. Russland kann, wenn es will, die Ukraine spalten, die NATO kann, selbst wenn sie will, die Ukraine nicht verteidigen. Von möglicher Selbstverteidigung der Ukraine gar nicht zu reden. Was also tun? In diesem Dilemma, dass zunehmende Erweiterung zu abnehmender Verteidigungsfähigkeit führt, liegt natürlich für die USA eine selten offen ausgesprochene, aber immer wieder spürbare Versuchung, ihm durch atomare Überlegenheit (primacy) zu entkommen. Es ist ja nicht verwunderlich, dass Russland auch hinter Aktionen, die nicht unbedingt diesen Zweck verfolgen, entsprechende Absichten vermutet.
Die USA und die EU müssen klären, was 1989/91 für sie bedeutet: Die Chance, Russland als Großmacht nach dem Ende der Sowjetunion definitiv auszuschalten, oder die Notwendigkeit, Russland als verbleibende eurasische Großmacht anzuerkennen und mit ihm als solcher in Krisen und Konflikten zusammen zu arbeiten. Damit verknüpft ist die Frage, ob eine globale Ordnungsmacht mit dem Sicherheitsrat der UN als institutionellem Zentrum hartnäckig angestrebt wird und ein solches „Konzert der Mächte“ den strategischen Vorrang gegenüber einer gepanzerten Allianz von Demokratien hat oder ob der Westen umgekehrt darauf hofft, dass sich Außenpolitik als Umgang und Verständigung mit anderen in einer westlich dominierten Weltinnenpolitik irgendwann von selbst erledigt?
Im Grunde haben die USA den Kalten Krieg regional nie beendet und sein Ende gleichzeitig als Voraussetzung genommen, ihre Rolle als „einzig verbliebene Supermacht“ global auszuspielen. Auch dieses Durcheinander hat der Zusammenstoß in Georgien ans Licht gebracht. Es bleibt nach dem 8. August 2008 genau so groß, wie es vor dem 8. August schon war. Wahrscheinlich lässt es sich auf die Schnelle nicht beheben. Einstweilen lernt die russische Politik es immer besser, dieses Durcheinander zu nutzen. Es lähmt den Westen.
Dossier
Krise im Südkaukasus
Im Konflikt zwischen Georgien und Russland herrscht eine prekäre Waffenruhe. Russland zieht sich nur langsam aus Kerngebieten Georgiens zurück und betreibt die Loslösung Südossetiens und Abchasiens. Nach wie vor ringen die EU und die USA um ihren Kurs gegenüber Russland. Berichte und Analysen zu Ursachen und Auswirkungen dieses Konflikts.Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.