Kiew, 25.08.2008
Der Krieg im Südkaukasus hat ohne Zweifel strategische Konsequenzen für die Ukraine. Spätestes seit 2004 sind Georgien und die Ukraine echte strategische Partner. Die Präsidenten beider Länder pflegen seit Jahren eine enge, fast familiäre Freundschaft. Deshalb ist es kein Wunder, dass Juschtschenko mit seinen baltischen und dem polnischen Amtskollegen schon am 12. August 2008 Tbilisi besuchte, um den georgischen Präsidenten und die Bürgerinnen und Bürger dort zu ermutigen.
Die Ukraine war das einzige GUS-Land, das Georgien im Konflikt mit Russland von Anfang an und eindeutig unterstützte. Die Sympathien der meisten ukrainischen Bürgerinnen und Bürger liegen auf der Seite Georgiens, und in Kiew sind dieser Tage recht große Protestaktionen vor der russischen Botschaft zu beobachten. Man sieht auch immer und wieder auf Balkons die georgische Flaggen als Zeichen der Unterstützung hängen.
Handels- und Informationskrieg
Gleichzeitig verschlechtern sich die ohnehin nicht besonders guten ukrainisch-russische Beziehungen. Seit 2006 führt die Ukraine Handelskriege mit Russland: Es geht nicht nur um Gaslieferungen für die Ukraine, sondern auch um russische Einfuhrverbote gegen eine Reihe von landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine (Milchprodukte, Fleisch, Wein). Russische Medien führen einen aggressiven Informationskrieg und bezichtigen die Ukraine mitschuldig zu sein am „Genozid gegen das ossetische Volk“. Nach den deutlichen Erklärungen von Präsident Juschtschenko zum Konflikt im Südkaukasus und nach seinem Erlass zur russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim, demzufolge die russische Marine jede Bewegung der Truppen bei der ukrainischen Führung beantragen soll, ist die Ukraine de facto im „kalten Krieg“ mit Russland.
Als nächstes die Ukraine
Die politische Elite der Ukraine ist in Sorge, dass sich das, was in Georgien geschah, in Transnistrien und auf der Krim wiederholen könne. Die sehr zurückhaltende Reaktion des Westens auf den russischen Einmarsch nach Georgien lässt einige Expertinnen und Experten zu dem Schluss kommen, dass die Gasversorgung aus Russland für die EU-Kernländer wichtiger ist als Demokratie und territoriale Integrität in den postsowjetischen Länder. Viele ukrainische pro-westliche Politikerinnen und Politiker sind vom Westen sehr enttäuscht und diskutieren bereits über mögliche Szenarien eines ukrainisch-russischen Krieges in dem sich die Ukraine nur auf sich selbst und die eigenen Streitkräfte verlassen könnte. „Ein Militärkonflikt zwischen der Ukraine und Russland ist nur die Frage der Zeit“ – solche Meinungen hört man immer öfter in Kiew.
Premierministerin Tymoschenko und Oppositionsführer Janukowytsch enthielten sich lange jeder Stellungnahme zum Konflikt in Georgien. Das ist damit zu erklären, dass beide im Hinblick auf die ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2010 auf die Loyalität Russlands hoffen. Mittlerweile äußerte sich Tymoschenko ziemlich zurückhaltend über die Ereignisse in Georgien, Janukowytsch blieb wie meist auf seiner pro-russischen Linie und empfahl Juschtschenko, seine private Meinung nicht über nationale Interessen zu stellen.
NATO-Beitritt als einzig mögliche Rettung?
Vielerseits wurde erwartet, dass der Krieg in Georgien in der Ukraine zu einem Meinungsumschwung in Sachen NATO-Beitritt führen würde. Die jüngsten Umfragen (1) zeigen jedoch, dass das nicht der Fall ist. Für 44,4 Prozent der Befragten ist der Konflikt im Südkaukasus eine russische Aggression gegen Georgien, 41,4 Prozent sind der Meinung, es handle sich um eine Friedensmission Russlands. Einen raschen Beitritt zur NATO befürworten nur 18,2 Prozent, weitere 13,2 Prozent sind eher dafür als dagegen. Gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sind immer noch über 60 Prozent der Bevölkerung (51,4 Prozent strikt, 11,7 Prozent eher dagegen).
Innenpolitische Konsequenzen
Die Außenpolitik wird den innenpolitischen Diskurs in der Ukraine im Herbst 2008 dominieren. Themen gibt es genug: Die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim, die Verlängerung des ausgelaufenen Freundschaftsvertrags mit Russland, die Verhandlungen über Gaslieferungen für 2009, die Frage der doppelten ukrainisch-russischen Staatsangehörigkeit, die Diskussion über Membership-Action-Plan-Anträge der Ukraine und Georgiens im Dezember 2008 und das Verhältnis der Premierministerin Tymoschenko zum Kreml sind schon heute ganz oben auf der politischen Tagesordnung.
Präsident Juschtschenko wird versuchen, den Krieg in Georgien für seine eigenen innenpolitischen Zwecke zu nutzen. Gerne würde Juschtschenko die Außenpolitik beziehungsweise die außenpolitische Ausrichtung der Ukraine zum Wahlkampfthema Nr. 1 machen. Traditionell besteht Wahlkampf in der Ukraine aus einem Wettkampf der Politikerinnen und Politiker, bei dem es darum geht, dem Wahlvolk möglichst hohe Sozialleistungen zu versprechen. Juschtschenko weiß, dass er diese Art von Wettbewerb nicht gewinnen kann – schon gar nicht gegen Tymoschenko. Juschtschenko hat ein klares außenpolitisches Profil und besetzt in der ukrainischen Politik die pro-westliche Nische. Seine Strategie für die Präsidentschaftswahl 2010 wird mit einiger Sicherheit darin bestehen, einen Lagerwahlkampf zwischen pro-westlicher und pro-russischer Identität zu führen.
Dr. Kyryl Savin leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine.
Anmerkung:
(1) Dzerkalo Tyzhdnja, Nr. 31 vom 23.08.2008, S.2
Dossier
Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie
Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.- Dossier: Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie von Dr. Kyryl Savin - Feedback an: savin@boell.org.ua