Jugoslawiens 1968

Konferenz-Reportage
Karl-Marx Red Universität, Belgrad, Juni 1968
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Karl-Marx Red Universität, Belgrad, Juni 1968

„Auf den ersten Blick scheinen dies sehr unterschiedliche Prozesse zu sein. Politische, gesellschaftliche, kulturelle Prozesse. Und bezeichnet dieses Datum ein Jahr, oder steht es für ein paar Monate oder Wochen? Wofür 1968 steht, ist immer umstritten gewesen. Es ist schwierig, all diese Dinge unter einen Hut zu bringen… die Studentenbewegung, die Jugendbewegung, die Revolte einer Generation, Proteste wegen der sozialen Bedingungen und des Lebensstandards“

Dieses Zitat verwendete Irina Scherbakowa als Einstieg zum 7. Europäischen Geschichtsforum, das im Mai 2018 in Berlin stattfand. Scherbakowa, eine Historikerin, die sich insbesondere mit den deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert beschäftigt und Leiterin der Bildungsprogramme bei Memorial ist – einer Organisation, die sich auf die sowjetische Geschichte wie auch auf die Menschenrechtslage in postsowjetischen Staaten konzentriert –, ist eine von vielen Historiker/innen, Wissenschaftler/innen und Expert/innen, die in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zusammenkamen, um aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages die Ereignisse von 1968 zu erörtern.

Unter den Teilnehmern waren Vertreter/innen von Organisationen aus Ländern, die traditionellerweise mit den Schlüsselereignissen von 1968 on Osteuropa assoziiert werden, aus Tschechien, Polen, Russland etc. Darüber hinaus nahmen auch Vertreter/innen aus der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien teil - aus einem Land, dessen Erfahrungen aus jener Zeit bei einer Analyse der Dimensionen, Auswirkungen und der Motivationen der Protestierenden oft übergangen oder nur am Rande betrachtet wird.

Der Sonderfall Jugoslawien

Jakub Jareš, Wissenschaftler des Instituts für das Studium der totalitären Regime in Prag, konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die Polarität, die zwischen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und ihrem Gegenüber in Moskau bestand. Letztere habe befürchtet, dass jedes Zeichen von „politischem Liberalismus“ aus den Satellitenstaaten zu einem Ausbruch aus dem sowjetischen Einheitsblock führen könnte.

Jugoslawien hatte dieses „Problem“ bereits 1948 gelöst, als Tito die Beziehungen zu Stalin kappte. Das ist der Grund, warum die Proteste von 1968 in Jugoslawien nichts mit einer bevormundenden KPdSU zu tun hatten. In Belgrad, der Hauptstadt der Föderativen Republik und Sitz der größten Hochschulen des Landes, versammelten sich Studenten, um gegen die „Bürokratisierung des Sozialismus“ zu protestieren und sich gegen die „Generationen ihrer Vorväter“ zu stellen. Im Unterschied zu den anderen Ländern des Ostblocks und den kommunistischen Balkanstaaten wollten die Studenten das bestehende sozialistische System im Rahmen der jugoslawischen Föderation verbessern und nicht etwa abschaffen. Der progressive Geist des „Alles ist möglich“ von 1968 war der perfekte Kontext für eine solche Bewegung.

Milan Ristović, Geschichtsprofessor an der Universität Belgrad und Teilnehmer des Podiums, betont den Umstand, dass vielen Studenten, die sich an der Bewegung mit ihrem Zentrum in der jugoslawischen Hauptstadt beteiligten, sehr wohl das Geschehen in der Welt bewusst war. „Sie verfolgten all das, was sich in Paris und in Deutschland abspielte, und anders als in den Nachbarländern konnte man jeden Tag sehen, was sich im übrigen Europa ereignete. Es gab viele Diskussionen, weil die Subkulturen der Studenten in den Hauptstädten sehr aktiv waren“.

Die Belgrader Studenten hatten schon zwei Jahre zuvor – wie ihre Altersgenossen in den USA – gegen den Vietnamkrieg protestiert. Zwar gab es Zeiten, in denen solche Proteste mit reichlicher Gewalt durch die Polizei unterdrückt wurden, wie etwa nach einem Konzert in Belgrad im selben Jahr, was bei vielen Studenten bittere Erinnerungen hinterließ. Dennoch habe es niemand als fürchterlich überraschend empfunden, dass die junge Generation eines offiziell sozialistischen Landes sich an die Seite von Studenten in den größten kapitalistischen Ländern der Welt stellten, meinte Ristović. Hierin sei der größte Unterschied zwischen der Situation der Studenten in Jugoslawien und denen in den übrigen Ostblockstaaten zu sehen: Während die Ereignisse vordergründig als Zeichen der Unterstützung für die studentischen Demonstrationen im März in Warschau eingesetzt und sich dann im Juni mit Paris und dem Prager Frühling überschnitten hätten, sei es die ideologische Vielfalt im Kern dieser Bewegungen gewesen, die diese so ungewöhnlich offen und progressiv gemacht sowie den Rahmen für den zukünftigen intellektuellen Diskurs im Lande abgesteckt habe.

Sozialismus ja, aber einen besseren!

Ristović meint, die Proteste 1968 seien von den jungen, hochgebildeten Studenten, die sich der Diskrepanzen zwischen den offiziellen Positionen des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (SKJ) und der Art und Weise, in der dessen Politik vor Ort umgesetzt wurde, mit jedem Tag bewusster wurden, als der „letzte Strohhalm“ betrachtet worden. „Die Studentenproteste bedeuteten eine rote Linie zwischen der ersten Phase des jugoslawischen Experiments und der zweiten, und sie zeigte, dass das Experiment vor einer tiefen Krise stand. Nach 1968 war nichts mehr wie es war, das jugoslawische System verlor sein selbstgeschaffenes perfektes Gesicht, und es zeigte sich, wie tief die Krise war, in der das Landes steckte“.

Der Stolz, „das Beste aus beiden Welten“ und das humanste und offenste sozialistische Land der Welt darzustellen, hatte gegen Ende eines Jahrzehnts, in dem zwei Wirtschaftsreformen gescheitert waren, kaum noch Bedeutung (anstelle einer Verbesserung der Lebensbedingungen hatten die liberalen Wirtschafts-Reformen von 1961 und 1966 in Wirklichkeit einem Teil der Bevölkerung Arbeitslosigkeit eingebracht und die Kluft zwischen den sozialen Klassen vertieft). Diese Kluft erschien gleichsam als Blasphemie in einem Land, das sich so stolz als „großer Gleichmacher“ gebärdete.

Es sei dadurch in Jugoslawien eine deutlich privilegierte Bevölkerungsschicht entstanden, deren starke Verbindungen zur Partei und deren offensichtlich bequemer Lebenswandel die ablehnende Haltung der idealistischen Jugend nur verstärkte und die von dieser als Teil der „roten Bourgeoisie“ beschimpft wurde. Diese Gruppen nahmen radikalere linke Positionen ein als diejenigen, die von der SKJ vertreten wurden, und ähnelten damit in ihren Positionen jenen von Chinas Parteiführer Mao Zedong. Sie bildeten einen Teil der Protestierenden, die zum Diktat des SKJ auf Distanz gingen. Ein anderer Teil, der der Ansicht war, Jugoslawien könne durch die Übernahme von Idealen des westlichen Liberalismus viele Fortschritte erzielen, vertrat liberalere Positionen als die Partei. Diese Richtung hatte sogar einige Anhänger innerhalb der Partei, etwa Koca Popović, Latinka Perović und den berühmten Menschenrechtsaktivisten Lazar Stojanović. Die Studenten besetzten die Universität und benannten sie in „Rote Karl-Marx-Universität“ um. Auf dem Campus wurde – ganz ähnlich wie die Nationalkongresse der Französischen Revolution – ein kommunenähnliches Leben organisiert, als Zeichen, dass man es ernst meine.

Tito „unterstützt“ die Studenten

Die meisten Diskussionen auf dem Europäischen Geschichtsforum konzentrierten sich auf die Art und Weise, in der die verschiedenen kommunistischen Parteien in Osteuropa versuchten, die Proteste auf der Straße zu unterdrücken und zu zerstreuen. Die radikalste Antwort erfolgte in Prag, wo sowjetische Panzer in die Stadt rollten und den Protesten den Todesstoß versetzten. Erneut ergab sich in Jugoslawien ein etwas anderes Bild: Hier versuchten Parteifunktionäre wie Veljko Vlahović and Miloš Minić während der Ausschreitungen zwischen den Studenten und der Polizei zu vermitteln.

Der Vorsitzende selbst war seit den ersten Tagen der Bewegung in Belgrad nicht präsent. „Von Tito war eine Woche lang nichts zu hören. Er hielt sich in Brioni auf und versuchte eine Strategie zu entwickeln, wie mit der studentischen Bewegung umzugehen sei. Dann hielt er eine Ansprache im zentralen Fernsehen und erklärte, dass 90 Prozent der studentischen Forderungen in Ordnung seien, während 10 Prozent das Risiko einer Infiltration durch antirevolutionäre Kräfte bedeuteten. Die Studenten verstanden dies als Anerkennung ihre Forderungen, in Wirklichkeit aber war es eine Anerkennung und zugleich eine Unterdrückung der Bewegung“, erklärte Ristović.

Tito habe verstanden, dass jede harte Reaktion auf die Proteste nur bedeutet hätte, Öl ins Feuer zu gießen. Das wiederum hätte dazu führen können, dass sich die Proteste, die sich bislang auf die Hauptstädte der Republiken Jugoslawiens beschränkten, auf andere Landesteile übergreifen – schließlich hatten viele Arbeiterorganisationen Unterstützerschreiben an die Studenten gesandt. Darüber hinaus hätte es so ausgesehen, als würde der SKJ eine sowjetische Reaktion nachahmen, was sich mit den Ansprüchen der Partei gebissen hätte, dass man „besser“ als die KP in Moskau sei. Titos Rede war sorgsam formuliert und schob die Schuld durchweg der Partei zu: „das ist eine ehrliche Jugend, eine Jugend, um die wir uns bisher nicht genug gekümmert haben“, oder: „wir haben sie alleingelassen und müssen uns nun unserem Fehler stellen“. Das führte zu einer Befriedung eines großen Teils der Studenten und verstärkte Titos Aura eines vernünftigen, wohlmeinenden Führers – ebenfalls ein Bild, mit dem der Kontrast zu den starken Männern im übrigen Osteuropa erhöht werden sollte. Die meisten Fakultäten der Belgrader Universität stellten bald ihre Streiks ein und nur der am stärksten eingeschworene Teil der Bewegung, die Philosophische Fakultät, streikte weiter.

Während Tito und die Partei die Wirtschaftsreformen der 1960er Jahre aufgab und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hin zu einem eigenen „selbstgelenkten Sozialismus“ ausrichtete, wurde gegen viele der Beteiligten der 68er Bewegung und besonders deren Anführer später mit repressiven Maßnahmen vorgegangen: Ihnen wurden die Pässe entzogen oder sie wurden aus der Partei ausgeschlossen. Der sozialistische „Frieden“ der 1970er Jahre wurde vor allem durch eine erhöhte Auslandsverschuldung gespeist und zerbrach in den 1980er Jahren, was nach Ansicht vieler zum Auseinanderbrechen dann auch der jugoslawischen Föderation führte.