

In Beirut gehen die Menschen auf die Barrikaden, sie rufen „Weg mit der Regierung“ und „Thaura“ - Revolution. Einige treten in den Hungerstreik, andere werfen Steine. Die Polizei reagiert mit Tränengas und Verhaftungen. Die Regierung sieht sich dennoch nicht im Zugzwang.
Seit nunmehr drei Monaten protestieren die Libanes/innen gegen eine Müllentsorgungskrise und einen Gestank, der einfach nicht aufhören will. „You stink“ heißt die Kampagne, die eine Gruppe junger Aktivist/innen im Libanon ins Leben gerufen hat. Sie richtet sich nicht allein gegen die bestialischen Gerüche des in den Straßen dahinvegetierenden Mülls, sondern auch gegen ein anrüchiges politisches System, das vor Korruption nur so strotzt.
Die Müllkrise ist ein Symptom der Regierungskrise, die das Land seit Jahren heimsucht. Seit im Juli 2015 endgültig der Vertrag für die längst überfüllte größte Mülldeponie ausgelaufen ist, kann man das Versagen der politischen Spitze nicht mehr übersehen.
Die Müllberge in den Straßen und der Gestank, der von ihnen ausgeht, reiben den Libanes/innen das Unvermögen der Regierung wortwörtlich unter die Nase: Die verschiedenen Fraktionen sind zerstritten, das Parlament verlängerte sich 2014 selbst die Amtszeit, und die im gleichen Jahr angesetzten Präsidentschaftswahlen fanden nicht statt, sondern wurden in den vergangenen 16 Monaten immer wieder vertagt, da man sich nicht auf einen Präsidenten einigen kann.
Der Innenminister macht Party in Griechenland
In dem Staat ohne Staatsoberhaupt wollen die Menschen also längst mehr als ein funktionierendes Abfallmanagement. Die Liste der Anklagen gegen die politische Elite ist lang: Da wäre zum einen der amtierende Umweltminister Akram Chehayeb, dessen einzige Idee zu sein scheint, die im Juli geschlossene Mülldeponie wieder zu öffnen. Sie war 1990 vorübergehend errichtet worden und sollte eigentlich nur bis 2004 genutzt werden. Dass hier gefährliche Schadstoffe und Gase in das Grundwasser einsickern – und schlicht und einfach auch kein Platz mehr ist –, muss selbst Chehayeb eingestehen. Dennoch erwägt er keine andere Lösung, als neue Deponien auszuweisen.
Zum anderen ist da der Innenminister Nouhad Machnouk, der Gewalt gegen die Demonstrant/innen als einziges Kommunikationsmittel mit dem Volk versteht. Um seine Glaubwürdigkeit ist es endgültig geschehen, seit er am 22. August 2015 aus seinem Urlaub anordnete, den Protesten in Beiruts Innenstadt mit Tränengas und Wasserwerfern beizukommen. Währenddessen strahlten die Fernsehsender ein Video aus, das ihn in leichtbekleideter Gesellschaft auf Strandparties in Mykonos zeigte. Machnouk hielt es offenbar nicht für nötig, seinen Trip zu unterbrechen.
Auf Demonstrant/innen gerichtete Gummigeschosse, das in der Luft Rumfeuern mit scharfer Munition, die hohen Zahlen an Verletzten und Verhafteten tragen dazu bei, dass mittlerweile Tausende Demonstrant/innen den Rücktritt des Innenministers fordern. Die Liste geht weiter: Nehmen wir den Ministerpräsidenten Tamaam Salam, der „weil es noch keinen guten Vorschlag“ zur Lösung der Krise gäbe, die Kabinettssitzung erneut vertagen lässt.
Oder den Parlamentarier General Michel Aoun, der die Anti-Regierungs-Proteste nutzt, um sich als Alternative zu dem politischen Chaos zu inszenieren. Im Libanon muss das Staatsoberhaupt maronitischer Christ sein, und als Anführer der größten christlichen Partei, dem Free Patriotic Movement, sieht Aoun sich als den einzigen rechtmäßigen Präsidentschaftsanwärter an, der (wenn es nach ihm ginge) eigentlich nur noch vereidigt werden muss – wäre da nicht die Demokratie im Wege.
Aouns Sympathieverkündigungen mit den Protesten wirken umso absurder, wenn man seine Position bedenkt. Aoun, der selbst für das erneuerungsarme politische Establishment des Libanons bereits ein gesegnetes Alter erreicht hat und sich in einer Koalition mit der schiitischen Hisbollah befindet, ist ein Urgestein eben jener politischen Elite, gegen die die Demonstrant/innen wettern.
Politiker profitieren von aufgeschobenen Entscheidungen
Die Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit des ohnehin schon zerstrittenen Kabinetts tritt durch die aktuelle Krise besonders zutage und macht die Libanes/innen wütend. Denn die Auswirkungen auf die Umwelt sind immens und die Schadstoffe, die durch den in Flüsse und Wälder geschütteten Müll langsam ins Grundwasser einsickern, lassen sich nicht vertagen.
Im Libanon gründen sich daher ständig neue Bürger/innen-Kampagnen. “Akkar is not a Dump”- Akkar ist keine Müllkippe“ ist eine davon. Die Bürger/innen der strukturschwachen Kommune Akkar im Norden des Landes haben sich gegen die Pläne des Umweltministers vereinigt, eine Mülldeponie vor ihrer Haustüre einzurichten. Sie alle wollen endlich eine nachhaltige Lösung der Müllkrise – und dass die Politiker/innen zur Rechenschaft gezogen werden.
Doch die halten zusammen. Man sollte meinen, es sei auch in ihrem Interesse, wenn eine Lösung gefunden wird. Es entsteht der Verdacht, dass die Verantwortlichen aus der aktuellen Müllkrise Profit ziehen. So wurde etwa der Vertrag zwischen der nationalen Müllentsorgungsfirma Sukleen und der Regierung nie öffentlich präsentiert, und es mangelt an Transparenz.
Bekannt ist lediglich, dass Sukleen dem Staat 160 US-Dollar pro Tonne in Rechnung stellt. Das ist das Dreifache dessen, was im internationalen Vergleich für die Müllentsorgung anfällt. Aktivist/innen vermuten, dass die Politiker durch spezielle Vertragsklauseln selbst von dem Umsatz des Unternehmens profitieren, denn obwohl das Geschäft mit dem Müll so lukrativ ist, ist augenfällig, dass Sukleen nie Mitbewerber zu fürchten hatte, weil keine andere Firma sich um den Auftrag bewirbt.
Nase zu und durch?
Wer jetzt denkt, dass die Libanes/innen sich beschweren, aber selbst ideenlos daneben stehen, irrt. Viele der aktiven Gruppen schlagen konkrete Lösungen vor oder legen selbst Hand an. Privatpersonen haben begonnen, ihren Müll zu trennen und zu recyceln. Aktivist/innen fordern, den Gemeinden mehr Entscheidungshoheit einzuräumen und werben für die Vorteile des Recyclings.
Doch solange die politische Führungsriege Sitzungen zur Müllkrise vertagt und Aktivist/innen lieber wegsperrt als ihre Vorschläge anzuhören, werden die Proteste weitergehen.