Brasilien am Klima-Scheideweg

Analyse

Beim virtuellen Klimagipfel der US-Regierung im April 2021 hatten die teilnehmenden Länder die Möglichkeit, ihre Bemühungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen darzustellen und gegebenfalls neue Selbstverpflichtungen zu verkünden. Zu den 40 eingeladenen Nationen zählte auch Brasilien.

Bildunterschrift: In der Vergangenheit: Mitarbeitende des Ibamas stellen in 2018 durch regelmäßige Kontrollen illegal abgeholzte Bäume in einem indigenem Gebiet in Roraima sicher
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Bildunterschrift: In der Vergangenheit: Mitarbeitende des Ibamas stellen in 2018 durch regelmäßige Kontrollen illegal abgeholzte Bäume in einem indigenem Gebiet in Roraima sicher

Gleich zum Auftakt des Gipfels gab das Gastgeberland den Ton an: es verkündete bis 2030 in den Vereinigten Staaten den CO2-Ausstoß im Vergleich zu den Emissionswerten aus dem Jahr 2005 um 50 bis 52 Prozent zu reduzieren. Damit bestätigt Biden sein Ziel, „die USA bis 2050 auf Netto-Null-Emissionen“ zu bringen. Die chinesische Regierung bekräftigte ihre Verpflichtung, die CO2-Neutralität noch vor 2060 zu erreichen. Die EU-Kommission sprach vom Beschluss des Europäischen Parlaments und der 27 europäischen Regierungen, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen und die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu senken.

Diese Ankündigungen erzeugen eine optimistische und erwartungsvolle Stimmung für die 26. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention, die Ende des Jahres in Glasgow stattfinden soll (COP 26). Für die Vereinigten Staaten war der virtuelle Gipfel im April eine Möglichkeit, sich als globale Führungsmacht im Kampf gegen den Klimawandel neu zu positionieren und sich zum Multilateralismus zu bekennen. 

In diesem Szenario neuer Verpflichtungen und Ankündigungen gab es auch hohe Erwartungen an einen Richtungswechsel Brasiliens, das für seine aktuelle Klimapolitik scharfer Kritik ausgesetzt ist: Seit Bolsonaros Amtsantritt vertritt das Land eine den Klimawandel leugnende und besorgniserregende Haltung zu den Themen Klima und Umwelt. Zum einen entfernt sich die brasilianische Regierung immer mehr von der Erfüllung der eigenen Zielvorgaben im Rahmen des Pariser Klimaschutzabkommens, zum anderen gibt es eine Reihe von Maßnahmen und Unterlassungen des Umweltministeriums mit denen sich die Regierung gegen u. a. indigene und traditionelle Völker sowie Quilombolas [Anm. d. Übers.: Nachkommen von u. a. entflohenen versklavten Menschen] stellt. Dies haben Organisationen der Zivilgesellschaft und sogar Beamt*innen der staatlichen Umweltbehörden selbst angezeigt. Als Folge nimmt das Land, das früher eine globale Führungsrolle bei internationalen Klimaverhandlungen spielte, eine zunehmend isolierte Position ein. Es treibt den institutionellen Abbau im Umweltbereich voran, was unmittelbar Einrichtungen wie das Chico-Mendes-Institut für die Erhaltung der Biodiversität (ICMBio), das brasilianische Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen (Ibama) und den nationalen Umweltrat (CONAMA) betrifft. 

Die US-amerikanische Administration fordert Brasilien zu mehr Umwelt- und Klimaschutz auf

Die brasilianische Regierung geriet durch die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten und sein Ziel, den Klimawandel prioritär zu behandeln, unter Druck. In einem Brief vom Februar an die brasilianische Regierung hat Präsident Biden Brasilien aufgefordert, sich bereits vor dem virtuellen Gipfel stärker für den Umweltschutz einzusetzen und sich zu ehrgeizigeren Zielen bei Klimafragen zu verpflichten. Gemeinsam müssen man natürliche Ressourcen schützen und nachhaltige Wege finden, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien.

Vor diesem Hintergrund hat die brasilianische Regierung Maßnahmen ergriffen, um  Schäden einzudämmen und den Anschein eines gewissen Engagements zu erwecken. Die Ersetzung des (jüngst entlassenen) Außenministers Ernesto Araújo, der den Klimawandel für eine von der „Linken“ geschaffene „Ideologie“ hält, kann in diesem Sinne betrachtet werden. Auch die Teilnahme der brasilianischen Delegation – bestehend aus dem Umweltminister Ricardo Salles, dem neuen Außenminister Carlos Alberto França und dem Präsidenten Bolsonaro selbst – an Bidens Klimagipfel sollte ein positives Signal senden.

Nach 18 anderen Staatschefs kam Präsident Bolsonaro zu Wort und hielt eine siebenminütige Rede. Im ersten Teil konzentrierte er sich darauf, den Umweltschutz seines Landes zu loben und bezeichnete Brasilien als „Vorreiter im Kampf gegen die globale Erderwärmung“. Er wies auf den vielfältigen sauberen Energiemix in seinem Land hin, darunter Solarenergie, Windenergie und erneuerbare Biokraftstoffe. Und bekräftigte seine Verpflichtung zu 37 Prozent weniger CO2-Ausstoß im Jahr 2025 und zu 43 Prozent bis 2030. Neu in seiner Rede ist der Vorschlag in Brasilien bis 2050 statt 2060, d.h. zehn Jahre früher, CO2-neutral zu werden. Außerdem versprach er eine Verdoppelung der Finanzmittel für die Durchführung von Umweltkontrollen und beendete seine Rede damit, die Notwendigkeit internationaler finanzieller Unterstützung für das Überwinden bestehender Hürden zu betonen. 

Berechtigtes Misstrauen gegenüber Brasilien? 

Da er jedoch keine konkreten Maßnahmen präsentierte, stieß seine Rede – trotz verändertem Ton – auf Misstrauen. Das Handeln der brasilianischen Regierung im sozial-ökologischen Bereich bleibt widersprüchlich und besorgniserregend:  Nur einen Tag nach dem Klimagipfel genehmigte Präsident Bolsonaro – entgegen seiner Versprechen auf dem Gipfel - die Kürzung des Budgets des Umweltministeriums für das Jahr 2021 um 24 Prozent im Vergleich zu 2020. Ein weiterer widersprüchlicher Aspekt ist der Versuch der brasilianischen Regierung, die Natur stärker in einen finanziellen Vermögenswert zu verwandeln. Die bisherige Position Brasiliens [z.B. mit der natürliche Ressource Wald] nicht in den internationalen Kohlenstoffmarkt einzusteigen, wurde geändert. Dies könnte dazuführen, die Umsetzung der im Artikel 6 des Übereinkommens von Paris vorgesehenen Marktmechanismen zu ermöglichen. Diese veränderte Position Brasiliens wurde erstmals auf dem Gipfel deutlich. Bei Initiativen auf Inlandsebene wird sie bereits in die Praxis umgesetzt. 

Ein Beispiel hierfür ist das jüngst ins Leben gerufene Schutzprogramm für das Amazonasgebiet „Adote um Parque” [„Adoptiere einen Park“], dessen Ziel es ist, die Erhaltung, Wiederherstellung und Verbesserung von Naturschutzgebieten [Unidades de Conservação] durch Einzelpersonen und Firmen (aus dem In- und Ausland) zu fördern. Diese Initiative wurde stark von Gruppen der Zivilgesellschaft, wie der Grupo Carta de Belém kritisiert. Bei einem Gespräch mit brasilianischen Parlamentariern über das Programm, wiesen Mitglieder dieser Gruppe darauf hin, dass „das Projekt ‘Adote um Parque’ den völligen Ausschluss der Völker oder eines Beteiligungsverfahrens beinhaltet.“ Sie erinnern daran, dass es keine Beteiligung der Beratungs- oder Beschlussgremien gegeben habe und auch, dass das Projekt „einen Verstoß gegen geltende Vereinbarungen darstellt, wie die 1989 durch Brasilien angenommene ILO-Konvention 169, gegen das Dekret 6040 für nachhaltige Entwicklung der traditionellen Völker und Gemeinschaften und gegen das tatsächliche Nutzungsrecht der einheimischen Bevölkerungen.“ Darüber hinaus „verkaufe die Regierung Brasiliens Gemeingüter als Schnäppchen für lediglich 50 Real pro Hektar“ [Anmerk. d. Redaktion: 7,80 Euro, diese und alle folgenden Eurobeträge basieren auf dem Wechselkurs vom 17.05.2021 von 6,40), sagt die Gruppe in einem Brief an die Parlamentarier). Das erinnert an das Lied des brasilianischen Liedermachers Raul Seixas. Er singt: „Die Lösung für unser Volk werde ich geben. So eine tolle Sache hat man noch nie gesehen. Hier ist alles fertig, man muss nur kommen und es holen. Die Lösung ist: Brasilien zu vermieten!“ 

Ingesamt stehen zahlreiche Maßnahmen der Bundesregierung seit Bolsonaros Amtsantritt im Widerspruch zu Umwelt- und Klimaschutz und wirken sich auch verheerend auf lokale Gemeinschaften aus. Das Jahr 2020 verzeichnet sehr negative Ergebnisse im Kampf gegen die Entwaldung und beim Umweltschutz: Die Abholzung erhöhte sich im Vergleich zum Jahr 2019 um 30 Prozent. Im Cerrado ist sie um 13 Prozent im Vergleich zu 2019 angestiegen. Hinzu kommen die Beschwerden über den ungebremsten institutionellen und finanziellen Abbau im Umweltbereich, auch während der Corona-Pandemie. Nach Angaben des Berichts „Passando a Boiada“, [sinngemäß: unter dem Radar handeln] des brasilianischen Observatório do Clima reichen die Beschwerden „von der Lockerung bei Kontrollen für den Holzexport, der Erdölförderung in sensiblen Regionen bis hin zu massiven Kürzungen des Haushalts und zur Besetzung von Stellen bei den Umweltbehörden mit hierfür nicht fachkundiger Militärpolizei sowie bis zum Vorschlag, das Chico Mendes-Institut u. a. abzuschaffen“. Diese Maßnahmen betreffen, wie oben bereits angeführt, Behörden wie Ibama und ICMBio und den brasilianischen Umweltrat CONAMA, der seit September letzten Jahres keine Sitzungen mehr halten konnte. Ein Jahr nach der desaströsen Kabinettssitzung der Bundesregierung, bei der der Umweltminister vorschlug, [die mediale Aufmerksamkeit für die Corona-Pandemie zu nutzen, um bei Umweltschutzthemen] „unter dem Radar zu handeln“, sind die eben benannten Abholzungsraten der beste Indikator für die gegenwärtige Lage des Umweltschutzes. 

Brasiliens Ziele in der internationalen Klimapolitik wenig ambitioniert

Auch auf internationaler Ebene handelt Brasilien besorgniserregend. Turnusmäßig legten alle Vertragsstaaten bis zum Dezember 2020 - fünf Jahre nach Inkraftreten des Pariser Klimaabkommens - Vorschläge für die weitere Reduzierung von Treibhausgasemissionen vor. Auch Brasilien reichte überarbeitete NDCs ein (nationale festgelegte Beiträge). Die aktualisierten brasilianischen NDCs werden jedoch als wenig ambitioniert bewertet: sie wiederholen nur die Ziele (und Prozentzahlen), die in den ersten NDCs von 2016 festgelegt wurden. Darüber hinaus hat die brasilianische Regierung den Bezugswert des Basisjahrs geändert, was in der Praxis die Zielvorgaben zur Reduzierung von Emissionen senkt. Das kann als eine schwere Verletzung der Regeln des Pariser Klimaschutzabkommens betrachtet werden, da der Grundsatz „kein Rückschritt“ verletzt wurde. Jede NDC-Aktualisierung sollte ehrgeizigere Ziele als die vorherigen Beiträge definieren. Auch die auf dem virtuellen Gipfel im April 2021 verkündete Verpflichtung CO2-Neutralität bereits im Jahr 2050 anzustreben, ändert an dieser Bewertung nichts.

Das im Dezember 2020 von Brasilien vorgestellte Dokument mit aktualisierten NDCs kennzeichnet einen weiteren erschwerenden Aspekt, da es das Erreichen der neuen Zielvorgaben an „das reibungslose Funktionieren der im Pariser Abkommen vorgesehenen Marktmechanismen“ koppelt. Zuletzt betonte die Regierung immer wieder die Unverzichtbarkeit internationaler finanzieller Unterstützung für den Umwelt- und Klimaschutz, was in der Tat bedeutet, dass das Ziel der CO2-Neutralität zwar angestrebt wird, das Land aber keine Verpflichtung eingehen will. Die Regierung betrachtet den Kohlenstoffmarkt lediglich als eine Möglichkeit, finanzielle Mittel zu erhalten, die ihrer Meinung nach notwendig sind, um die gesteckten Ziele zu erreichen.
Das internationale Misstrauen gegenüber der Ende April 2021 gehaltenen Rede von Präsident Bolsonaro wird auch vom Vorgehen und den Ergebnissen im Umweltschutz in diesem Jahr ausgelöst. Wie bereits erwähnt, gab es für 2021 eine Budgetkürzung beim Umweltministerium, besonders für den Kampf gegen Abholzung und Brände. Nach Angaben des brasilianischen Observatório do Clima sind lediglich 1,72 Mrd. Real [268,45 Mio Euro] für das Umweltministerium und seine zwei Umweltbehörden (Ibama und ICMBio) vorgesehen, um die Kosten zu decken, einschließlich Fixkosten. Das bedeutet eine Reduzierung von nahezu 1 Mrd. Real [genauer 0,94 Milliarden Reais, ca. 146,71 Mio Euro] im Vergleich zu 2020, wo 2,66 Mrd. Real [415,16 Mio Euro] vorgesehen waren. Schon dieses Jahr sind die Auswirkungen dieser Kürzungen sichtbar: Im März 2021 wurde ein Anstieg von 12 Prozent der Entwaldung im Amazonas-Regenwald im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet.

Ergebnisse des virtuellen Gipfels

Frustriert und ebenfalls misstrauisch kehrt Brasilien vom virtuellen Klimagipfel zurück. Der Versuch, Anerkennung durch die US-Regierung zu erhalten, ist an der wenig ambitionierten Rede Präsident Bolsonaros und mangelnder Umsetzungsvorschläge gescheitert. Innerhalb der brasilianischen Regierung hoffte man auf den Abschluss eines Abkommen im Rahmen des Gipfels. Vor dem Gipfel baten mehr als 200 brasilianische Organisationen in einem Brief an die Regierung Biden den US-amerikanischen Präsidenten, sich zu entscheiden, ob er der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit seiner Worte treu bleiben oder sein politisches und finanzielles Prestige der Regierung Bolsonaro leihen will - beides sei nicht möglich. Am Ende des Gipfels wurde kein Beschluss verkündet. 

Wegen der vielen Widersprüche und Ungewissheiten machten sich weitere Akteure bemerkbar:  Besorgt um den Klimanotstand richteten zweiundzwanzig Gouverneure aus verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten einen Brief an Präsident Biden. Sie schlagen eine gemeinsame Partnerschaft für den Umweltschutz in Brasilien vor und signalisieren ihre Bereitschaft für direkte Kommunikation mit der US-Regierung, um durch praktische Schritte voranzukommen. Auch indigene Organisationen wie der APIB (Dachverband der indigenen Völker Brasiliens), haben das Vorgehen der brasilianischen Regierung auf internationaler Ebene angeprangert. Sie baten noch vor dem Gipfel um ein Treffen mit Vertretern der US-Regierung, was am 13. April geschehen ist. 

Wie geht es weiter?

Mit Spannung werden jetzt die nächsten Schritte bis zur COP26 am Ende des Jahres erwartet sowie mögliche weitere Dialoge, die Brasilien mit anderen Regierungen über Klima und Umwelt führen könnte. Die brasilianische Erfahrung mit dem Amazonienfonds unter Bolsonaros Regierung kann als Paradebeispiel dafür dienen, wie man nicht vorgehen sollte. Auf der Grundlage von Verdächtigungen und unter dem Vorwand einer Neugestaltung der Verwaltung hat die brasilianische Bundesregierung das Komitee für den Amazonienfonds (Cofa) – die Hauptbehörde für Steuerung und soziale Kontrolle des Fonds, welche die Kriterien für die Verwendung von Fördergeldern festlegte - abgeschafft. Unzufrieden mit diese Änderungen haben die Länder, die den Fonds unterstützen, die Fördermittel eingefroren. Nach Angaben des Observatório do Clima sind damit ca. 2,9 Mrd. Real [452,62 Mio Euro] gesperrt und kein neues Projekt kann genehmigt werden. Das ist das Ergebnis der Änderung an der Führungsstruktur des Fonds, die ohne die Zustimmung der Geberländer wie Norwegen und Deutschland vorgenommen wurde. 

Die Gelegenheit für einen Richtungswechsel bietet sich, setzt aber eine andere Haltung und effektivere Maßnahmen [für den Umweltschutz] voraus, um international sowie im Land selbst Vertrauen wiederzugewinnen und gute Beziehungen mit anderen Ländern aufzubauen. Nur durch Dialog, die Beteiligung der brasilianischen Zivilgesellschaft - insbesondere der Quilombolas, indigenen und anderen traditionellen Völker - sowie durch soziale Kontrolle kann begonnen werden, den bisherigen Kurs [der Umwelt- und Klimapolitik] zu verändern. Andernfalls werden wir weiter in den Strudel des Misstrauens hineingerissen, bis hin zu einem trostlosen Szenario, zu einer Art ökologischem “Mad Max”.


Aus dem Portugiesischen von Simone Pereira Gonçalves

Der Originalbeitrag auf Portugiesisch erschien hier bereits vor dem virtuellen Klimagipfel und wurde für die deutsche Übersetzung durch den Autor um einige Passagen ergänzt und angepasst. Anmerkungen oder Änderungen der Übersetzerin sowie der Redaktion sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.