Globalisierte Welt und Außenpolitik - März 2008
Als sich Kosovo Ende Februar zum unabhängigen Staat erklärte, wurde vielfach, teils ehrlich, teils geheuchelt, die Gefahr beschworen, der Vorgang könne zu einem Präzedenzfall in anderen Konflikten werden, in Georgien zum Beispiel. Doch leitet der Schritt des Kosovo keine neue Entwicklung ein. Er bildet das vorläufig letzte Glied einer Kette von Ereignissen, die zur Auflösung Jugoslawiens führten. Mit dem Staatsstreich der Republik Serbien gegen die jugoslawische Verfassung und der politischen Einverleibung des Kosovo 1991 war dieser Prozess nach etlichen Krisen vollends in eine gewaltsame und militärische Phase eingetreten. Zu erinnern ist also nicht erst an das Ende der 90er Jahre, sondern an deren Beginn.
Die Anfänge der Auflösung Jugoslawiens scheinen den heutigen Beobachtern kaum noch im Gedächtnis zu sein. So fragt Andrea Böhm in Die Zeit „Was tun mit Serbien?“ und antwortet: „Trotz aller Erweiterungsmüdigkeit muss die EU Serbien eine klare Perspektive auf Vollmitgliedschaft bieten – und gleichzeitig ein paar klärende Worte riskieren: Serbien hat das Kosovo nicht verloren, weil der böse Westen das Völkerrecht missachtet hat. Sondern weil serbische Truppen dort Kriegsverbrechen begangen haben. Und weil Belgrad den Kosovo-Albanern bis heute keine Geste der Entschuldigung angeboten hat.“ Das ist nicht falsch. Bevor „Belgrad“ freilich das Kosovo verlieren konnte, musste es sich seiner erst bemächtigt haben. Das geschah nach vielen Unterdrückungsmaßnahmen in den Vorjahren definitiv im September 1990 mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung Serbiens, in der dem Kosovo und der Vojvodina ihre durch die jugoslawische Verfassung von 1974 verbrieften Rechte genommen wurden.
Diskriminierung der Albaner
Auf Ebene der jugoslawischen Föderation waren Kosovo und die Vojvodina seit 1974 den Republiken, also auch Serbien gleichgestellt. Sie waren auf dieser Ebene Serbien nicht untergeordnet, obwohl sie zugleich innerhalb Serbiens autonome Provinzen waren. So hatten sie die gleichen Rechte und staatlichen Funktionen wie die Republiken: Verfassung, Parlament, Regierung, Oberster Gerichtshof, Territorialverteidigung, das Recht auf Verleihung der Staatsangehörigkeit und auf Ausstellung von Pässen. Das Kosovo war bis zum serbischen Staatsstreich in den kollektiven Vorständen von Partei und Staat gleichberechtigt vertreten, mit einem rotierenden einjährigen Vorsitzendenmandat und mit seinen Delegierten im Bundesparlament. Kosovo (wie die Vojvodina) hatte, und das war die Besonderheit, damit „den dualen Status eines konstitutiven Elements der Föderation und gleichzeitig einer Provinz innerhalb der Republik Serbien. (…) Titos Kompromiss bestand darin, die ,staatlichen Funktionen’ sicherzustellen, die Möglichkeit einer formalen Anerkennung der Republik Kosovo aber auszuschließen - ,weil Serbien noch nicht bereit war, dies zu akzeptieren.’“ (1) Man kann darin auch das Fortwirken der ethnischen Diskriminierung der Albaner gegenüber den „südslawischen“ Völkern sehen. Zwar wurde Kosovo auf jugoslawischer Ebene wie eine gleichberechtigte Republik behandelt, doch wurden die Albaner nicht als gleichberechtigte staatsbildende Kraft der jugoslawischen Föderation anerkannt. Aus dieser Diskriminierung nährte sich der serbische Anspruch, den Kosovo zu beherrschen.
Der „duale Status“ des Kosovo
Die serbischen Anschläge auf die Stellung des Kosovo in Jugoslawien Ende der 80er Jahre blieben in der europäischen Öffentlichkeit unbeachtet. Internationale Proteste gab es nicht. Die EU wurde auf die Krise Jugoslawiens erst aufmerksam, als Slowenien und Kroatien sich in Referenden für die Unabhängigkeit entschieden. Wenn vom staatsrechtlichen Status quo des Kosovo vor dem Eingreifen der NATO 1999 die Rede ist, wird somit fast immer an den Status nach dem Staatsstreich gedacht, mit dem Serbien den eigenartigen „dualen Status“ des Kosovo beseitigt und den Weg des Kosovo zu einer Republik Jugoslawiens gewaltsam unterbrochen hatte. Damit wurde der serbische Staatsstreich qua Macht des Faktischen stillschweigend anerkannt und der territorialen Integrität Serbiens grundsätzlich der Vorrang eingeräumt gegenüber den Rechten und staatlichen Funktionen, die das Kosovo (wie auch die Vojvodina) mit der jugoslawischen Verfassung 1974 bereits errungen und über mehr als ein Jahrzehnt auch ausgeübt hatte. Der usurpatorische Zugriff auf das Kosovo erhielt damit unter der Hand völkerrechtliche Weihen. Das Kosovo wurde nur noch als serbische Provinz wahrgenommen. In diesem Verständnis, wäre die Behandlung der Bevölkerung des Kosovo eine rein innere Angelegenheit Serbiens geblieben, wenn es Milosevic nicht gar zu brutal getrieben hätte.
Heute jedoch sieht sich das Kosovo wieder in der Lage, den Weg fortzusetzen, den ihm die jugoslawische Verfassung bereits eröffnet und Milosevics Gewaltpolitik verschlossen hatte. Ironischerweise treten damit NATO und UNO und letztlich die Europäische Union an die Stelle Jugoslawiens, um eine kosovarische Staatsbildung gegen serbische Unterdrückungs- und Einverleibungsabsichten zu sichern. Kosovo ist heute kein internationaler Präzedenzfall. Es war aber der erste Fall, an dem sich zeigte, was aus Jugoslawien werden musste, wenn dem großserbischen Chauvinismus Milosevics nicht Einhalt geboten wurde. Die Republiken Jugoslawiens entzogen sich dieser Instrumentalisierung des Jugoslawismus durch Serbien letztlich alle, indem sie ihre Unabhängigkeit erklärten.
Staatsbildung in Europa
Kosovo knüpft jetzt wieder an seine frühere Gleichberechtigung mit diesen Republiken an und erklärt sich zum unabhängigen Staat. Dabei ist dieser Status nicht bedingungslos zu haben. Das Kosovo hat sich die Verpflichtungen des Atihsaari-Vorschlages zu Eigen gemacht. Und die EU übernimmt eine Patenschaft für das Kosovo, ohne die es seine Staatsbildung nicht erfolgreich voranbringen könnte. Es braucht äußere Garantien gegenüber äußeren Ansprüchen aus Serbien, und es braucht äußere Hilfe für seine innere Entwicklung.
Staatsbildung war in Europa immer ein problematischer Prozess. Die europäische Geschichte war über Jahrhunderte eine Geschichte von Reichen, nicht von Staaten. Europas vorherrschende Traditionen waren bis ins 20. Jahrhundert hinein imperial. In Südosteuropa trafen die großen Kontinentalreiche aufeinander und ließen der Staatsbildung keinen Raum: Nach Rom und Byzanz, das Habsburger und das Osmanische Reich und dann alle europäischen Mächte im Kampf um die Erbschaft des „kranken Manns am Bosporus“. Der Balkan ist ein bis heute imperial geprägter Raum, nach 1918 aber ohne Imperien. Ihre Spuren bleiben wirksam, nicht zuletzt in den religiösen Spaltungen. Staatsbildung ist schwierig auf diesem Boden.
Ethno-nationale Identitätsbildung
Man kann die Geschichte Jugoslawiens als Auseinandersetzung zwischen langer imperialer Prägung und junger ethno-nationaler Identitätsbildung verstehen. Die Grenzen der Verwaltungseinheiten der Imperien und die ethnischen Siedlungsgebiete stimmten nicht überein. Unabhängigkeit als Lostrennung richtete sich gegen die habsburgische Doppelmonarchie und das osmanische Reich. Sie vollzog sich in den Grenzen der imperialen Verwaltungseinheiten. Sie zielt auf staatsbürgerliche Identität in diesen Grenzen. Ethno-Nationalismus zielt auf Homogenität und neue Grenzen. In Jugoslawien und bei seiner Auflösung Jugoslawiens trafen beide Tendenzen aufeinander: Der Traum von einem ethno-nationalen serbischen Reich und die Hoffnung, demokratische Staatlichkeit in den Grenzen der Republiken endlich verwirklichen zu können.
Die Grenzen dieser Republiken hatten sich nicht nach ethnischen Gesichtspunkten gerichtet, sondern folgten den traditionellen Grenzen der früheren imperialen Verwaltungseinheiten. Sie waren in erster Linie politisch begründet und stifteten politische Traditionen. Je mehr der Jugoslawismus zum Deckmantel serbischer Expansionsbestrebungen wurde, desto mehr wurde das Festhalten und die Verteidigung der Republikgrenzen zur Voraussetzung moderner Staatlichkeit auf dem Westbalkan.
Serbien als EU-Mitglied
Die Eigenständigkeit der Republiken gegenüber großserbischen Vorherrschaftsbestrebungen fand mit der Verfassung von 1974 in der Föderation solange eine Stütze, bis sich Serbien über die politische Unterwerfung Kosovos und der Vojvodina sowie die lange Zeit bedingungslose Gefolgschaft Montenegros die Vormacht in Jugoslawien und über die Armee sicherte. Damit wurde die Föderation zur Bedrohung für die Republiken. Demokratische Staatsbildung konnte nur noch über ihre Unabhängigkeit gelingen. Da ihre Eigenständigkeit durch Serbien und die jugoslawische Armee gefährdet blieb, mussten die internationale Gemeinschaft und die EU zu Garanten der Republiken, ihrer Souveränität und territorialen Integrität werden und zugleich die Republiken selbst auf den Schutz der Minderheiten und der Menschenrecht verpflichten. Auf diesen Weg hat jetzt auch das Kosovo zurückgefunden. Die Frage bleibt, ob Serbien die Mitgliedschaft in der EU als eine der Republiken des früheren Jugoslawiens mehr wert ist als der durch russische Beistandsversprechen genährte Traum von einem ethno-nationalen Großserbien.
(1) Shkelzen Maliqui, Die politische Geschichte des Kosovo, in: Dunja Melcic (Hrsg.) Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2007, S. 128