„Mit der gleichen Rhetorik könnte Putin auch über Moldau herfallen“

Analyse

Gelegen zwischen der Ukraine und Rumänien, ist die ehemalige Sowjetrepublik nun erstes Ziel vieler Geflüchteter aus der südlichen Ukraine. Die ländlich geprägte Republik Moldau gilt als eines der ärmsten Länder Europas. Julian Gröger, Koordinator von Kultur- und Umweltprojekten in der Hauptstadt Chişinău, berichtet von den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf das 2,5 Millionen-Einwohner-Land.

Vor dem Krieg geflüchtet
Teaser Bild Untertitel
Aus Odessa geflüchtet: Andrei hat mit seiner Familie im moldauischen Dorf Hirtop eine vorübergehende Bleibe gefunden. Neben ihm steht Rusanda, Koordinatorin einer moldauischen Initiative zur Vermittlung Geflüchteter in leerstehende Wohnungen auf dem Land.

Heinrich-Böll-Stiftung: Was bedeutet die Welle von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine für die Republik Moldau? Wie ist die Lage der Flüchtenden in Moldau?

Julian Gröger: Die Lage gerade für die Flüchtlinge aus dem Süden der Ukraine - wir sind hier 60 km entfernt von Odessa - war in der ersten Woche sehr chaotisch, aber sehr ‚moldauisch‘, also mit extrem großem Herzen und totalem Chaos. Ich war in mehreren Chat-Gruppen, wo tausend Nachrichten in der Stunde kamen. Von den Zahlen her: Wir sind jetzt bei 300.000 Geflüchteten, von denen ca. 100.000 hiergeblieben sind. Das käme einem plötzlichen Bevölkerungswachstum von 4 Prozent gleich. Aber Moldau kann das derzeit relativ gut absorbieren, denn wir haben hier eine spezifische Struktur: Wir sind ein von Emigration gebeuteltes Land: 30 Jahre Abwanderung haben zu entvölkerten Dörfern geführt. Die 100.000 Menschen aus der Ukraine fallen insofern nicht so sehr auf. Die Hilfsbereitschaft ist sehr groß - noch!

Julian Gröger auf einem Marktplatz
Julian Gröger steht vor dem Markt in Chişinău.

Ich schätze, die Hälfte der Geflüchteten hat Freunde oder Verwandte im Land. Sie sind hierhergekommen und wussten auch gleich, wo sie hinfahren. Die andere Hälfte wurde tatsächlich von hilfsbereiten Menschen aufgenommen. Die Leute haben kein Extrabudget, sie haben keine zweite Vorratskammer. Ich war am letzten Sonntag in zwei Dörfern und habe mit mehreren Gastfamilien und Geflüchteten gesprochen. Es ist eine große Wärme zwischen ihnen, eine große Hilfsbereitschaft. Aber dies stößt an Grenzen. Die Gasrechnung ist jetzt doppelt so hoch. Die Vorratskammern leeren sich langsam, und dabei ist auch unsere Hilfe jetzt gefragt. Das ist im Prinzip das moldauische Modell der Gastfamilien, halb verlassene Dörfer zu nutzen - sozusagen die Hilfe im Kleinen.

In größerem Maßstab werden die Behörden aber auch nicht auf Hallen und Turnhallen verzichten können. Man braucht sie als Erstanlaufstellen.

Gefährdet diese neue Situation auch die politische Stabilität in Moldau und den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Die Menschen in Moldau wollen nicht in den Konflikt hineingezogen werden. Gleich am ersten Tag der Invasion wurde der Luftraum geschlossen. Die Besorgnis war groß, Russland könnte aus Flugbewegungen einen Vorwand für eine schnelle Ausweitung des Angriffs auch auf Moldau konstruieren.

Jetzt erleben wir eine große Solidarität mit der Ukraine. Allerdings identifizieren sich in Moldau etwa immer noch 20 bis 30 Prozent der Menschen mit der Sowjetunion, und konsumieren auch russische Medien, wählen immer die russlandtreue Partei - derzeit unter der Selbstbezeichnung ‚Sozialisten‘. Die sind zwar leise, aber es gibt sie im Land und sie unterstützen auch in dieser aktuellen Lage das Putin-Regime. Aber der Hilfsbereitschaft tut das keinen Abbruch. So ist auch die jetzige Regierung recht stabil, und ein Großteil der Bevölkerung - etwa 60-70 Prozent - steht hinter der Präsidentin Maia Sandu und hinter der Regierungspartei.

Gibt es die Erwartung, dass das russische Militär direkt bis Chişinău durchmarschieren könnte?

Gerade in den ersten Tagen des Krieges haben sich viele Menschen in meinem persönlichen Umfeld keine Illusionen gemacht. Mit der gleichen Rhetorik, mit der das Putin-Regime die Ukraine angegriffen hat, könnte Russland ebenso auch Moldau einnehmen. Mit der international nicht anerkannten Sezessions-Republik Transnistrien und der pro-europäischen Reformregierung gibt es ähnliche Konstellationen und einen Nährboden für irgendwelche Genozid-Fakenews und vergleichbare Strategien. In den ersten Tagen haben viele von meinen Freunden schon die Koffer gepackt. Die Angst war groß, dass man hier mit überrollt wird. Man hatte weniger die Befürchtung, dass es hier zu Zerstörung kommt, weil allen klar war: Moldova kann und wird sich militärisch nicht wehren. Aber es war klar: Warum sollte Putin am Dnister, das ist die Ostgrenze Moldaus zur Ukraine, stoppen? Die Transnistrier warten seit 30 Jahren auf diesen Moment. Experten sagen: Es ist eine militärische Operation von drei bis fünf Stunden vom Dnister bis zum Pruth. Und Gegenwehr wird es nicht geben.

Hat sich die Situation an der Kontaktlinie zur Sezessionsrepublik Transnistrien schon verändert? Gibt es irgendeine Eskalation innerhalb des Sezessionskonfliktes?

Erstaunlicherweise nicht. An der De-facto-Grenze ist die Lage im Großen und Ganzen normal, die Menschen fahren von Transnistrien nach Moldau wie immer, wenngleich die Stimmung angespannt ist. Man weiß nicht, ob jemand ein Putin-Unterstützer ist oder nicht. Aber ich habe noch nicht von konkreten Zwischenfällen gehört. Im Alltag gibt es noch keine Unterschiede. Auf der ukrainischen Seite, nur 20 km vom Grenzfluss Dnister entfernt, liegt eine Militärbasis, die von den russischen Streitkräften unter Feuer genommen wurde - die Einschläge konnte man hier hören. Aber wir sehen noch keine Bewegung von transnistrischen Kräften oder den 1.500 sogenannten russischen Friedenstruppen im Land.

Die Angst der ersten Tage hat sich insofern jetzt ein bisschen relativiert. Zum einen hat man sich die Reden von Putin nochmal genauer angehört. Die meisten Menschen - auch ich - gehen davon aus, dass es Putin eher um eine ostslawische Einheit geht zwischen Russland, Belarus und Ukraine. Ohne Moldau, aber sicherlich mit Transnistrien, samt der sowjetischen Großinvestitionen auf diesem Gebiet. Das sind vor allem ein Stahlwerk in Ribnitsa im Norden, die Hauptstadt Tiraspol und dann ein großes Kraftwerk Cuciurgan im Süden. Chişinău und der Rest von Moldau sind wirtschaftlich nicht ganz so interessant. Und bei den Sowjetinvestitionen geht es ja dem Moskauer Narrativ nach zu urteilen darum, dass man „zurückholt, was einem gehört“. Ich glaube, dieser Duktus gilt für Moldau nicht. Aber wenn Putin diesen Schritt nach ganz Moldau doch gehen sollte, dann macht sich hier niemand Illusionen. Viele würden das Land verlassen.

Was kann die moldauische Zivilgesellschaft - auch in Kooperation mit EU-Partnern - aktuell leisten, um die akute Situation mit den ukrainischen Flüchtlingen in Moldau zu bewältigen? An welchem konkreten Projekt arbeitest du gerade?

Zum einen basiert die Flüchtlingshilfe zu 80- 90 Prozent auf den Freiwilligen. Es gab hier an den Hallen, an den Grenzübergängen, überall, freiwillige Helfer. Das war relativ gut organisiert. Aber freiwillige Helfer können die Menschen vielleicht eine, maximal zwei Wochen sein. Dann können sie nicht mehr. Da gibt es gerade die ersten Bewegungen, dass man diese Freiwilligen in Lohn und Brot bringt. Hierfür braucht es staatliche und vor allem aber internationale Unterstützung. Das ist das eine.

Das andere ist, den Gastfamilien, von denen ich gesagt habe, dass so langsam der Vorratskeller leer wird, jetzt bei Energie- und Lebensmittelkosten zu helfen und sie zu unterstützen. Auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen und Netzwerken müssen wir nun viel kommunizieren, auch Werbung machen für Moldau, weil das Land in den Nachrichten kaum erwähnt wird. Was können zivilgesellschaftliche Akteure tun? Immer wieder in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass wir in Moldau pro Kopf mit Abstand die meisten Flüchtlinge zu wuppen haben, weit mehr als Polen. Entsprechend dringend muss auch internationale und europäische Unterstützung hierher fließen.

Die Frage der gestiegenen Energiekosten aufgrund der Kriegslage hast du schon angesprochen. Wie viele Sorgen macht sich das Land aktuell um Energiesicherheit und Energiearmut?

Große Sorgen! Auch zu Recht. Das erste moldauische Opfer des Krieges wird der Wald sein, das ist jetzt bereits zu sehen. Schon im Herbst hatte Russland mit höheren Gaspreisen den Druck auf Moldau erheblich erhöht. Im Januar haben die Leute dann ihre erste höhere Gasrechnung bekommen. Es ging um eine Verdoppelung des realen Preises, den sie zu zahlen hatten. Nun sieht man schon die ersten Einschläge im Wald. Die Leute aus den Dörfern können die Gaspreise nicht mehr bezahlen und steigen auf Holz um. Leider hatten wir jetzt im Februar und März noch dazu sehr niedrige Temperaturen, um den Gefrierpunkt am Tag und zum Teil minus 10 Grad in der Nacht. Man ist energetisch zu 90 Prozent abhängig von russischem Gas, sowohl im Strom- als auch im Wärmebereich. Die alternativen Gasleitungen nach Rumänien können die Versorgung noch nicht verlässlich abdecken Ich hoffe, dass auch da die europäischen Partner weiter investieren werden.

Bist Du selbst gerade auch mit Deinem zivilgesellschaftlichen Netzwerk in Unterstützung von Flüchtenden aktiv?

Ja, in den Dörfern, in denen die moldauische Umweltorganisation EcoVisio - u.a. auch mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung - ohnehin zu Fragen der nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum arbeitet, haben wir Familien identifiziert, die Geflüchtete aufgenommen haben. Vor allem bei ihnen wollen wir sowohl die energetische Sanierung der Häuser begleiten wie auch direkte finanzielle Unterstützung leisten. Wir organisieren jetzt zudem Transporte aus Deutschland, und zwar mit den hier gerade knappen und teuren Gütern wie Möbeln, Betten und Matratzen. Wir versuchen jetzt, die ersten Chargen aus Deutschland mitzubringen und Patenschaften mit deutschen Familien zu vermitteln. Die ukrainischen Familien fühlen sich eigentlich ganz wohl in Moldau. Sprachlich und kulturell bleiben sie nahe an der Ukraine. Ich habe in meiner Wohnung hier vier Frauen aus Odessa, die sagen: Wir wollen nicht weiter. Sie kennen Chişinău aus ihrer Kindheit. Wir versuchen jetzt, Deutsche zu finden, die Patenschaften, direkte finanzielle Unterstützung übernehmen können und Lust haben, auch längerfristig mit moldauischen Gastfamilien in Kontakt zu treten, die Ukrainer beherbergen können, um finanzielle Engpässe und Spannungen zu vermeiden. Wenn sich in zehn Jahren vielleicht 300 ukrainische Kinder an das Jahr 2022 erinnern und denken: „Das war so ein merkwürdig viel zu langer Urlaub in diesem merkwürdigen moldauischen Dorf mit dieser merkwürdigen Sprache und den vielen Hühnern dort…“ Dann haben wir etwas Gutes geschafft. Es wäre wirklich super, wenn wir es schaffen könnten, die Traumata, die jetzt gerade die Kinder erleiden, ein wenig abzufedern.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Julian Gröger engagiert sich in dieser Initiative und sucht Familien-Paten: https://active-commons.org/ukraine-hilfe-2022