Für weibliche KZ-Häftlinge begannen nach der Befreiung neue Herausforderungen: Überleben und Heimkehr, der Schutz vor sexueller Gewalt und die Suche nach ihrem Platz in einer ablehnenden Nachkriegsgesellschaft.
Millionen Menschen – befreite Zwangsarbeiter*innen, KZ-Häftlinge, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, Wehrmachtsangehörige sowie Soldaten der alliierten Streitkräfte – waren am Ende des Zweiten Weltkrieges 1944/45 auf den Straßen des Deutschen Reichs unterwegs. Die in den Konzentrationslagern inhaftierten Menschen wie Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Rom*nja, als „asozial“ Gebrandmarkte, Homosexuelle und aus politischen oder religiösen Gründen Verfolgte suchten ihren Weg zurück in die Heimat oder in die Emigration. Für Frauen war der Weg durch das zerstörte Europa mit besonderen Herausforderungen verbunden.
In Folgenden geht es um Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in dem etwa 120.000 Frauen aus über 30 Ländern inhaftiert waren: Wie haben sie die Auflösung des Lagers erlebt? Welchen Herausforderungen und Gefahren begegneten sie in ihrem häufig wochenlangen Leben auf der Straße? Und wie gestaltete sich die Ankunft in einer fremd gewordenen Welt?
Das Frauen-Konzentrationslager: Auflösung und Befreiung
Ende April 1945 befanden sich in dem etwa hundert Kilometer nördlich von Berlin gelegenen KZ Ravensbrück nur noch etwa zwei- bis dreitausend Gefangene, darunter viele Todkranke. Ihnen begegnete in den Mittagsstunden des 30. April 1945 ein Vorauskommando der Roten Armee auf der Lagerstraße. Doch bis zur geordneten Übernahme der Lagerverwaltung sollten noch Tage vergehen. In dieser Zeit scheinen das Chaos und die Verelendung im Lager noch weiter zugenommen zu haben. Die Häftlinge brachen die Magazine auf und versorgten sich mit Lebensmitteln, in den verlassenen Häusern und Wohnungen des SS-Personals wurde das Unterste zuoberst gekehrt.
Maria Massariello Arata aus Mailand erinnert sich:
„An den Rändern der [Lager-]Straße sieht man Frauen, die entweder ihrer Ermattung oder ihrer Gaumenlust nachgegeben haben. Sie entzünden sich kleine Feuerchen, um das Fleisch [aus den Rot-Kreuz-Paketen] zu erwärmen oder sie bereiten sich mit dem Milchpulver etwas Milch zu. […] Man erkennt das Lager nicht wieder, so viel Abfälle liegen auf der Straße, […] und ununterbrochen strömen in einem wirren Durcheinander Frauen von der einen Baracke zur anderen.“ (Massariello Arata 2006: 127)
In der Zeitspanne zwischen dem Verschwinden der SS und dem Aufbau einer sowjetischen Verwaltung herrschte im Lager Anarchie. Dem Italiener Alvise Barison zufolge wanderten die Häftlinge durch die Häuser, Depots und Baracken und
„stahlen und zerstörten wütend und ohne Vernunft all das, was noch intakt geblieben war. Entfernt vom Lager fand man tote Gefangene, die zu schnell gegessen oder zu viel getrunken hatten. (…) Nach einigen Tagen kam der Befehl, dass wir uns melden sollten, damit Listen für die Repatriierung erstellt werden konnten. Nur aufgrund dieses Befehls kehrte wieder etwas Disziplin zurück.“ (Barison)
Unterwegs in einer fremd gewordenen Welt
Am wichtigsten war es, Nahrung und Obdach zu organisieren.
Für die im Lager verbliebenen Kranken begann mit der Befreiung zunächst eine Zeit des Wartens. Die große Mehrheit der Häftlinge war aber im Zuge der Evakuierungsmärsche befreit worden, auf die sie die SS noch getrieben hatte. Viele der Frauen blieben in Kleingruppen zusammen, denn entscheidend war der Schutz vor – auch sexuellen – Übergriffen, den die Gruppe bot.
Am wichtigsten war es, Nahrung und Obdach zu organisieren. Fast alle Überlebenden berichten vom Betteln, Stehlen („Organisieren“), Plündern und von Hausbesetzungen – Praktiken, die im Chaos der Übergangszeit verbreitet und keineswegs auf die Gruppe der KZ-Überlebenden beschränkt waren. Doch changieren die Haltungen der befreiten Frauen gegenüber diesen Praktiken zwischen Scham, Zweckrationalität und Genugtuung. Offenbar kostete es viele Frauen zunächst Überwindung, die fremden Häuser der deutschen Bevölkerung zu betreten, wie etwa die Berliner Jüdin Jutta Pelz, die im Außenlager Neustadt-Glewe befreit wurde und dort plündern ging, berichtete:
„Durch die anderen angesteckt, gingen Dithel und ich in ein abgelegeneres Haus, an dem eine weiße Fahne hing. Ich muss gestehen, das Gefühl war nicht gerade sehr schön, einfach bei fremden Leuten einzudringen, um die Keller und Vorratskammern auszuräumen. Die Hausbesitzer saßen eingeschüchtert in einer Stube.“ (Pelz-Bergt 1996: 16)
Weibliche Häftlinge berichten immer wieder von einem Zögern, von einem Erstaunen darüber, sich – im Zuge der Plünderungen – so ohne weiteres über bürgerliche Konventionen hinwegsetzen zu können. Die militärisch tradierte Selbstverständlichkeit, bei Zivilisten Lebensmittel zu „requirieren“, spricht eher aus Berichten männlicher Häftlinge; die Hemmschwelle scheint bei vielen Frauen höher gelegen zu haben. Ein eindrückliches Beispiel liefert Lieselotte Heilig, eine aus Slowenien nach Ravensbrück deportierte Wienerin, die schreibt, sie wisse nicht mehr, ob sie „oder die Welt inzwischen verrückt geworden“ sei.
„Man ging in fremde Häuser, nahm, was man wollte und brauchte, stieg über Hochzeitsbilder und Kinderspielzeug, Porzellan und Kristall und Zylinderhüte. Man klopfte an Türen und sagte einfach: ‚Ich bin […] aus dem Lager und möchte dies und jenes‘, und erhielt schweigend und selbstverständlich auch noch das letzte Ei.“ (Heilig: 33)
Einige Tage später erreichte die damals 25-Jährige mit ihrer Gruppe ein mecklenburgisches Dorf, das „voll Gänsen, Hühnern und Kaninchen“ war.
„Nach 14 Tagen, als wir gingen, war kein Lebewesen mehr übrig. Von diesen zwei Wochen ist nicht mehr viel zu sagen. Es hätte schön sein können, aber das war es nicht.“ (Heilig: 10f.)
Die Spannung zwischen dem Wunsch nach einem zivilisierten Leben und den Erfordernissen eines Lebens auf der Straße spricht aus nahezu jeder Zeile des Brieftagebuchs von Lieselotte Heilig. Das Bild des Vagabunden oder auch des „Zigeuners“ dient ihr – wie auch anderen – als legitimer Referenzrahmen des eigenen Handelns.
Das Vagabundieren in Gesellschaft vertrauter Kameradinnen: Stets spricht auch ein Vergnügen an dieser neuen Daseinsform aus den Berichten. Margarete Buber-Neumann, die alleine unterwegs war, spricht gar von einem „herrlichen Wanderleben“. Sie sei von „einer Art Nomadismus gepackt“ gewesen und habe sich gewünscht,
„dass diese Wanderung doch nie aufhören möge. Was wird sein, wenn ich erst mein Ziel erreicht habe?“ (Buber-Neumann 1978: 42)
Sexuelle Übergriffe
Dass Frauen ohne männliche Begleitung reisten, war Mitte des vorigen Jahrhunderts immer noch nicht selbstverständlich. Im Chaos des Kriegsendes wurden unbegleitete Frauen durchaus als Freiwild wahrgenommen, und zwar in erster Linie von Rotarmisten. Die Italienerin Fausta Finzi schildert entsetzliche Szenen, die sich in Neubrandenburg zugetragen haben:
„Olga und Gina werden unten in einem Zimmer eingesperrt, und Livia muss anderthalb Stunden lang diesen schrecklichen Russen ertragen.“ (Finzi 2006: 58)
Die Wienerin Irma Trksak hat im Jahr 2007 rückblickend ihre Vergewaltigung im Mai 1945 folgendermaßen kommentiert:
„Naja, aber ausgerechnet ein Rotarmist, der für uns mit dem Glorienschein der Helden und Kämpfer gegen Hitler versehen wurde, erweist sich als gemeiner Vergewaltiger von Frauen, die unter widrigsten Umständen das KZ überlebt hatten. Das war für uns schon eine herbe Enttäuschung. Wir haben es niemandem erzählt. […] Wir haben uns für den Rotarmisten geschämt.“ (vgl. Cordon 2007: 124)
Erzählt wird, was gesellschaftlich erlaubt ist.
Es entsteht der Eindruck, als habe den Betroffenen vor allem in ihren frühen Berichten die Sprache gefehlt, um die Vergewaltigung beim Wort zu nennen. Beispielsweise heißt es, eine Kameradin war „in den Händen des Soldaten“ oder musste „den Russen erdulden“ oder auch: „Wenn sie etwas zu viel getrunken hatten, war es doppelt unangenehm.“ Die Schwierigkeit, sexuelle Gewalt als solche zu benennen, scheint zuallererst der Scham geschuldet zu sein: Erzählt wird, was gesellschaftlich erlaubt ist, zumal die Frauen mit der Unterstellung rechnen mussten, sie hätten sich freiwillig mit den Männern eingelassen. Oder aber das Erlebte passte nicht ins Bild junger Kommunistinnen, die dann, wie Irma Trksak, erst Jahrzehnte später über ihre Erfahrung sprachen.
Viele der überlebenden Frauen standen nach Monaten und Jahren der KZ-Haft unter dem Eindruck, den restriktiven Geschlechternormen der Zeit nicht mehr entsprechen zu können. Die Kasernierung der Frauen, ihre uniformierte Existenz als Häftlinge mit kahl rasiertem Schädel hatte sie meilenweit von den Vorstellungen tradierter Weiblichkeit entfernt. Die Zeiten des Kriegsendes boten keineswegs die besten Voraussetzungen, um an der Wiederherstellung hergebrachter Weiblichkeitsbilder zu arbeiten.
‚Aus einer anderen Welt‘: Ankunft und Neubeginn in der Heimat
Die Rückkehr in die Heimat gestaltete sich häufig nicht wie erträumt. Der Kontakt mit der realen Welt erwies sich als schwierig. Die Ereignisse unter deutscher Besatzung, heroische Erzählungen über militärische Aktionen des nationalen Widerstands und männliche Kriegs- und Hafterfahrungen dominierten die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Von den weiblichen Deportierten wurde in weiten Teilen Europas angenommen, sie hätten sich ihre Rettung durch sexuelle Dienstleistungen erkauft.
Allein schon als Frau verhaftet worden zu sein, konnte zur damaligen Zeit als Schande gelten. Womöglich hatte sich der Ehemann in der Zwischenzeit eine Geliebte genommen, die Kinder waren gewachsen und erkannten die Mutter nur noch mit Mühe, die Frauen selbst waren älter geworden. Eine Deportierte sah sich nach ihrer Rückkehr „wie eine Reisende in einem fremden Land (…), interessiert, zufrieden, aber ‚nicht wie die anderen‘“. (Amicale de Ravensbrück 2020: 318) „Niemand verstand, was wir erlebt hatten“, so auch Simone Veil, die im Alter von 17 nach Auschwitz deportiert worden war. „Wir waren wie lästige Besucher von einem anderen Planeten.“ (vgl. Chaumont 2001: 28) Viele Frauen hatten fern von ihren Familien an Selbstständigkeit und Kompetenz gewonnen. Das konnte die Integration in ein von Traditionen geprägtes Umfeld nach der Rückkehr aus den Lagern erschweren. Die Häftlingsverbände entwickelten sich zu wichtigen Foren des Austauschs und der Verständigung.
Die Mühen der Emigration
Der Antisemitismus war mit dem Kriegsende nicht einfach verschwunden.
Jüdische Frauen, die zunächst in die Heimat zurückkehrten, mussten erkennen, dass von ihren Familien in der Regel kaum jemand überlebt hatte. In Europa war der Antisemitismus zudem mit dem Kriegsende nicht einfach verschwunden. Zurückgekehrte jüdische Frauen trafen sowohl in West- als auch in Osteuropa häufig auf Nachbar*innen und Mitbürger*innen, die sie denunziert oder aus ihren Häusern vertrieben hatten. In Polen mündete dieser Nachkriegs-Antisemitismus sogar in mörderische Gewaltausbrüche. Das Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946, bei dem 42 jüdische Bewohner*innen der Stadt ermordet wurden, war nur eines unter mehreren.
Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Flucht osteuropäischer Jüd*innen. Ab dem Frühjahr 1946 trafen sie in großer Zahl in der US-amerikanischen Besatzungszone in Westdeutschland ein, wo sie in Lagern für „Displaced Persons“, sogenannten DP Camps, untergebracht und versorgt wurden. In den DP-Camps entwickelten die Überlebenden einen „steten Drang nach Heirat“, verbunden mit einer ansteigenden Anzahl von Geburten. Die Kleinkinder symbolisierten als Hoffnungsträger das Fortbestehen der Familie und damit der Juden Europas (Kittel 2006: 50f. sowie Grossmann 2012). Etwa 55 Prozent der jüdischen DPs emigrierten früher oder später nach Palästina, 25 Prozent entschieden sich für die USA, etwa 10 Prozent für ein europäisches Land, während die übrigen eine Ausreise nach Kanada, Südamerika, Australien oder Südafrika anstrebten (Kittel 2006: 55f.).
Sowohl in der Emigration als auch bei ihrer Rückkehr in die Heimat stießen die Überlebenden immer wieder auf die Erwartung, die KZ-Haft möge als „bloße Episode“ gelten, die die Betroffenen durch den Beginn eines normalen Lebens möglichst zügig hinter sich lassen sollten. Sicherlich ist das weitgehende Desinteresse der Nachkriegsgesellschaften an den persönlichen Schicksalen gerade auch gegenüber den weiblichen Überlebenden einer der Gründe dafür, warum so viele von ihnen geschwiegen haben. Die besonderen Umstände ihrer Verfolgung wie auch die Herausforderungen der frühen Nachkriegszeit sollten erst Jahrzehnte später öffentliches Interesse finden.
Literatur
Amicale de Ravensbrück et des Kommandos Dépendants (Hrsg.) (2020): Französinnen in Ravensbrück. Berlin: Metropol.
Buber-Neumann, Margarete (1978): Freiheit, du bist wieder mein. Die Kraft zu überleben. München, Wien: Langen Müller.
Chaumont, Jean-Michel (2001): Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung. Lüneburg: zu Klampen.
Cordon, Cécil (Hrsg.) (2007): „Ich weiß was ich wert bin.“ Irma Trksak. Ein Leben im Widerstand. Wien: Mandelbaum.
Finzi, Fausta (2006): A riveder le stelle. La lunga marcia di un gruppo di donne dal lager di Ravensbrück a Lubecca. Udine: Gaspari.
Grossmann, Atina (2012): Juden, Deutsche, Alliierte: Begegnungen im besetzen Deutschland. Göttingen: Wallstein.
Kittel, Sabine (2006): „Places for the Displaced“. Biografische Bewältigungsmuster von weiblichen jüdischen Konzentrationslager-Überlebenden. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms.
Massariello Arata, Maria (2006): Ravensbrück: Tagebuch einer Deportierten. Innsbruck: Studienverlag.
Pelz-Bergt, Jutta (1996): Die ersten Jahre nach dem Holocaust. Odyssee einer Gezeichneten. Berlin: Edition Hentrich.
Steger, Bernd; Wald, Peter (Hrsg.) (2008): Hinter der grünen Pappe. Orli Wald im Schatten von Auschwitz. Leben und Erinnerungen. Hamburg: VSA.
Unveröffentlichte Quellen
Barison, Dott. Alvise, Subject. Documents of the Concentration Camp Ravensbrück. [Bericht an den International Tracing Service, vermutlich 1948], ITS Archives Bad Arolsen, Copy of 1.1.35.0 / 82149861.
Heilig, Lieselotte: Brieftagebuch, unveröffentlicht. Transkription Archiv Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.