Das Gespenst des Polexits

Kommentar

Das sei ein schwarzer Tag für Polen, lautete eine der Schlagzeilen, die sich auf die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtes vom Donnerstag beziehen. Dass das mehrheitlich von der Regierung kontrollierte Verfassungsgericht Teile des EU-Rechts für verfassungswidrig erklärt hat, lässt Europa schockiert zurück. In der Bevölkerung verbreitet sich nun Furcht vor einem Polexit. Die nationalkonservative Regierung zeigt sich dagegen zufrieden. 

Gebäude des polnischen Verfassungsgerichts
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Das polnische Verfassungsgericht in Warschau.

„Am Sonntag um 18 Uhr werden wir uns versammeln und der Welt lautstarkzeigen, dass wir überzeugte Europäer*innen sind. Wir werden gegen das Urteil des Verfassungsgerichts protestieren“, heißt es in einem Aufruf in den sozialen Netzwerken. Der Schock sitzt tief. Die Opposition ringt um Worte, in der Bevölkerung geht Angst um, dass die Regierung Polen „aus Versehen“ an den Rand der EU drängt oder es sogar aus der EU führt.

Worum geht es? Das polnische Verfassungsgericht hat unter dem Vorsitz von Julia Przyłębska, einer engen Vertrauten von PiS-Chef Jarosław Kaczyński, folgendes Urteil gesprochen: „Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (…) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration gewahrt bleibt“, so die Richter*innen. Zwei der zwölf Richter*innen waren anderer Meinung, doch die Mehrheit erklärte Teile der EU-Verträge und einige Gesetze der EU für verfassungswidrig. Przyłębska zählte eine ganze Reihe von Artikeln auf, die nicht mit dem polnischen Grundgesetz vereinbar seien. Es hieß: Die EU-Institutionen „überschritten ihre Kompetenzen“.

Streitpunkt Richter*innenberufung am Verfassungsgericht

Im Zentrum des Rechtsstreits stand die fundamentale Frage: Wie lassen sich das nationale und das EU-Recht miteinander vereinbaren und welches Recht ist letztendlich dem anderen übergeordnet? Konkret ging es um eine der Justizreformen in Polen, hier um die Richterberufung. Bei der Berufung von Richter*innen am Obersten Gericht bemühten sich unterlegene Kandidat*innen erfolglos beim polnischen Obersten Verwaltungsgericht um eine Überprüfung des Verfahrens. Die nationalkonservative PiS-Regierung, die seit 2015 im Amt ist, hatte im Rahmen der Justizreform eine solche Überprüfung per Gesetz praktisch unmöglich gemacht. Der Fall landete vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem höchsten EU-Gericht. Dieses befand, dass in so schwerwiegenden Fällen nationale Regeln selbst dann durch EU-Recht aufgehoben werden, wenn sie Verfassungsrang haben. Daraufhin stellte der polnische Premier Mateusz Morawiecki beim polnischen Verfassungsgericht die Grundsatzfrage, welches Recht Vorrang genießt. Das Verhältnis des nationalen Verfassungs- zum EU-Recht ist überall heikel, auch das Bundesverfassungsgericht stellte sich in einer konkreten Sachfrage teilweise gegen den EuGH. Doch im Fall Polens ist das besonders problematisch: Denn das Verfassungsgericht, das in dieser heiklen Frage urteilte, steht selbst unter dem Verdacht der Befangenheit, nachdem es regelwidrig umstrukturiert worden war. Laut einem Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs ist es in dieser Form nicht konform mit grundlegenden EU-Rechtsauffassungen zur Unabhängigkeit der Justiz zusammengesetzt.

Die rechtliche Dimension

Das Urteil des Verfassungsgerichtes bildet de jure und de facto die Grundlage für den so genannten juristischen Polexit, d. h. die Nichtanwendung von EU-Rechtsvorschriften durch Polen, wenn deren Verfassungsmäßigkeit in Frage steht. Dieser Schritt macht das Rechtssystem in Polen immer undurchsichtiger. Nun kann eindeutig von der Funktionsweise von mindestens zwei, wenn nicht sogar mehreren parallelen (Rechts-) Systemen gesprochen werden - eines, das sich zum Vorrang des EU-Rechts über das nationale Recht bekennt, ein weiteres, das den Vorrang der polnischen Verfassung unumstößlich festschreibt, aber auch ein Entscheidungssystem innerhalb der Justiz mit Elementen von Korruption und Vetternwirtschaft, das über die traditionell verstandene Rechtsordnung hinausgeht. Je komplizierter und undurchsichtiger das oben beschriebene System als ein offenkundiger Mechanismus von Machtausübung wird, desto leichter ist es, die Unabhängigkeit der Regierungsinstitutionen und die Unabhängigkeit der Justiz (die Grundsätze der dreigliedrigen Gewaltenteilung im Staat) zu untergraben, was eines der Hauptziele der herrschenden politischen Eliten um die PiS-Regierung zu sein scheint, und was seit der Machtübernahme in 2015 konsequent verfolgt wird.

Das Fehlen einer unabhängigen Justiz und die Anfechtung der Anwendung der oft sehr fortschrittlichen EU-Gesetzgebung kann die Situation in Bezug auf die Menschenrechte (einschließlich insbesondere der Minderheitenrechte wie LGBTiQ und der Gleichberechtigung der Geschlechter) und die Lage der freien Medien mit Sicherheit deutlich verschlechtern.

Die politische Dimension

Mit dem Beitritt zur EU hatte Polen einerseits seine Souveränität bekräftigt und gestärkt, denn es ist eine allgemein anerkannte Regel, dass nur souveräne Staaten die Legitimität haben, internationalen Organisationen beizutreten. Polen untergräbt de facto jedoch zunehmend die Grundlagen des Multilateralismus als Form des Aufbaus internationaler Beziehungen. In einer Welt, die immer stärker miteinander verflochten ist, entscheidet sich Polen für eine Politik des Isolationismus. Damit droht eine weitere Marginalisierung, die sich negativ auf das Image des Landes auf der internationalen Bühne auswirkt und das Vertrauen in Polen als Rechtsstaat und vertrauenswürdigen Partner im europäischen und internationalen Kontext untergräbt.

Als EU-Mitgliedsstaat wird Polen eindeutig einen konfrontativen Weg einschlagen, und zwar in einem bisher unbekannten Ausmaß. Dialog, Zugeständnisse und Kompromisse sind das Herzstück des EU-Governance-Systems (so genannte Multi-Level-Governance). Polen hingegen greift bei den Verhandlungen zunehmend auf Erpressungs- und Einschüchterungstaktiken zurück. Der Spielraum für den Dialog wird immer kleiner. Es scheint nicht nur ein ineffektiver, sondern auch ein unüberlegter Schritt zu sein, denn im Falle einer offenen Konfrontation mit der EU steht Polen a priori auf verlorenem Posten.

Die nun vom Verfassungsgericht getroffene Entscheidung wird sicherlich nicht zur Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen beitragen. Die polnische Regierung wird nicht mehr auf die „Nachsicht“ von Politiker*innen wie Angela Merkel zählen können, denn die neue Koalition wird aller Voraussicht nach einen deutlich konsequenteren Ansatz in der Frage der Rechtsstaatlichkeit verfolgen.

Soziale Dimension

Das Verfassungsgericht trägt mit seiner Entscheidung erneut zu einer Polarisierung der polnischen Öffentlichkeit bei.  Die Diskussion über die Mitgliedschaft Polens in der EU wird somit weiter angeheizt. Die Gefahr eines Polexits, selbst wenn dieser nicht unbedingt das Ziel der Regierung ist, hängt nun unzweifelhaft in der Luft. Zwar kann man angesichts der jetzt zugespitzten Situation auf die Konsolidierung der pro-europäischen Kräfte, einschließlich der Opposition, hoffen, welche die Interessen des Staates und seiner Bürger*innen angesichts eines möglichen Polexit zu verteidigen versuchen wird. Andererseits wird die angeheizte Debatte um die Zukunft und den Verbleib Polens in der EU die jetzt schon deutliche Spaltung in der Gesellschaft weiter vertiefen. Darüber hinaus wird es für Polen durch das Urteil und die konfrontative Haltung der polnischen Regierung sehr viel schwieriger, Mittel für den Wiederaufbau nach der Pandemie zu erhalten.  Das Ausbleiben einer derart umfassenden Unterstützung durch die EU treibt die polnische Gesellschaft auf einen verlorenen Posten, insbesondere im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft.

Reaktion aus Brüssel

Die EU-Kommission reagierte „besorgt“ auf das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Brüssel werde „alle Mittel“ ausschöpfen, damit das EU-Recht in Polen gewahrt bleibe, erklärte EU-Justizkommissar Didier Reynders. Das Prinzip, wonach EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht habe, sowie der bindende Charakter von Entscheidungen der EU-Justiz seien zentral für den Staatenbund.