Es geht noch einen Meter tiefer in Bosnien und Herzegowina

Analyse

Seit Jahren stehen in Bosnien und Herzegowina demokratische Werte und Prinzipien von innen und außen unter Beschuss, ein Kampf zwischen Ethnokratie und Demokratie wird zulasten der Bürger*innen ausgetragen. Während Ethno-Oligarchen erbittert versuchen, ihre Macht auszubauen und auch für die Zukunft zu sichern, verabschieden sich Hunderttausende Bosnier*innen von ihrem Land und der aussichtslosen Perspektive. Die Vermittlerrolle der EU bleibt fragwürdig.

Nationalism kills

Bosnien und Herzegowina befindet sich in der schlimmsten Krise seit dem Ende des Krieges. Auf so vielen Ebenen und in so vielen Bereichen. Immer wenn man das Gefühl hat – und das eigentlich schon seit gefühlt einem Jahrzehnt und länger – dass es schlimmer nicht mehr kommen kann, dass endlich die Talsohle erreicht und ein Wendepunkt in Sicht sein muss, dann „schaufeln wir das Loch noch einen Meter tiefer“, wie eine Kollegin lakonisch erklärte. Dabei ist es nicht nur ein Loch, mit dem demokratische Prinzipien untergraben werden, nicht nur ein Krater, in dem staatliche Strukturen zu versinken drohen, nicht nur ein Graben, mit dem die Abgrenzung von vermeintlich anderen ethnischen Gruppen vertieft werden soll. Gegraben wird an allen Ecken und Enden, unermüdlich. Seit Jahren stehen in Bosnien und Herzegowina demokratische Werte und Prinzipien von innen und außen unter Beschuss, findet hier ein Kampf zwischen Ethnokratie und Demokratie statt. Während Ethno-Oligarchen erbittert versuchen, ihre Macht auszubauen und auch für die Zukunft zu sichern, reihen sich Bürger*innen aus allen Landesteilen Wochenende für Wochenende in stundenlange Staus vor der Grenze zu Kroatien ein, auf dem Weg in die Demokratie und die EU. Allein im zweiten Corona-Jahr 2021 sollen nach Angaben der Union für nachhaltige Rückkehr und Integration in BiH 170 000 Bosnier*innen ihre Heimat verlassen haben.

One Person – One Vote: Nicht in Bosnien und Herzegowina

Mitte März hat die bosnische Bürgerin Azra Zornić wiederholt einen wütenden offenen Brief geschrieben an die internationalen Vermittler*innen, die unbedingt eine Wahlrechts- und Verfassungsreform erringen wollten. Drei Tage später hat sie – und mit ihr viele andere – vermutlich erleichtert aufgeatmet, dass die Verhandlungen unter EU-Vermitterin Angelina Eichhorst zum x-ten und nun letzten Mal gescheitert sind.

Azra Zornić ist eine der sechs Appellant*innen, die Bosnien und Herzegowina vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagt und Recht bekommen haben. Seit 2009 hat das Gericht bisher fünfmal festgestellt, dass die bosnische Verfassung all diejenigen diskriminiert, die sich wie Frau Zornić als Bürger*innen deklarieren, oder der Gruppe der „Anderen“ angehören – all jenen, die sich nicht einer der drei konstituierenden Völkern zugehörig fühlen (wollen), oder die schlicht in der „falschen“ Entität leben, und deshalb nicht als Präsidentschaftsmitglied oder in die Völkerkammer gewählt werden können. 2014 erklärte das Gericht in Straßburg im Urteil ausdrücklich, dass die Zeit gekommen sei für ein politisches System, in dem jede*r Bürger*in das passive Wahlrecht besitzt, ohne spezielle Rechte an konstituierende Völker unter Ausschluss von Minderheiten und Bürger*innen zu geben. 2021 sollte das Jahr sein, in dem endlich eine Wahlrechts- und Verfassungsreform zustande kommt. Das war zumindest die Ansage internationaler Akteure. Als Vermittler*innen reisten immer wieder Angelina Eichhorst vom Auswärtigen Dienst der EU, sowie der von der US-Administration für Wahlreformen in Bosnien und Herzegowina speziell ernannte Beauftragte Matthew Palmer nach Sarajevo. Man bestellte die bosnisch-kroatische Partei HDZ und die bosniakische Partei SDA ein, erweiterte den Kreis um andere Parteien, verhandelte hinter verschlossenen Türen, erklärte, man sei nur in der Vermittlerposition und hätte keine eigenen Vorschläge, legte aber dennoch die unterschiedlichsten Ideen und Dokumente auf den Tisch, ohne dass diese öffentlich gemacht wurden, und schloss gleichzeitig Vorschläge von Parteien, die diese zum Teil bereits in die parlamentarische Prozedur eingebracht hatten, von den Verhandlungen aus, weil man diese als „unrealistisch“ einschätzte. Die liberale Partei „Naša Stranka“ etwa hat eine Verfassungsänderung entworfen, die statt bisher drei nur eine*n Präsident*in vorsieht und das „Haus der Völker“, die zweite Parlamentskammer, komplett abschafft und andere Mechanismen zur Wahrung „vitaler nationaler Interessen“ vorsieht.

Stattdessen hatte man bei den EU-US-geführten Verhandlungen anscheinend eher Verständnis für die Anliegen der nationalistisch ausgerichteten HDZ und deren seit Jahren vorgetragenen Mantra, dass möglichst nur Kroat*innen kroatische Vertreter*innen in die Präsidentschaft und Haus der Völker wählen sollen – was zu weiterer Vertiefung ethno-territorialer Aufteilung geführt hätte, zu mehr Ethnokratie statt echter Demokratie. Die Einrichtung weiterer ethno-territorial basierter Wahlkreise stand zur Diskussion, dann waren es nur „virtuelle“ oder gleitende Wahlkreise, plötzlich tauchten Wahlmänner auf, mit sehr ungleicher Stimmgewichtung – je nachdem, wo Wähler*innen leben und für wen sie stimmen, hätte ihre Stimme bis zu 13 Mal mehr Gewicht gehabt als eine Stimme einige Kilometer weiter entfernt. Unterstützung bekam die bosnische HDZ aus der EU selbst, Kroatien lobbyierte auf allen Ebenen und zu allen Gelegenheiten für eine Wahlreform im HDZ-Sinne. Selbst am Tag nach der russischen Invasion erklärte der kroatische Präsident Zoran Milanović, er habe Mitgefühl mit der Ukraine, aber das Wahlgesetz in Bosnien und Herzegowina sei von „vitalem Interesse“ für Kroatien und dürfe nicht vergessen werden.

Die Bürger*innen sind demokratischer als die Politiker*innen und EU-Vermittler*innen

Während bei den Verhandlungen ethno-nationalistische Kreise versuchten, ihre Macht auszubauen und weiter zu sichern, haben sich etliche zivilgesellschaftliche Initiativen gegründet oder zu Wort gemeldet, um endlich die Einhaltung demokratischer Prinzipien und Werte einzufordern. So etwa „izmjeneustava“, die über 63 000 Unterschriften sammelte, oder Pod Lupom, die 92 000 Unterschriften zur Nutzung von neuer Technologie im Wahlprozess überreichten. Um Bürger*innen in den Reformprozess einzubeziehen, hat die EU einen eigenen Bürgerrat ins Leben gerufenen und finanziert.Mit großen Worten war angekündigt worden, wie wichtig die Stimme der Bürger*innen in diesen Reformbemühungen sei, dass man sich dafür einsetzen wolle, dass die Bürger*innen gehört und ihre Anliegen ernst genommen werden. Mitten in den letzten Verhandlungstagen im März stellte Eichhorst die Empfehlungen vor: vier Präsidiumsmitglieder sollen zukünftig vom Parlament statt wie bisher direkt - gewählt und alle Häuser der Völker auf allen Ebenen abgeschafft werden. Diese Vorschläge landeten jedoch nicht auf ihrer Agenda. Stattdessen wurde weiter – ergebnislos - über Wahlmänner, Stimmgewichtung und die Besetzung der Häuser der Völker diskutiert. Auch Azra Zornić will, wie so viele andere, eine Reform, aber nicht um jeden Preis und nicht einfach irgendeinen, womöglich schlechten, Deal. Die Bürger*innen in Bosnien und Herzegowina sind längst weiter, demokratischer als viele ihrer Politiker*innen und als US-EU-Vermittler*innen.  

Angriff auf staatliche Strukturen zielen auf Zerstörung des Staates BiH

Parallel zu den Wahlrechts- und Verfassungsreformbemühungen, blockierte die serbische Seite die parlamentarische Arbeit und machte sich an die Abschaffung staatlicher Strukturen. Als Deutschland Christian Schmidt als Hohen Repräsentanten vorschlug, regte sich Widerstand in der Republika Srpska (RS), unterstützt von Serbien und Russland. Er sei nicht vom UN-Sicherheitsrat bestätigt – was Russland verhinderte – und somit nicht offiziell im Amt, ein Tourist lediglich, so das Narrativ. Nachdem der scheidende HR Inzko eine Gesetzesänderung verfügte und nun die Leugnung von Genozid und Kriegsverbrechen sowie die Verherrlichung von verurteilten Kriegsverbrechern unter Strafe steht, erklärten RS-Vertreter den Boykott staatlicher Institutionen, serbische Abgeordnete nahmen nicht mehr an Sitzungen teil und blockierten somit die parlamentarische Arbeit komplett. Auch wenn oft Inzko bzw. das Gesetz als Verursacher und Grund dieser Krise genannt wird – es ist lediglich ein Aufhänger.

Vielmehr geht es Milorad Dodik, und seiner in der RS regierenden Partei SNSD um die Sicherung der eigenen Macht, und um Widerstand gegen ein Urteil des bosnischen Verfassungsgerichtes, das bestätigt, dass die Ländereien nicht den Entitäten gehören sondern Staatseigentum sind. Die unter anderem an der Börse in London und Wien hoch verschuldete RS kann so nicht über Wälder, Wiesen, Flüsse, Seen verfügen und dringend benötigten Investoren zur Verfügung stellen. Drohte Dodik in den vergangenen Jahren bereits häufiger mit Sezession, Referenden, Unabhängkeitserklärungen, so wurde diesmal endgültigeine rote Linie überschritten, als das RS-Parlament im Oktober die staatliche Arzneimittelagentur für nicht mehr zuständig in der RS erklärte und ein Gesetz zur Gründung einer eigenen Agentur auf Entitätsebene verabschiedete. Gleichzeitig wurde angekündigt, auch eigene Armee, Richterrat und Mehrwertsteuersystem einführen zu wollen, parallel zu bestehenden Strukturen auf Staatsebene. Dies wurde am 10. Dezember im RS-Parlament offiziell bekräftigt.  Der OHR, der durchaus eingreifen und zum Beispiel Gesetze als ungültig erklären kann, äußerte sich „besorgt“.  Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant, der über weitreichende Bonn Powers verfügt, erklärte zuerst, diese lägen in der Schublade, später zeigte er sich gewillt, diese auch zu öffnen. Während der Ruf nach Sanktionen gegen Dodik immer lauter wurde, die immerhin von den USA verschärft wurden, traf der EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyj angeblich eine Übereinkunft mit Dodik, dass Gesetze zur Errichtung paralleler Strukturen erst nach einem sechsmonatigen Moratorium in Kraft träten. Anfang Februar beriet das RS-Parlament über ein Gesetz zur Errichtung eines eigenen Richterrates und die Nichtanerkennung des bestehenden auf Staatsebene.

Die Zerstörung der bosnischen staatlichen Strukturen, die Abspaltung der RS geht jedoch weiter und wird von Russland unterstützt. Dodik steht in direktem Kontakt mit Russlands Außenminister Lavrov. Innerhalb Bosnien und Herzegowinas kann Dodik auf Unterstützung von Cović zählen, bosnisch-kroatische und bosnisch-serbische Ethno-Oligarchen vereint für einen dysfunktionalen Gesamtstaat. Für den Westbalkan insgesamt zeichnen sich große Zuspitzungen ab: Neben der sich weiter verschärfenden inner-bosnischen politischen Krise ist es sind es vor allem die Folgen  des russischen Agressionskriegs gegen die Ukraine und die traditionelle Verbundenheit Serbiens mit Russland, die die Frage des russischen Einflusses in der Region nun endgültig in den Vordergrund rücken: Bereits in den letzten Jahren propagierte Serbien immer offener die Errichtung der "serbischen Welt" und erhob Anspruch, und Schutzmacht aller Serben zu sein. gerieren? Das stellt die Integrität der betreffenden Nachbarstaaten BiH, Montenegro und Kosovo  in Frage. Russlands Argumentation für die Invasion in der Ukraine folgte der gleichen Logik. Wenn sich EU und USA nicht zu entschiedeneren Maßnahmen durchringen bzw. weiter nationalistisch ausgerichtete Kräfte durch ihre Verhandlungen unterstützen statt progressive politische und zivilgesellschaftliche Akteure, sowie staatliche Institutionen (zB. Parlament, zentrale Wahlkomission) bewusst zu stärken, besteht das Risiko einer weiteren Radikalisierung und Zerstörung staatlicher Institutionen sowie der völligen Lahmlegung ihrer Funktionalität.

Bürger*innen sich selbst, steigenden Preisen und politischer Perspektivlosigkeit überlassen

Der Krieg gegen die Ukraine hat zweifelsohne Auswirkungen auf die politische Situation und auf den Alltag in Bosnien und Herzegowina. Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie marode beispielsweise das Gesundheitssystem ist, wie dysfunktional die vielen Ebenen und ungeklärten Zuständigkeiten sind und Bürger*innen sich selbst überlassen sind. Zu Zig-Tausenden fuhren sie über die Grenze und ließen sich in Serbien impfen, während bosnische Politker*innen monatelang die Verantwortung für die Bestellung von Impfstoff hin- und herschoben. Schon im letzten Jahr klagten Suppenküchen – die alle von Spenden leben – über einen hohen Andrang, selbst eine Suppenküche für Säuglinge wurde eröffnet. Seit dem Krieg gegen die Ukraine steigen Energie- und Lebensmittelpreise täglich, die Suppenküchen sind überfordert. Seit Jahren steigt die Zahl derer, die ihre Sachen packen und in die EU emigrieren. Die Liste all der Aufgaben, die der Staat, die öffentlicher Verwaltung erfüllen sollte, aber nur Lücken hinterlässt, ließe sich fortsetzen. Meist sind es Bürger*innen, Organisationen, die versuchen, die Lücke zu füllen. Dieser Kampf an gefühlt allen Ecken und Enden ist ermüdend und kräftezehrend. Und doch gibt es Widerstand, vor allem wenn es um die Zerstörung der Natur, der Umwelt, oft direkt vor der Türe geht. Eine Vielzahl von Gruppen und Aktivist*innen, mehrere lokale und regionale Netzwerke sind in der letzten Zeit entstanden vor allem im Kampf gegen Mini-Wasserkraftwerke und waren dabei erfolgreich.

Europa muss seine Werte auch in Bosnien und Herzegowina verteidigen  

Die schwachen, durch jahrzehntelange Parteienbesetzungen, Korruption und Machtmißbrauch geschwächten oder durch Blockadepolitik arbeitsunfähigen Institutionen, vor allem im Justizbereich, sind nicht fähig oder willens, diese schwerste politische Krise seit Ende des Krieges zu bewältigen. Sanktionen seitens der EU werden zwar vor allem von etlichen Europa-Abgeordneten gefordert, aber bisher konnte man sich lediglich auf das Aussetzen von EU-Geldern für bestimmte Förderprogramme in der RS einigen. Immerhin wurde die internationale Schutztruppe EUFOR von 600 auf 1100 Mitglieder aufgestockt.

Besonders die engagierte Kritik europäischer Abgeordneter,  sowie von Regierungen einzelner Mitgliedsstaaten als auch die Berichterstattung internationaler Medien wird von progressiven, bürgergesellschaftlich ausgerichteten Kreisen als sehr positiv und unterstützend wahrgenommen. Durch dieses Engagement und Aufmerksamkeit ist es vermutlich zu einigen "Kurskorrekturen" gekommen bzw. zur offene(re)n Diskussion und Reaktion weiterer Akteure.

Angesichts der weltpolitischen Geschehnisse und der seit über Jahrzehnten eskalierenden Situation in BiH, der immer weiteren Aushöhlung und Zersetzung staatlicher Strukturen und gemeinsamer Perspektiven, ist es allerhöchste Zeit, sich eindeutig und entschieden für demokratische Werte, gegen weitere ethno-nationalistische Tendenzen und territoriale Aufteilung einzusetzen und alles daran zu setzen, dass diesen Bestrebungen Einhalt geboten wird. So wie in der Ukraine europäische, demokratische Werte verteidigt werden, müssen diese auch hier verteidigt werden. Appeasement-Politik mit Nationalisten und Autokraten sollte sich seit Februar 2022, seit der „Zeitenwende“ als endgültig falscher Ansatz herausgestellt haben.