Seit 15 Jahren hat die Heinrich-Böll-Stiftung ein Büro in Polen. Irene Hahn-Fuhr und Gert Röhrborn erklären, warum die polnische Regierung trotz zahlreicher umstrittener Entscheidungen im eigenen Land unverändert populär ist.

In der Europäischen Union gibt es erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen, auch im Land selbst sind viele Maßnahmen der Regierung umstritten. Etwa die Justizreform, über die in diesen Tagen entschieden wird. Trotzdem ist die Regierungspartei PiS unverändert beliebt. Laut Umfragen unterstützen bis zu 47 Prozent der Polen ihren Kurs, Tendenz steigend. Wie kann das sein?
Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man sich den Führungsstil der PiS genauer ansehen. Denn der Kurs der polnischen Nationalkonservativen findet hauptsächlich nicht wegen, sondern trotz ihrer nationalistischen Töne breite Unterstützung. Vor allem dank ihrer sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen gelingt es der Regierung, Politik für viele Menschen wieder greifbar zu machen und ganz verschiedenen, eigentlich miteinander konkurrierenden sozialen Gruppen ein Gefühl von Würde zu vermitteln.
Zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl die Löhne seit dem EU-Beitritt deutlich gestiegen sind, ist das Lohnniveau in Polen noch immer vergleichsweise niedrig. Das Durchschnittseinkommen liegt bei rund 1000 Euro brutto, viele Beschäftigungsverhältnisse sind »flexibel«, in anderen Worten prekär. Bei Arbeitslosigkeit oder Invalidität ist der oder die Einzelne weitgehend auf sich allein gestellt. So beträgt das Arbeitslosengeld, das für maximal ein Jahr ausgezahlt wird, unabhängig vom zuvor erzielten Einkommen weniger als 50 Prozent des Mindesteinkommens. Scheinbar wider alle ökonomische Vernunft hat die PiS daher die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre zurückgenommen – ein unmissverständliches Signal an die Arbeitnehmer, dass sie deren Anliegen ernst nehmen will.
Das Programm "500+"
Die wichtigste Maßnahme der Regierung war unbestritten das Programm »500+« – die Einführung eines Kindergelds. Nicht nur hat sie die Kinderarmut damit deutlich reduziert, bei der Polen bislang in der EU mit über 20 Prozent zu den Schlusslichtern zählte. Sie hat darüber hinaus vielen Polen das Gefühl gegeben, dass der Staat endlich einen ansehnlichen Teil des gestiegenen Volksvermögens an breite gesellschaftliche Schichten transferiert.
Auch der über Jahre vernachlässigte soziale Wohnungsbau ist ein großes Thema. Die liberale Vorgängerregierung hatte de facto jene Mittelschichten bei der Kreditaufnahme unterstützt, die auch ohne staatliche Hilfe einen Wohnungskauf hätten realisieren können. Die PiS hat nun ein Wohnungsbauprogramm in Aussicht gestellt, mit dessen Hilfe günstige Mietwohnungen geschaffen werden sollen, die nach 20 Jahren in das Eigentum treuer Mieter übergehen können.
Für besonders großen Unmut hatten in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Fällen organisierten Betrugs auf Kosten der Allgemeinheit gesorgt. Am bekanntesten ist die sogenannte Warschauer Reprivatisierungsaffäre. Unter dem Label der »Wiedergutmachung« kommunistischer Enteignungen waren in der Hauptstadt Grundbesitz und Immobilien im Wert von Milliarden von Euro in die Hände Unberechtigter geraten. Hauptgeschädigte waren vor allem Mieter von Sozialwohnungen, die samt Immobilien »rückübertragen« und nicht selten auch gleich auf die Straße gesetzt wurden. Das Unvermögen der liberalen Stadtregierung nutzte die PiS: Das »Privatisierungsunrecht« wurde per Sondertribunal rückgängig gemacht – öffentlichkeitswirksam mit TV-Übertragung.
Nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik
Außerdem haben sich die Nationalkonservativen dem Kampf gegen sogenannte Mehrwertsteuerkarusselle verschrieben, ein Thema das auch die EU-Kommission beschäftigt. Es geht um Betrug, für Polen werden die jährlichen Verluste auf bis zu 12,5 Milliarden Euro geschätzt. Schon 2013 wollte der damalige Finanzminister Maßnahmen ergreifen, um den Betrug künftig zu verhindern. Er scheiterte aber am Druck der Finanz- und Steuerberaterbranche. Die PiS hingegen hat sich nicht beeindrucken lassen und hebt immer wieder Betrugskartelle aus.
Unabhängige Ökonomen schätzen diesbezügliche Mehreinnahmen auf 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Zwar erreicht der polnische Staat dadurch noch keinen ausgeglichenen Haushalt, aber Zahlen sind nicht alles. Wichtiger sind die demonstrative Handlungsbereitschaft des Staates sowie die Anklagen gegen vermeintlich oder tatsächlich korrupte Staatsangestellte. So lässt sich mancher auch von der umstrittenen Justizreform überzeugen, die die Unabhängigkeit der Richter einschränken würde.
Die PiS setzt also bis zu einem gewissen Punkt eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik um, die auch in anderen europäischen Ländern zahlreiche Anhänger hat. Sie holt damit manches nach, was in der Transformationsperiode versäumt oder verhindert wurde. Und die wirtschaftspolitische Katastrophe, die den Nationalkonservativen anfangs prophezeit wurde, ist bisher ausgeblieben. Die Auslandsinvestitionen sind stabil, das Wirtschaftswachstum von 3,5 bis 4 Prozent im europäischen Vergleich weiterhin an der Spitze. Die Stimmung unter den Unternehmen ist gut.
Die Kritiker der polnischen Regierung sollten sich deshalb nicht darauf verlassen, dass die PiS so schnell wieder verschwindet. Wer dem ideologischen Staatsumbau der Nationalkonservativen eine progressive Alternative entgegenstellen will, muss zeigen, dass soziales Wohlergehen und eine offene, rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft miteinander in Einklang stehen können.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der "Zeit" 51/17. Eine längere Version dieser Analyse ist in der Dezember-Ausgabe der "Le Monde Diplomatique" erschienen und ebenfalls online zu lesen.