Indiens Atomkaste nach wie vor selbstgefällig

Derzeit im Bau: Das Kernkraftwerk Kudankulam in Indien.
Bild: Petr Pavlicek/IAEA. Lizenz: Namensnennung. Original: IAEA.org.

6. April 2011
Praful Bidwai
Praful Bidwai ist Kolumnist und Umweltaktivist in Neu Delhi

Indische Regierung leugnet Ausmaß von Fukushima

Die Katastrophe, von der die Atomindustrie in aller Welt (und in Japan) behauptete, sie könne nie eintreten, hat die Öffentlichkeit in Indien tief erschüttert. Man teilt die Trauer und Angst in Japan. Die Regierung jedoch, und speziell die Atombehörde DAE (Department of Atomic Energy) sind weitgehend selbstzufrieden und leugnen die Schwere des Zwischenfalls von Fukushima.

Die erste Reaktion der Bürokraten in der Atombehörde war es, die Kette von Unfällen, die mit einem Verlust von Kühlflüssigkeit im Kraftwerk von Daiichi begann, und auf die eine Überhitzung des Atombrennstoffs, eine Beschädigung des Reaktorkerns und eine Wasserstoffexplosion folgten, mit dem Statement abzutun: „Es handelt sich hier um eine rein chemische Reaktion und nicht um einen atomaren Störfall.“ Der Vorsitzende der Atombehörde, Srikumar Banerjee, bezeichnete die Katastrophe als „ungewöhnliche, durch eine Naturkatastrophe hervorgerufene Lage“ auf die „unsere Kollegen in Japan dadurch reagieren, dass sie dem Druckanstieg im Reaktor schrittweise begegnen.“

Der Vorsitzende der Nuclear Power Corporation, S.K. Jain, gab sich noch pomadiger: „Es gibt keinen nuklearen Unfall oder Zwischenfall. Es handelt sich um ein durch und durch geplantes Notfallprogramm mit dem Ziel, nach einer automatischen Notabschaltung verbliebene Hitze abzulassen.“

Zwei Wochen später räumte die DAE ein, der Unfall in Japan sei ernster Natur, bestritt jedoch, dass sich ein vergleichbarer Unfall auch in Indien ereignen könne, da die indischen Sicherungssysteme von höherer Qualität seien. Selbst für die beiden, seit 1969 in Tarapur betriebenen Reaktoren, die baugleich mit denen von Fukushima sind (Siedewasserreaktoren von General Electric), schloss man dies aus.

Die Reaktoren von Tarapur, so die DAE, verfügten über ein passives Kühlsystem, das bei einem kompletten Stromausfall auch ohne Notstromversorgung funktioniere. Noch zweifelhafter ist die Behauptung, sämtliche indische Anlagen seien selbst gegen starke Erdbeben und Tsunamis gewappnet – wo doch selbst die Anlagen in Japan dies nicht waren. Jain prahlte: „Wir wissen über die Art und Stärke der seismischen Störungen genau Bescheid. Unsere Anlagen sind so gebaut, dass sie auch den schwersten seismischen Ereignissen und Tsunamis widerstehen können.“

Die DAE und ihre Fürsprecher bezeichnen den Störfall von Fukushima nach wie vor als Naturkatastrophe. Atomare Störfälle, schwere Kühlmittelverluste und andere Ereignisse, die zu einer Kernschmelze führen können, sind aber auch ohne Naturkatastrophen möglich – die Zwischenfälle von Windscale (Großbritannien, 1957), Harrisburg (USA, 1979) und Tschernobyl (UdSSR, 1986) haben dies gezeigt. Atomunfällen ereignen sich wegen menschlichen Versagens, wegen Materialermüdung, technischer Pannen oder Fehlfunktionen, dem Versagen der Notstromversorgung oder der Notkühlsysteme, Naturkatastrophen, militärischer Angriffen usw. Naturkatastrophen machen atomare Störfälle nur wahrscheinlicher.

Atombehörde bestreitet atomare Störfälle

Die DAE bestreitet die Tatsache, dass atomare Störfälle unvermeidlich sind, ganz gleich wie ausgereift die Technologie, wie qualifiziert das Personal. Die Bürokraten behaupten ungeniert, es sei gefährlicher über die Straße zu gehen, als einen Atomreaktor zu betreiben. Derartige haarsträubende Auffassungen werden den Bediensteten der DAE bei Schulungen und am Arbeitsplatz eingetrichtert.

Weiter weist die DAE darauf hin, 18 seiner 20 Kraftwerke verfügten über kanadische CANDU-Reaktoren (Schwerwasserreaktoren) und seien somit erheblich sicherer als Anlagen mit Leichtwasserreaktoren. Diese Annahme wurde jedoch schon bald nach der Katastrophe von Tschernobyl widerlegt, als Ingenieure, beispielsweise von der Gruppe Ökologie in Hannover, alle im kommerziellen Einsatz befindlichen Reaktortypen auf ihre Sicherheit hin untersuchten und zu dem Schluss kamen, bei jedem Bautyp könne es zu einer Kernschmelze kommen.

Das indische Atom-Establishment weigert sich, anzuerkennen, dass auch die besten Reaktortypen gemäß einer Risikoanalyse entworfen wurden, die mit Wahrscheinlichkeiten rechnet, einem Verfahren, das nie fehlerfrei sein kann. Einen vollkommen ungefährlichen, hundertprozentig sicheren Reaktortyp gibt es nicht.

Um die Sicherheit indischer Reaktoren ist es schlecht bestellt

Für ein kleines Programm, das weniger als drei Prozent von Indiens Strombedarf abdeckt, schneidet die DAE in Fragen der Sicherheit erstaunlich schlecht ab. Hunderte von Arbeitern wurden Strahlungsdosen jenseits der Grenzwerte ausgesetzt, davon allein 350 Anfang der 1980er Jahre in Tarapur, einer Anlage, die zwei der am stärksten kontaminierten Reaktoren der Welt hat.

Ich selbst habe zwei der CANDU-Reaktoren besichtigt. In der Anlage in Rajasthan habe ich Arbeiter gesehen, die ungeschützt, ohne Schutzmasken oder Handschuhe, in Umgebungen arbeiteten, in denen die Tritium-Werte den Grenzwert um das 300- bis 600-fache überstiegen. Nachlässige und gegen die Sicherheit verstoßende Abläufe sind in den von der DAE betriebenen Anlagen die Regel.

In Indien ist es bereits zu schweren Störfällen gekommen. Im Jahr 1993 kam es in Narora, einem Kraftwerk 300 km von Delhi, zu einem Brand. Das Feuer begann im Turbinenraum, weil man sich dort über Sicherheitsvorschriften hinwegsetzte – eine Tatsache, auf die der Hersteller des Reaktors die DAE hingewiesen hatte. Von dort breitete sich der Brand Richtung Reaktor aus. Die Leitung des Kraftwerks geriet in Panik, bekämpfte den Brand nicht und setzte sich über Sicherheitsbestimmungen hinweg. Das Feuer erlosch schließlich von selbst, rein zufällig.

In Kaiga stürzte ein im Bau befindlicher Sicherheitsbehälter ein. Diese Behälter sind der letzte Schutzwall, sollte Radioaktivität freigesetzt werden. Wie man feststellte, war es bei Planung und Ausführung zu Fehlern gekommen. Was geschehen wäre, hätte sich dies bei einem in Betrieb befindlichen Reaktor ereignet, mag man sich nicht vorstellen.

Ebenfalls in Kaiga kam es im November 2009 vermutlich zu Sabotage. Man stellte fest, dass der Urin von Arbeitern einen hohen Gehalt an Tritium aufwies. Tritium, ein schweres Isotop des Wasserstoffs, ist giftig und führt zu einem erhöhten Krebsrisiko. Der Leitung des Kraftwerks zufolge wurde das Tritium, beziehungsweise Tritiumoxid in einen Wasserspender eingebracht. Die Täter wurden nie gefunden, und es ist unklar, wie sie an das Tritium kommen und es ihnen gelingen konnte, es in die versiegelten Wasserspender einzubringen.

Kein Konzept für die Endlagerung von Atommüll

Die DAE sieht auch kein Problem bei der schwierigen Frage der Entsorgung von Atommüll, der an vielen Stellen innerhalb des so genannten „Brennstoffkreislaufes“ anfällt – vom Uranabbau, über den Reaktorbetrieb, bis hin zur Lagerung oder Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstoffe. Hochstrahlender Abfall stellt auf Jahrtausende hin eine Gefahr dar. Die Wissenschaft hat bislang keine Methode gefunden, solche Abfälle langfristig sicher zu lagern, geschweige denn sie zu neutralisieren.

Mit all diesen unsicheren Vorgängen ist die DAE bislang durchgekommen, da die Behörde weder öffentlich kontrolliert noch beaufsichtigt wird. In Indien existiert keine Aufsichtsbehörde, die Normen entwickelt oder die Sicherheit von Reaktoren überwacht. Die DAE hat sich darauf beschränkt, US-amerikanische oder kanadische Modelle zu kopieren. Die nominelle Aufsichtsbehörde AERB (Atomic Energy Regulatory Board) ist zahnlos und, was ihr Budget, ihre Ausstattung und ihr Personal angeht, ganz von der DAE abhängig. Das Atomgesetz von 1962 erlaubt es der DAE zudem, nach eigenem Gutdünken Informationen geheim zu halten.

Persönlichkeiten fordern Moratorium für die Überprüfung des Atomprogramms

Nach Fukushima steht die indische Regierung unter öffentlichem Druck, ihr Atomprogramm zu überdenken. In einer Erklärung, die 60 bekannte Persönlichkeiten unterzeichnet haben, heißt es: „Wir sind der festen Überzeugung, dass Indien sein Atomprogramm grundlegend überdenken muss und zwar im Hinblick auf dessen Angemessenheit, Sicherheit, Kosten und öffentliche Akzeptanz. Alle Atomanlagen sollen von unabhängiger Seite transparent auf ihre Sicherheit hin untersucht werden und zwar unter Beteiligung von Experten, die nicht aus der DAE kommen, sowie von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Bis eine solche Überprüfung abgeschlossen ist, soll ein Moratorium über das Atomprogramm verhängt und alle kürzlich bewilligten Projekte sollen ausgesetzt werden.

Indische Regierung verspricht mehr Sicherheit und Transparenz – die Umsetzung lässt auf sich warten

Die indische Regierung weigert sich bislang, eine solche Untersuchung durchführen zu lassen oder ein Moratorium zu verhängen. Immerhin hat Premierminister Manmohan Singh angedeutet, es werde gewisse Änderungen geben. Am 29. März 2010 mahnte er Wissenschaftler der DAE wie folgt: „Die Menschen in Indien müssen davon überzeugt werden, dass unsere Atomkraftwerke gefahrlos und sicher sind. Wir müssen die Entscheidungsprozesse innerhalb unseres Atomenergieprogramms offener und transparenter gestalten und stärker dem Wunsch der Öffentlichkeit nachkommen, über Entscheidungen und Themen, die sie betreffen, informiert zu werden. Ich wünsche mir, dass unsere Atomkraftwerke verantwortungsbewusst und transparent betrieben werden.“

Und er fügte an: „Ich habe bereits eine technische Überprüfung der Sicherheitssysteme aller unserer Atomkraftwerke angeordnet. Dabei wird die beste verfügbare Sachkunde zur Anwendung kommen. In Zukunft müssen Reaktoren von der indischen Aufsichtsbehörde entsprechend von Sicherheitsnormen zertifiziert werden. Dies gilt gleichermaßen für importierte Reaktoren und Technologien.“

Offen bleibt jedoch, ob an dieser Überprüfung auch Experten von außerhalb der DAE und aus der Zivilgesellschaft teilnehmen werden. Das einzige wesentliche Zugeständnis, das Singh machte, ist, dass „die Aufsichtsbehörde AERB gestärkt und zu einer wirklich autonomen und unabhängigen Aufsichtsbehörde wird, die sich an den höchsten und besten internationalen Standards messen lassen kann.”

Ob, wann und wie dies geschehen soll, bleibt unklar. Um wirksam handeln zu können, muss die AERB auch mit Personen besetzt sein, die es nicht für selbstverständlich halten, dass Atomkraft grundsätzlich sicher, unverzichtbar und wünschenswert ist. Im Endeffekt könnte es sein, dass die einzige positive Folge von Fukushima in Indien die Schaffung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde ist.

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