Transformation des Politischen: Governance und Gender Mainstreaming in der Europäischen Union

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Kritische Revision aus frauenpolitischer Sicht


7. Oktober 2008



27. Januar 2006

Politische Willensbildungs- und Entscheidungsstrukturen sind europa- und weltweit in Bewegung. Die EU nimmt durch unterschiedliche Instrumente und Maßnahmen zunehmend Einfluss auf die Regierungstätigkeit ihrer Mitgliedstaaten. Darüber hinaus sollen transregionale und transnationale Bündnisse oder Koalitionen gefördert und die Rolle von Nichtregierungsorganisationen gestärkt werden – auch im Bereich der geschlechter-politischen Interventionen. Diese neuen Formen des Regierens – d.h. politischer Steuerung und politischer Partizipation – firmieren unter dem Label "Governance". Governance ist mithin ganz unmittelbar mit dem Problem post- und supranationaler Demokratie, mit Formen politischer Entscheidungsfindung jenseits repräsentativer und parteipoliti-scher Pfade verbunden.

Die Arbeit von NGOs repräsentiert zivilgesellschaftliche und partizipative Formen der Politik, aus-gehend von Bürgerinnen und Bürgern Europas – gleichsam eine "bottom up"-Perspektive. Gleich-zeitig sollen die Strategien des Gender Mainstreaming zu einer systematischen Integration von geschlechterpolitischen Perspektiven in die zukünftige Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten führen – in einem "top down"-Prozess. Alle politischen Maßnahmen müssen zukünftig auf ihre geschlechtsbezogenen Auswirkungen hin reflektiert und mit dem Ziel einer umfassenden Ge-schlechterdemokratie konzipiert werden. Im Mehr-Ebenen-System der EU soll dies von oben – von der supranationalen Ebene – auf die nationale bis auf die Ebene lokaler Politikformulierung und -implementierung transferiert werden.

Das hoch gesteckte Ziel einer Sensibilisierung von Politik und Bürokratie, verbunden mit der Ope-rationalisierung von mehr Geschlechtergerechtigkeit auf der Ebene von Analysen, Maßnahmen und Interventionen ist zweifellos der Erfolg von NGOs, nämlich der internationalen Frauenbewe-gungen. Es handelt sich aber um einen recht ambivalenten Erfolg - darin sind sich kritische Beob-achterinnen der Entwicklung einig. Rücken die Strategien des Gender Mainstreaming die Errun-genschaften einer  einflussreichen sozialen Bewegung einerseits mehr ins Zentrum europapoliti-scher und nationalstaatlicher Strategien, geraten ihre zivilgesellschaftlichen und gesellschaftskriti-schen Impulse gleichzeitig in den Sog von Bürokatisierung und drohen hinter einem wenig konkre-ten Ideal von europaweiter Geschlechterdemokratie zu verschwinden. Darüber hinaus bleiben die partizipativen Aspekte der Politikformulierung, der Entscheidungsfindung und der Umsetzung von gesetzlichen Normen hinter der administrativen Implementierung von Gender Mainstreaming zu-rück.

Vor diesem Hintergrund stellt sich am Beispiel der Implementierung von Gender Mainstreaming die Frage nach der demokratiepolitischen Qualität neuer Governance-Formen im EU-Integrationsprozess. Wie können zivilgesellschaftliche Kräfte im Prozess der Transformation des Politischen in Europa gestärkt werden? Trägt die „NGOisierung“ der europäischen Zivilgesell-schaft dazu bei, dass Frauen tatsächlich mehr Einfluss auf politische Prozesse und Entscheidun-gen nehmen? Oder werden die Impulse feministischer Politik langfristig in einer europäischen Bü-rokratie, die sich diese deliberativen Foren aus Legitimations- und Effektivierungsgründen leistet, eingefroren? Wie korrespondieren Fragen nach den Grenzen und den Möglichkeiten zivilgesell-schaftlicher Interventionen in die EU mit dem je nationalen Kontext, in den Gender Mainstreaming eingebettet wird? Kann eine Strategie wie Gender Mainstreaming tatsächlich dazu beitragen, dass transnationale geschlechterpolitische Bündnisse an Einfluss gewinnen (input), so dass die Le-benslagen von Frauen sich europaweit verbessern (output) und ihre politische Partizipation wächst? Wie verändern sich die politischen Ideale von Frauenbewegungen in einem solchen Pro-zess?  

Die verschiedenen Fragen regen zu einer kontroversen Debatte über Gender Mainstreaming als neue Governance-Form an, die weit über geschlechterpolitische Fragen hinaus auf Fragen von Zivilgesellschaft und transnationale Formen von Demokratie verweist. Geschlechterfragen sind hierbei ein exzellentes Beispiel für die politischen Herausforderungen, die mit transnationalen politischen Interventionen verbunden ist, wenn normative Ideale wie Gleichheit und Gerechtigkeit auf dem Spiel stehen.

ReferentInnen

Prof. Dr. Claudia von Braunmühl (Freie Universität Berlin, Grüne Akademie)
Mieke Verloo, (Radboud University Nijmegen)
Prof. Dr. Birgit Sauer (Universität Wien, Grüne Akademie)
Elisabeth Schroedter (Mitglied des Europäischen Parlaments)
Prof. Dr. Mechthild Bereswill (Universität Frankfurt/Main, Grüne Akademie)
Vera Morgenstern (Leiterin Bereich Frauen- und Gleichstellungspolitik in ver.di; Gender Equality Committee des Europ. Verbandes der Gewerkschaften von Dienst-leistungen im öffentl.Interesse – EPSU -)
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Das Werkstattgespräch wurde im Rahmen der Schriftenreihe der Grüne Akademie veröffentlicht und steht zum Download bereit.