Das Prinzip der Abschreckung in Zeiten asymmetrischer Bedrohungen: Welche Rolle spielen Atomwaffen in der Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts? ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zur Außen- und Sicherheitspolitik.
Was die Frage betrifft, ob eine weitere Verbreitung von Atomwaffen verhindert werden kann, wenn die bestehenden Atommächte ihre Atomwaffen weiterhin zur Abschreckung nutzen, wird diese heute häufig mit nein beantwortet. Unabhängig davon, wie gut begründet diese Antwort ist, müssen wir uns vor Argumenten hüten, dass eine Verringerung oder Abschaffung der amerikanischen und russischen Atomwaffenarsenale notwendigerweise die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen befördern würde. Es lässt sich anbringen, dass, wenn sich mehr und mehr Länder auf Atomwaffen zur Absicherung ihrer Sicherheit verlassen, und vorhandene Arsenale vergrößert werden, um wachsenden Ansprüchen zu genügen, es schwierig wird, Staaten, die bisher nicht über Atomwaffen verfügen, davon abzuhalten, ein größeres Interesse an ihrer Erlangung zu entwickeln. In diesem Fall könnten die bestehenden Atommächte versuchen, die Weiterverbreitung von Atomwaffen dadurch einzudämmen, dass sie – wie die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten dies in den fünfziger Jahren taten – ihre vorhandenen Atomwaffen mit anderen teilen oder verstärkt in anderen Ländern stationieren. Die treibende Kraft einer solchen Vorgehensweise wäre fast ausschließlich die Symbolik (anstelle von technischen oder militärischen Anforderungen). Eine solche gemeinsame Nutzung würde die Nachfrage nach weiteren Atomwaffen jedoch wahrscheinlich nicht verringern – bzw. im Gegenteil vielleicht sogar vergrößern.
Wenn Russland und die Vereinigten Staaten ihre Arsenale hingegen auf tausend oder gar fünfhundert Atomwaffen verringern würden, und China, Indien, Pakistan und Israel ihrerseits die ihren auf einige hundert Waffen ausbauten, könnte innerhalb eines Jahrzehnts ein Punkt erreicht werden, an dem keine der Atommächte als dominant aufgefasst würde. Unter diesen Gegebenheiten würden die Allianzen zwischen Staaten, die über Atomwaffen verfügen, und solchen, die dies nicht tun, auf ungekannte Proben gestellt. In einer Welt, in der sämtliche Atommächte mit je einigen hundert Atomwaffen über ein ähnlich großes Arsenal verfügten, könnte der Anreiz für andere Staaten, Atomwaffen zu erwerben, um auf diese Weise in Gemeinschaft mit einer der bestehenden Atommächte das Gewicht zu ihren Gunsten zu verschieben, sehr groß werden. Darüber hinaus könnten sich atomwaffenbesitzende Länder bemüßigt sehen, die eigene Produktion zu erhöhen, um mit den anderen Atommächte gleichzuziehen oder ihnen voraus zu sein. In einer derart instabilen Welt könnte der Anlass für militärische Rivalitäten, einen Krieg oder gar den Einsatz von Atomwaffen weitaus geringer sein, als dies historisch der Fall gewesen ist. Anstelle von nuklearen Krisen aufgrund von Raketenstationierungen auf Kuba oder Kriegen im Nahen Osten könnte dann bereits – vergleichbar mit dem Ersten Weltkrieg – die Kugel eines Attentäters ausreichen, um die Welt an den Rande der oder gar in die Katastrophe zu treiben. Dies alles macht deutlich, dass die Art und Weise der Reduzierung von Atomwaffen sowie atomwaffenfähiger Materialien und entsprechender Produktionseinrichtungen mindestens so wichtig ist wie die Reduzierung an sich.
Bieten Raketenabwehrsysteme eine Alternative für die Zukunft?
Wie jede defensive Militärtechnologie können Raketenabwehrsysteme dazu genutzt werden, die Gesamtkapazität der Streitkräfte zu erhöhen. Einige ziehen daraus die Berechtigung, Raketenabwehrsysteme als „provokativ“ zu verurteilen. In einigen Fällen – d. h., wenn die Systeme nicht sonderlich wirksam, wesentlich teurer als die Raketen, gegen die sie eingesetzt werden, und leicht zu überwältigen sind – kann ihr Einsatz einen Gegner dazu bewegen, sein offensives Waffenarsenal auszubauen. Sind die Abwehrsysteme jedoch relativ effektiv gegen die Waffen, gegen die sie dienen sollen, und ist die Zahl dieser Waffen durch Rüstungsbeschränkungsabkommen oder andere Einschränkungen begrenzt, können derartige Systeme dabei helfen, Staaten davon abzubringen, nukleare Drohungen als Mittel zur „Sicherung des Friedens“ einzusetzen.
Auf welche Weise können die Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags bei der Stange gehalten werden?
Die kurze Antwort lautet: Durch die allen gemeinsame Furcht vor der Entwicklung, die die Welt nehmen könnte, wenn alle Länder ihr Recht auf Verteidigungsmaßnahmen durch die Anschaffung von Atomwaffen umzusetzen. Welche Unsicherheitsfaktoren für den Frieden es bei Existenz von neun Atommächten auch geben mag – eine Steigerung ihrer Anzahl auf zehn, fünfzehn oder gar vierzig würde die Situation kaum verbessern. Dies ist in gewissem Maße allen Ländern – denen mit und denen ohne Kernwaffen – bewusst, und dieses Bewusstsein bildete die Grundlage für die ursprüngliche Irische Resolution aus dem Jahr 1958, die letztlich in den Atomwaffensperrvertrag mündete. Es handelt sich um das gleiche zentrale Argument, das auch 1995 zum Tragen kam, um zögernde Staaten zu einer zeitlich unbeschränkten Verlängerung des Vertrags zu bewegen. Wenn der Vertrag auch weder ein eindeutig formuliertes Recht auf den Erwerb, noch eine Pflicht zum Teilen einer spezifischen Nukleartechnik enthält, so weckte der Vertragstext doch die allgemeine Erwartung, dass die Vorzüge der Atomkraft allen zugute kommen würden und dieser gemeinsame Nutzen für die Entwicklung aller Länder von kritischer Bedeutung sein würde. Vier Jahrzehnte nach Unterzeichnung des Vertrags haben die hohen Kosten und der enttäuschende wirtschaftliche Nutzen der Atomkraft diese Annahme jedoch in Zweifel gezogen. All dies hat, in Kombination mit den Weiterverbreitungsrisiken, die sich aus der Ausweitung bedeutender Atomprogramme auf zusätzliche Staaten ergeben, zu einem bedeutenden Dilemma geführt.
Eine vernünftige Lösung wäre es, wenn die am weitesten entwickelten Nationen der Welt mit den weniger entwickelten Staaten bei der wirtschaftlichen Optimierung anderer Energieformen zusammenarbeiteten. Die Förderung dieser Alternativen liegt auch unter Umweltgesichtspunkten im Interesse aller. Da große Atomreaktoren immer auch ein erster Schritt auf dem Weg zur Atombombe sind, wäre dies auch aus der Nichtweiterverbreitungsperspektive zu begrüßen. Gerade weil weniger entwickelte Länder nicht so fest an zentralisierte, nationale Stromnetze gebunden sind und ihnen die Mittel zur Errichtung einer großen Zahl von Kraftwerken zur Abdeckung hoher Grundlasten fehlen, stellen sie ideale Prüfstände für alternative Stromerzeugungs- und -verteilungskonzepte dar – Ideen, die sich (vergleichbar mit dezentralen Mobilfunksystemen im Gegensatz zu auf Kupferleitungen beruhenden Festnetzen) sehr wohl den in den Industrieländern traditionell verwendeten Lösungen als technisch und wirtschaftlich überlegen herausstellen können. Hingegen sind Versuche, die nicht über Atomwaffen verfügenden Staaten mit der Überlassung unrentabler und gefährlicher Kerntechnik zur zivilen Nutzung, die diese dennoch einer eigenen Atombombe näher bringt, ruhig zu stellen, die sicherste Vorgehensweise, den Atomwaffensperrvertrag ad absurdum zu führen. Das Angebot günstiger Kredite für große Reaktorprojekte, kostenloser oder -günstiger Atomkraftschulungen, verbilligter Kernbrennstoffe oder Unterstützung bei Anpassung oder Vorbereitung des Stromnetzes für die Aufnahme der von Atomreaktoren erzeugten Leistung wäre demnach schlimmer, als gar nichts zu tun.
Atomenergie und Atomwaffen – eine unauflösliche Mesalliance?
Wie kann der empfundene Gegensatz zwischen der Sorge vor nuklearer Anarchie zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren – wie Terrornetzwerken – einerseits und dem lauter werdenden Ruf nach verstärkter ziviler Nutzung der Atomenergie andererseits gelöst werden?
Wenn wir Glück haben, wird ein Kostenvergleich neuer Atomenergieprogramme mit ihren Alternativen einen Ausweg aufzeigen. Wenn es mehr kostet, das Frühstücksei zu kochen und unsere Einsparziele von Kohlendioxidemissionen zu erreichen, indem neue Atomkraftwerke errichtet werden, als dies durch Investitionen in andere Energieformen der Fall ist, sollte sich das Dilemma zwischen den Sicherheitsrisiken der Atomenergienutzung und ihren angeblichen Vorteilen in Wohlgefallen auflösen. Wenn jedoch wohlhabende Staaten vorgeben, Subventionen spezifisch für die Förderung der Errichtung neuer Atomkraftwerke schaffen zu müssen, ist unklar, wie dieselben Staaten eine Unterbindung nuklearer Bestrebungen in den besorgniserregendsten Weltgegenden begründen und durchsetzen wollen. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die korrekte Durchsetzung der bestehenden Regeln noch den besten Schutz biete. Historisch begründen lässt sich dieser Optimismus allerdings weniger. Die internationalen Anstrengungen, eine Weiterverbreitung von Atomwaffen zu unterbinden, konnten gefährliche Entwicklungen im Irak, in Algerien, Südafrika, Nordkorea, im Iran, in Indien, Pakistan und Israel nicht verhindern. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass neue Regeln zu Inspektionen und weitere Anstrengungen, Länder von der Herstellung von Kernbrennstoffen abzuhalten, die Entwicklung neuer Atomwaffenoptionen in Zukunft wirklich stoppen können. (Eine größere Offenheit der Internationalen Atomenergieorganisation über die Beschränkungen dessen, was Inspektionen tatsächlich leisten können, wäre dringend erforderlich.) Daraus lässt sich schließen, dass, falls Atomenergie wirklich die wirtschaftlichste Energieform sein sollte bzw. reiche Länder ihr Wiederaufleben ungeachtet ihrer Wirtschaftlichkeit subventionieren, sich Atomwaffentechnik noch schneller verbreiten wird, als dies ohnehin der Fall ist.
Nichts davon ist jedoch unvermeidbar. Die Menge an Atomenergie, die 2007 weltweit produziert wurde, sank im Vergleich zum Vorjahr um zwei Prozent. Die geschätzten Kosten für die Errichtung neuer Atomkraftwerke sind soviel höher als die Alternativen, dass keine private Bank an einer Investition interessiert ist. Adam Smiths „unsichtbare Hand“ ist in der Tat schon seit einiger Zeit nicht mehr für die Weiterverbreitung aktiv – und es wäre sinnvoll, wenn wir aufhörten, sie zu bekämpfen. Das heißt konkret, dass wir alle energie- und länderneutralen Regulierungsmöglichkeiten ausschöpfen sollten um sicherzustellen, dass nur die wirtschaftlichsten Energieerzeugungsmethoden eingesetzt werden. Dazu müssten die Staaten sämtliche Kosten aller Energieoptionen quantifizieren und sich hinsichtlich ihrer Auswahl mehr auf Marktmechanismen verlassen. Darüber hinaus wäre es hilfreich, wenn keine weiteren Atomenergiesubventionen geschaffen würden bzw. neue energiespezifische finanzielle Anreize generell vermieden würden. Wenn Staaten sich entgegen wirtschaftlicher Erwägungen dennoch für Atomenergie entscheiden, sollte die internationale Gemeinschaft es auf sich nehmen: 1. Staaten daran zu hindern, unnötig Zeit und finanzielle Mittel auf Technologien aufzuwenden, die eine geringere Reduktion der CO2-Emmissionen ermöglichen, als dies mit alternativen Technologien der Fall wäre (ein Anliegen, das den Schwerpunkt in einem Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll bilden sollte); 2. zu verhindern, dass Staaten die Möglichkeit eines fairen, offenen, internationalen Bieterverfahrens für große Energieprojekte (wie es bereits im Vertrag über die Energiecharta und der Welt-Energiecharta für nachhaltige Entwicklung gefordert wird) unterbinden; und 3. die weitere Verbreitung von atomwaffenfähigen Materialien an Länder, die nicht bereits über Atomwaffen verfügen, zu blockieren (was das Grundanliegen des Atomwaffensperrvertrags darstellt).
Warum wollen weitere Länder, wie zum Beispiel Brasilien, jetzt in die Atomenergie einsteigen? Geht es ihnen wirklich um den Klimawandel?
Ich bin kein Brasilienexperte. Meine wenigen Begegnungen mit gegenwärtigen und früheren hohen brasilianischen Regierungsbeamten legen jedoch nahe, dass Atomenergie und die Herstellung von Kernbrennstoffen dort seit langem ein Herzenswunsch nicht nur der wissenschaftlichen Elite, sondern auch des Militärs ist.
Wie schätzen Sie die aktuellen Vorschläge zur Sicherung des Kernbrennstoffkreislaufs ein? Wie können Rolle und Einfluss der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) gestärkt werden?
Die Vorschläge, Kernbrennstoffe zu aktuellen Marktpreisen anzubieten, werden die weitere Proliferation kaum verhindern, aber auch die gegenwärtigen Proliferationstrends wohl nicht verstärken. Die angeblichen Vorzüge so gut wie aller gegenwärtigen multilateralen Vorschläge zum Umgang mit dem Kernbrennstoffkreislauf im Hinblick auf die Nichtweiterverbreitung von atomwaffenfähigen Materialien erscheinen mir überzogen. Zum einen beziehen sie sich nur auf schwach angereichertes Uranhexafluoridgas (UF6 LEU); ein Rohstoff, den Staaten, die ihre Verpflichtungen gemäß dem Atomwaffensperrvertrag und den IAEO-Regeln erfüllen, ohnehin schon relativ problemlos beziehen können. Zum anderen verschafft keines der vorgeschlagenen Programme diesen Ländern, was sie wirklich brauchen und derzeit nur von den Herstellern von Kernbrennstoffen erhalten können – qualitätsgeprüfte Brennelemente, die mit ihren spezifischen Reaktoren kompatibel sind. Daher ist unklar, wie viel Nachfrage nach der Umsetzung dieser Vorschläge es überhaupt geben wird. Um diese Projekte in Gang zu bringen, wird daher eine erhebliche Versuchung bestehen, Schwellenländern UF6 LEU zu ermäßigten Preisen anzubieten, um ihr Interesse anzuheizen. Ein solches Angebot wäre jedoch nur eine weitere staatliche Subvention zu Lasten anderer Energieformen und somit, wie bereits erwähnt, ein Fehler.
Hinsichtlich der IAEO wäre die mit Abstand wichtigste Maßnahme, die Wien ergreifen könnte, um die positive Wirkung der IAEO für die Nichtweiterverbreitung zu verstärken, eine Klarstellung dessen, was die Inspektionen der Behörde leisten können, um mögliche militärische Nutzungen nuklearer Materialien zuverlässig und rechtzeitig aufzudecken. Derzeit tut die IAEO so, als ob sie ihre technischen Sicherheitsziele für die Herstellung von Kernbrennstoffen erreichen könnte, obwohl dies nicht der Fall ist; als ob sie den Missbrauch sämtlicher neuer oder verbrauchter Kernbrennstoffe, die unter ihr Mandat fallen, feststellen könnte, obwohl auch dies nicht so ist; und als ob sie Einrichtungen und Materialien in nicht kooperationswilligen Staaten sichern sowie geheimgehaltene Einrichtungen und Materialien aufspüren könnte, woran sie wiederholt gescheitert ist. Statt vorzugeben, dass diese Sicherheitslücken nicht existieren, müssen die IAEO und ihre wichtigsten Mitgliedsstaaten klarstellen, welche Einschränkungen die Gesetze der Physik hinsichtlich der Aufdeckung des Missbrauchs nuklearer Materialien setzen, wo zusätzliche finanzielle Mittel und Zuständigkeiten es der IAEO ermöglichen würden, ihre Sicherheitsziele zu erreichen, und auch, wo mit allem Geld und gutem Willen der Welt nichts zu machen ist. Eine derartige Offenheit würde deutlich machen, wie risikobehaftet bestimmte Formen der „friedlichen“ Atomenergienutzung tatsächlich sind. Dies wäre unermesslich hilfreich dabei aufzuzeigen, welche Gefahren mit groß angelegten Atomenergieprojekten in Staaten, die nicht über Atomwaffen verfügen, verbunden sind – insbesondere in den gefährlichen Regionen der Welt.
Welche Lehren lassen sich aus dem Beispiel des Iran ziehen, der ja immerhin behauptet, die Kernenergie nur zu friedlichen Zwecken nutzen zu wollen?
Staaten sollten nicht in dem Glauben bestärkt werden, sie hätten per se ein Recht darauf, mit großen Reaktoren und Produktionsstätten für Kernbrennstoffe bis dicht an die Grenze zur Herstellung einer Bombe vorzudringen, wenn diese Aktivitäten nicht in einer Art und Weise überwacht werden können, die einen militärischen Missbrauch umgehend und zuverlässig aufdecken würden – insbesondere nicht bei einem Land wie Iran, dessen riesige Erdgasverkommen es auf Jahrzehnte hinaus unwirtschaftlich machen, stattdessen auf Atomenergie zu setzen.
Henry Sokolski ist Direktor des Nonproliferation Policy Education Center in Washington D.C. (USA)