6. Januar 2009
Die Bilanz der internationalen und regionalen Reaktionen auf die israelischen Angriffe auf Gaza ist bislang eindeutig negativ: Nahezu vollständige Passivität der USA, wo nur noch wenige Tage bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten bleiben. Schweigen zunächst auch in Europa, mit Ausnahme der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft, die die israelischen Attacken als „Selbstverteidigung” rechtfertigte. Uneinigkeit in der arabischen Welt, deren Außenminister sich in Kairo über den Vorschlag zu einem außerordentlichen Gipfeltreffen der Arabischen Liga zerstritten und sich gerade noch zur Anrufung des Weltsicherheitsrates durchringen konnten. Eisiges Schweigen zwischen Hamas und der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, zwischen denen weiter ein unüberbrückbarer Graben klafft. Das Ergebnis: Araber und Palästinenser geben sich weiter schwach und uneins, die menschlichen und politischen Verluste der Palästinenser wachsen von Tag zu Tag.
Dem gegenüber stehen die französischen Bemühungen um eine „humanitäre Feuerpause” und praktische Vorschläge für die Bedingungen eines Waffenstillstandes, denen Präsident Sarkozy durch eine Reise in die Region Nachdruck zu verleihen suchte. Mit ähnlichen Vorschlägen im Gepäck besuchte der türkische Ministerpräsident Erdogan Riad, Kairo und Damaskus und bemühte sich über eine Überwindung der Differenzen zwischen Syrien auf der einen und Ägypten und Saudi-Arabien auf der anderen Seite, sowie um eine innerpalästinensische Annäherung.
Sarkozy und Erdogan auf Vermittlungsreise
Doch es sind vor allem die negativen Faktoren, die Grund zum Nachdenken bieten. Und vielleicht ist der unzweifelhaft wichtigste negative Faktor, die Passivität der USA während der gegenwärtigen Übergangsphase, sogar der eigentliche Kern der Krise. Denn seit dem Wahlsieg Barack Obamas am 25. November ist Bewegung in die blockierten Fronten des Friedensprozesses gekommen: Befürworter ebenso wie Gegner einer Friedenslösung wetteifern darum, der zukünftigen US-Regierung ihre Agenda aufzwingen, oder zumindest deutlich zu machen, welche Trümpfe sie in der Hand halten.
Auf der einen Seite wittert das Friedenslager Morgenluft und hat mit der als Weltsicherheitsrats-Resolution 1850 verabschiedeten gemeinsamen amerikanisch-russischen Vorlage einen wichtigen Punktsieg erzielt. Der Beschluss beruft sich auf alle vorangegangenen Resolutionen und Stationen des Friedensprozesses - Annapolis, das Nahostquartett, die Roadmap, die arabische Friedensinitiative - und sieht eine Sitzung des Nahostquartetts in Moskau innerhalb von zwei bis drei Monaten vor. Dort soll dann der Eintritt in Verhandlungen über eine dauerhafte Lösung des Konflikts und die Errichtung eines palästinensischen Staates erfolgen. Zur gleichen Zeit schienen die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und Syrien an Dynamik gewonnen zu haben, direkte Verhandlungen in greifbarer Nähe. So groß war der Optimismus in regionalen und internationalen Kreisen, dass der israelische Oppositionsführer Benjamin Netanyahu bei einem Besuch in Frankreich um Aufschub bat, aus Sorge, seine innenpolitischen Rivalen könnten noch rechtzeitig zu den israelischen Parlamentswahlen einen entscheidenden außenpolitischen Durchbruch erzielen. Der zurückgetretene Ministerpräsident Olmert wiederum ersuchte offiziell um Dispens von dem gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren, um Israel möglicherweise noch vor den Wahlen im Februar bei Verhandlungen mit Syrien vertreten zu können.
Iran versus Ägypten
Die Ablehnungsfront, zunehmend nervös über diese Entwicklungen, blieb ebenfalls nicht untätig. Seit knapp zwei Monaten führt Iran eine politische Kampagne gegen Saudi-Arabien und Ägypten und schoss sich schließlich auf Ägypten ein und dessen Entscheidung, den Grenzübergang in Rafah zu schließen. Die Beziehungen zwischen Ägypten und Hamas wiederum erreichten einen Tiefpunkt, nachdem Hamas den ägyptischen Versuch sabotiert hatte, der gescheiterten „Regierung der nationalen Einheit“ auf einer Konferenz mit allen palästinensischen Fraktionen am 10. November 2008 in Kairo neues Leben einzuhauchen. Als Vorbedingung für solche Verhandlungen forderte Hamas die Freilassung aller von der Autonomiebehörde festgehaltenen Kader der Hamas - eine Forderung, der Ramallah nicht nachkam und die auch die ägyptischen Vermittler als nebensächlich erachteten.
Inmitten der wechselseitigen verbalen Attacken zwischen Hamas und Iran auf der einen und Ägypten und der Autonomiebehörde auf der anderen Seite verkündeten Hamas und die mit ihr verbündeten Organisationen wie der Islamische Jihad das Ende der seit sechs Monaten andauernden, durch Ägypten vermittelten Feuerpause mit Israel. Die Begründung: Fortdauer der Abschnürung des Gaza-Streifens, fortdauernde israelische Verletzungen der Waffenruhe. Schnell stimmten weitere Stimmen in diesen Chor ein, und am lautesten tönte der Führer der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah: Schluss mit dem Friedensprozess, der nur zu Kapitulation und weiterer Zerstörung führe, Ägypten müsse die Grenze öffnen und die Blockade aufheben, wenn es sich nicht der Komplizenschaft schuldig machen wolle.
Ende der Friedensrhetorik
Und so schlugen am 19. Dezember die ersten Qassam-Raketen im Süden Israels ein, gefolgt von Raketen vom Typ Grad. Und ohne jede Vorwarnung – gemessen an der Friedensrhetorik, der sich die israelische Seite in den vergangenen Monaten befleißigt hatte - erklärte der engere Kabinettskreis in Israel (der zurückgetretene Ministerpräsident, der Verteidigungsminister und die Außenministerin) Gaza den Krieg. Nahezu dreihundert Menschen starben bereits am ersten Tag durch israelische Luftangriffe.
Die Motive der Hamas und der politischen Achse, der sie angehört, sind also leicht zu erkennen. Erste Erfolge haben sich bereits eingestellt. „Frieden“ ist unter der Masse der arabischen Bevölkerung schon jetzt wieder ein schmutziges Wort. In Jordanien hat der Druck der Straße bereits dazu geführt, dass Parlament und Regierung den Friedensvertrag mit Israel zur Diskussion stellen. Syrien schließlich wird ganz sicher vorerst keine indirekten Verhandlungen mehr mit Israel führen - schon allein deshalb, weil die türkischen Vermittler ihr Mandat aus Protest gegen die Ereignisse in Gaza niedergelegt haben.
Was dagegen völlig unverständlich bleibt ist, warum Israel sich genötigt sah, einen solch erbarmungslosen Krieg gegen Gaza zu entfesseln - wirklich nur wegen der Qassam-Raketen, die bis Dezember kaum einmal ernsthaften Schaden in Israel anrichteten? Wo doch nahezu alle israelischen Politiker auf eine umfassende Lösung im Rahmen der arabischen Friedensinitiative setzen - Frieden mit den Syrern, den Palästinensern und dann auch allen anderen Arabern?
Israel: Wahlkampf und Interessen des Militärs
Manche Stimmen sehen den Grund in den bevorstehenden Wahlen in Israel und den schlechten Umfragewerten der Regierungsparteien Kadima und Arbeitspartei, die einen Wahlsieg des Likud und der anderen Rechtsparteien möglich erscheinen lassen. Eine erfolgreiche Militärkampagne könnte Tzipi Livni und Ehud Barak Auftrieb verschaffen. Andere Lesarten verweisen auf das Bedürfnis der israelischen Armee, ihr seit 2006 angeschlagenes Selbstbewusstsein zu restaurieren. Nach zwei Jahren intensiven Trainings wolle diese Armee sich nun wieder Respekt verschaffen. Gaza bietet sich dazu nicht nur wegen der relativen militärischen Schwäche der Hamas an, sondern auch, weil ihre Herrschaft dort keinerlei internationale Legitimität genießt und niemand besonderen Wert auf ihre Fortdauer legt. Zudem spielt sich die gesamte Operation auf einem überschaubaren und eingefriedeten Schlachtfeld ab. Sollte Hisbollah Hamas zur Hilfe eilen, wie schon 2006 geschehen, eröffnet das die Möglichkeit zu einem verheerenden Schlag gegen den Libanon. Ansonsten wird die Präzision und Härte der Schläge Syrien, Hisbollah und Iran ausreichend einschüchtern und aus Hamas mithin ein isolierter, geschwächter Gegner, der die Auseinandersetzung nicht lange durchhalten kann.
Aber alle diese Überlegungen erscheinen wenig überzeugend, oder jedenfalls nicht ausreichend. Zum einen schwächt der Krieg in Gaza Befürworter einer Friedenslösung auf beiden Seiten: Wenn die Abschreckungskraft der israelischen Armee erst einmal wieder hergestellt ist, werden rechte Hardliner an Einfluss gewinnen, die keinen Grund für Zugeständnisse (bezüglich der Mauer in der Westbank, der Siedlungen, Jerusalem, auf dem Golan) sehen. Unter den arabischen Eliten (die Massen wollen ohnehin keinen Frieden mit Israel) dagegen wird der Eindruck zunehmen, dass es sich kaum lohnt, einen Frieden anzustreben, dessen Kosten höher sind als die eines Krieges. Mit anderen Worten, die „Tauben“ in Israel – die sich innerhalb kürzester Zeit von ihrer strategischen Entscheidung für den Frieden anwenden konnten - werden auf absehbare Zeit keinen Partner auf der arabischen Seite finden.
Zum zweiten sind die Israelis, deren Armee, Geheimdienste und Forschungseinrichtungen die islamistischen Bewegungen seit zwei Jahrzehnten intensiv studieren, die ersten, die wissen sollten dass sich diese Leute durch Niederlagen nicht von „Jihad“ und „Märtyrertum“ abbringen lassen. Das sagen die Führer von Hamas, das sagt Nasrallah. Wirklich getroffen werden stets nur die Zivilisten, die sich daraufhin nur noch mehr den Islamisten zuwenden, in denen sie den einzigen glaubwürdigen Widerstand gegen Israel erblicken.
Andere Prioritäten in den USA
Drittens: der israelische Krieg gegen Gaza wird die USA und die internationale Gemeinschaft nur noch mehr davon abschrecken, sich ernsthaft um eine Friedenslösung zu bemühen. Amerikanische Präsidenten fangen ohnehin meist erst zum Ende ihrer Amtszeit an, sich für diese Angelegenheit zu interessieren - wie soll das jetzt aussehen, inmitten der globalen Finanzkrise, der Probleme auf dem indischen Subkontinent, dem iranischen Nuklearprogramm?
Viertens: selbst wenn es gelingen sollte, Hamas vorläufig zurückzudrängen, wird das Mahmud Abbas - dessen Amtszeit nahezu abgelaufen ist - genauso wenig stärken, wie seine Bereitschaft, sich auf Abenteuer einzulassen, für die es angesichts des israelischen Triumphalismus keinerlei Basis gibt.
All das bedeutet nicht zwingend, dass der Friedensprozess endgültig am Ende ist - diejenigen Kräfte, die hinter der Weltsicherheitsratsresolution 1850 stehen, werden weiter in diese Richtung drängen. Aber das Ausmaß der Gewalt, das Ausmaß des Blutvergießens werden für die nahe Zukunft kaum mehr erlauben, als einen Waffenstillstand in Verbindung mit der Stationierung von Truppen zur Grenzsicherung - eine fragile Zwischenlösung, die nicht einmal zu einer angespannten Ruhe führen kann, wie sie seit 2006 im Südlibanon herrscht.
Ridwan As-Sayyed ist Professor für Islamic Studies an der Lebanese University und Mitarbeiter zahlreicher führender arabischer Zeitungen.
Der Artikel erschien zuerst am 6. Januar 2009 in der arabischen Tageszeitung Al-Hayat. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Dar Al-Hayat, übersetzt aus dem Arabischen von Heiko Wimmen.