Russische Justiz erhöht Druck auf Menschenrechtsorganisation Memorial

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Die beiden Hiobsbotschaften kamen kurz hintereinander: Erst erklärte das russische Justizministerium das Wissenschaftliche Informationszentrum von Memorial Petersburg (NITs) zum „ausländischen Agenten“. Das NITs erforscht den politischen Terror der sowjetischen Zeit und erstellt ein Verzeichnis der Grabstätten der Opfer. Drei Tage später beschuldigten Mitarbeiter des Ministeriums das Memorial-Menschenrechtszentrum in einem Schreiben, die Grundlagen der verfassungsrechtlichen Ordnung zu untergraben.

Solch einen schweren Vorwurf erhebt das Ministerium zum ersten Mal. Was er für Folgen haben wird, ist bisher unklar. Bedrohlich klingt er in jedem Fall. In einem persönlichen Brief, den wir hier übersetzt auf Deutsch dokumentieren, hat sich nun der Vorstand von Memorial, Arsenij Roginskij, an den russischen Justizminister Alexander Konowalow gewandt.

 

An den Justizminister der Russischen Föderation

Alexander Wladimirowitsch Konowalow

Sehr geehrter Herr Minister!

Die Handlungen Ihrer Beamten haben mich in Erstaunen und Fassungslosigkeit versetzt, und deshalb ich muss mich an Sie wenden.

Im Oktober dieses Jahres hat die Moskauer Hauptverwaltung des Justizministeriums der Russischen Föderation erneut die Tätigkeit des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL überprüft. Dieses Zentrum gehört zur Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge MEMORIAL, deren Vorstand zu leiten ich die Ehre habe.

Das Ergebnis der Prüfung (Protokoll vom 30. Oktober 2015, Ref. Nr. 77/03–47960) war im Wesentlichen die Forderung, Änderungen in die Gründungsunterlagen einzutragen, um diese der neuen Fassung des Zivilgesetzbuches anzupassen. Das war nichts Unerwartetes für uns. Wir hatten vor, den Beschluss über die Änderung der Gründungsunterlagen auf der nächsten Versammlung der Organisation zu fassen. Gegen andere Anmerkungen, die unsere Kollegen aus dem Zentrum für Menschenrechte bestreiten, wird eine ordnungsgemäße Beschwerde eingebracht.

Vor dem Hintergrund der Routinevermerke überrascht die Schlussfolgerung auf den Seiten 10-11 des Protokolls: "Durch ihre Tätigkeit unterwanderten die Mitglieder des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL die Grundlagen der Verfassungsordnung der Russischen Föderation, indem sie zum Machtumsturz aufriefen."

Zur Begründung dieser völlig abenteuerlichen Anschuldigung führen die Beamten des Justizministeriums Experteneinschätzungen und Expertenbewertungen an, die MEMORIAL öffentlich geäußert hat:

  • die Behauptung (29.08.2014), dass russische Militärs am bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine teilnehmen und dass die Handlungen Russlands gegen die Ukraine gemäß der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1974 als Aggression zu definieren sind;
  • das Nichteinverständnis (24.02.2014) mit dem Gerichtsurteil im Bolotnaja-Prozess (1), das MEMORIAL als ungerecht ansieht.

Insoweit sind die Beamten des Justizministeriums der Auffassung, dass kritische Äußerungen über Handlungen des Staates bzw. der Staatsorgane mit der "Unterwanderung der Grundlagen der Verfassungsordnung" und mit "Aufrufen zum Machtumsturz" gleichzusetzen sind.

Solche "Rechtslogik" erinnert nicht nur sehr an die Sowjetzeit, als das Andersdenken mit der Zerstörung der Grundlagen der Sowjetmacht gleichgesetzt wurde. Sogar noch mehr als das: Sie versetzt uns in jene Epoche zurück.

Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert das Recht auf Gedanken- und Wortfreiheit, das Recht auf Informationsbeschaffung und -weitergabe (Art. 29), das Recht auf Vereinigung (Art. 30). Meine Kollegen aus dem Zentrum für Menschenrechte von MEMORIAL nutzen ihre durch die Verfassung garantierten Rechte, wenn sie die infolge ihrer menschenrechtsschützenden Tätigkeit gesammelten Fakten und Experteneinschätzungen in der Öffentlichkeit bekannt machen. In dieser Hinsicht sind Formulierungen, mit denen die Beamten des Justizministeriums ihr Protokoll nach der Überprüfung des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL abgefasst haben, nichts anderes als der Versuch, die in der Verfassung verankerten Rechte und Freiheiten zu beschränken, was durch die Verfassung ausdrücklich verboten ist. Ob Ihre Beamten dies aus Unkenntnis oder mit böser Absicht tun, weiß ich nicht.

Darüber hinaus weist das Protokoll einige Fehlerhaftigkeit auf, was wohl durch die Eile oder durch die Befangenheit der Verfasser zu erklären ist. So werden zum Beispiel dem Zentrum für Menschenrechte von MEMORIAL Äußerungen einer anderen Organisation, der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL, zugeschrieben. Aber das sind natürlich Kleinigkeiten im Vergleich zu den oben angeführten politischen Formulierungen.

Sehr geehrter Herr Minister! Ich bitte Sie, das Protokoll der Überprüfung des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL vom 30.Oktober 2015 (mindestens den Teil des Protokolls, der absurde politische Anschuldigungen beinhaltet) aufzuheben und eine offizielle Nachprüfung anzuweisen um festzustellen, wie ein Dokument mit solchen Formulierungen verfasst werden konnte.

Solche Überprüfungen wie die des Zentrums für Menschenrechte von MEMORIAL schaden nicht nur den gesellschaftlichen Organisationen, gegen die sie gerichtet sind. Sie diskreditieren auch das Ministerium, das Sie leiten. Am allerwichtigsten: Sie rufen Misstrauen gegenüber der Verfassung hervor. Und das ist eine wahre Gefahr.

Hochachtungsvoll,

А. Roginskij

Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL

 

(1) Anmerkung der Redaktion: Die Bolotnaja-Prozesse wurden gegen oppositionelle Demonstranten geführt, die während einer Protestkundgebung in Moskau am 6. Mai 2012 an "Massenunruhen" und an "Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter" beteiligt gewesen sein sollen. Die Prozesse und ihre Schuldurteile gelten als politisch motiviert und als Mittel zur Einschüchterung der Opposition.