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Soziale Mobilität in Deutschland: Aufstieg und Gleichheit - die neue soziale Frage?

22. September 2010
Von Stephan Ertner
Es ist sicher kein Zufall, dass sich im Schatten der Finanzmarkt und Wirtschaftskrise, die seit dem Sommer 2008 die Nachrichten bestimmen, eine neue Debatte um die Zukunft des Sozialen andeutet. Dabei gewinnen derzeit zwei Denkansätze an Zulauf, die auf den ersten Blick geradezu unvereinbar zu sein scheinen. Da ist zum einen eine neue Egalitarismusdebatte, die zuletzt durch das Buch «The Spirit Level» der britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett befeuert wurde. Ihre These lautet, dass Einkommensungleichheit nicht nur für die Armen nachteilig ist, sondern der gesamten Gesellschaft, also auch den Reichen, schadet. Im internationalen Vergleich zeigen sie, dass nicht etwa ärmere Gesellschaften schlechter abschneiden als reichere, sondern «gleichere» Gesellschaften durchweg besser fahren als solche, in denen sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Fettsucht, Kriminalität usw. – die Liste ist lang, die Ergebnisse sind verblüffend eindeutig: Japan und die skandinavischen Länder stehen durchweg gut da, die USA, das Vereinigte Königreich und Portugal landen in jeder Hinsicht auf den letzten Plätzen. Die Befunde sind nach Ansicht der Autoren sozialpsychologisch zu erklären. Wer nur mit Mühe gesellschaftliche Anerkennung erlangen kann oder um seinen Status bangen muss, steht unter großem Stress. Der macht krank, unglücklich und verkürzt das Leben. Politisch müsse es also darum gehen, Einkommensungleichheit zu reduzieren. Schon kleine Fortschritte würden hier größere Wohlfahrtgewinne erzeugen als das «Herumdoktern» an den einzelnen Symptomen.

In Großbritannien hat « The Spirit Level » kontroverse Debatten ausgelöst, die nun auf den Kontinent herüberschwappen. Weniger auf materiellen Ausgleich als auf die Gleichheit der Chancen bezieht sich ein zweiter Debattenstrang. Er kreist um die Figur des sozialen Aufstiegs. Das große Versprechen, dass jede und jeder durch eigene Anstrengungen vorankommen könne, würde heute nicht mehr eingelöst. So glaubt laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008 die Mehrheit der Deutschen, dass man eher durch Beziehungen reich werde als durch Begabungen oder harte Arbeit. Die Gesellschaft sei blockiert, der soziale Fahrstuhl würde klemmen. Eliten und Unterschicht reproduzierten sich zunehmend selbst. Gefordert wird eine neue Politik der sozialen Durchlässigkeit, die faire Aufstiegschancen ermöglicht und strukturell Blockaden – etwa durch Diskriminierung und herkunftsbedingte Benachteiligung – auflöst.

Was haben die beiden Diskussionsstränge gemein? Die Egalitarismusdebatte legt die Eindämmung wettbewerblicher Strukturen und den sozialen Ausgleich nahe; das Leitmotiv einer sozial mobilen Gesellschaft verweist auf Aspirationen und Anstrengungen von Individuen und damit auf Leistungsorientierung. Unvereinbar sind die Perspektiven deshalb nicht. Richtig ist zunächst, dass Aufstiege in Gesellschaften mit größerer Gleichheit besser funktionieren als in ungleichen. Intuitiv nachvollziehbar ist auch, dass materielle Voraussetzungen die individuellen Chancen auf den sozialen Aufstieg stark beeinflussen.

Welche Lehren kann man also aus der Zusammenschau der beiden Debatten ziehen? Prinzipiell bieten sich zwei Stellschrauben für die gesellschaftliche Reform an: zum einen die Verringerung der gesellschaftlichen Ungleichheit durch Maßnahmen wie Umverteilung und Mindestlöhne, zum anderen die Schwächung des Zusammenhangs von materieller Ungleichheit und individueller Zukunftschancen. Hier spielt eine starke öffentliche Infrastruktur eine überragende Rolle, etwa gute Kinderbetreuungseinrichtungen und gute Schulen, die ungleiche familiäre Startbedingungen ausgleichen könnten.

Vor allem bedarf es einer Neubetrachtung des Leistungsprinzips, denn dieses wird derzeit in gleich mehrfacher Weise ausgehöhlt. In der öffentlichen Diskussion dient der Rekurs auf Leistung häufig gerade nicht der Schaffung gleicher Chancen, sondern im Gegenteil der Statussicherung bereits Aufgestiegener. Das Stichwort lautet: « Mehr Netto vom Brutto ». Damit hängt zusammen, dass oft zur Leistung erklärt wird, was eigentlich wirtschaftlicher Erfolg ist, beides darf nicht immer gleichgesetzt werden. So bestimmen sich Managerboni nach Angebot und Nachfrage auf Märkten und nicht durch persönliche Anstrengung. Werden sie dennoch leistungsadäquat gerechtfertigt, verstößt das im Vergleich zum Einkommen von Arbeitnehmern gegen Gerechtigkeitsvorstellungen. Problematisch ist drittens eine Art «Kolonialisierung» von Lebensbereichen mit Leistungsansprüchen, die zuvor anderen Prinzipien folgten. Wenn Gesundheit zur individuellen Leistung erklärt wird oder der eigene Arbeitsplatz der Leistungsrechnung unterworfen wird, verliert das Leistungsprinzip dort seine Legitimität und Wirksamkeit, wo der individuelle Einfluss auf die Verhältnisse begrenzt ist.

Das Versprechen, unabhängig vom Zufall der Herkunft durch eigene Leistung in der Gesellschaft vorankommen zu können, besitzt eine überragende Bedeutung für die Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung und für die Vorstellung persönlicher Autonomie. Leistungsgerechtigkeit muss als soziale Norm gestärkt werden, um ständische Ordnungen zurückzudrängen und echte Chancengerechtigkeit herzustellen. Wilkinson und Pickett weisen jedoch darauf hin, dass es Grenzen der Leistungsorientierung geben muss in einer Gesellschaft, die ungleich ist und zwangsläufig ungleiche Startbedingungen bietet.

Ein Gleichgewicht muss gefunden werden zwischen Leistung, die sich lohnt, und Sicherheit, die nicht erst erworben werden muss.

Böll.Thema 3/2010: Sozialer Aufstieg

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