Unruhen in Kenia 2007 / 2008 - Kenia nach der Explosion

Die Explosion der Gewalt, die Kenia in den Tagen nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 27. Dezember 2007 erlebte, ist wieder abgeebbt. Manipulationen bei der Auszählung, die vermutlich das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen auf den Kopf gestellt haben, bildeten den Auslöser für den Ausbruch der Gewalt. Einschätzung und Analyse von Axel Harneit-Sievers. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

Die Explosion der Gewalt, die Kenia in den Tagen nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 27. Dezember 2007 erlebte, ist wieder abgeebbt. Manipulationen bei der Auszählung, die vermutlich das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen auf den Kopf gestellt haben, bildeten den Auslöser für den Ausbruch der Gewalt. Kämpfe zwischen ethnischen Gemeinschaften, Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten sowie vor allem Pogrome organisierter Milizen gegen Mitglieder ethnischer Gruppen, die bei den Wahlen für die „falsche Seite" gestimmt hatten, forderten seit den letzten Dezembertagen rund 300 Todesopfer. Die Zahl von Binnenflüchtlingen ist nach einigen Angaben auf inzwischen 300.000 Menschen angewachsen. Das wirtschaftliche Leben, das seit den Weihnachtstagen fast vollständig zum Stillstand gekommen war, kommt allenfalls sehr langsam wieder in Gang –  vor allem gibt es noch erhebliche Probleme beim Gütertransport. Dies hat inzwischen auch zu Problemen bei der Versorgung im angrenzenden ostafrikanischen Hinterland (vor allem Uganda und Ruanda) geführt. Nach wie vor ist die Sicherheitslage angespannt, vor allem in West-Kenia und im nördlichen Rift Valley.

Perspectives Afrika: In dieser englischsprachigen Publikationsreihe wollen wir Fachleuten aus Afrika eine Plattform bieten, ihre Ansicht zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ihrer Regionen zu veröffentlichen. Perspectives Africa legt dabei den Fokus auf Standorte im Süden, Osten und Westen des Kontinentes an denen die Heinrich-Böll-Stiftung mit Regionalbüros vertreten ist.

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Währenddessen unternimmt das vom Ausmaß der Gewalt schockierte Land an diesem ersten Wochenende des neuen Jahrs eine Bestandsaufnahme der Verluste und organisiert die humanitäre Hilfe für die Opfer. Die politischen Folgen der offenkundigen Wahlmanipulation sind Gegenstand intensiver Vermittlungen durch internationale Akteure – vom südafrikanischen  Erzbischof Desmond Tutu bis zur US-Diplomatin Jendayi Frazer. Zugleich gewinnen Stimmen aus der zivilen Gesellschaft Kenias – Medien, Wirtschaft, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen – an Bedeutung, die in drängenden Aufrufen zuallererst für Frieden, Dialog und Kompromiss eintreten, unabhängig von der Frage, welche Seite denn nun eigentlich die Wahlen gewonnen habe.

Die Eskalation der Gewalt

Die Wahlen am 27. Dezember 2007 waren zunächst ausgesprochen gut verlaufen. Es gab es eine hohe Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent, und trotz einiger Verzögerungen und technischer Probleme kam es zu wenigen ernsthaften Zwischenfällen. Auch die Auszählung verlief zunächst gut. Bereits am Abend des 28. Dezember wurde deutlich, dass die Wählerinnen und Wähler eine ganze Reihe von teilweise durch Korruptionsskandale belasteten alten Politiker, vor allem aus Präsident Mwai Kibakis Party of National Unity (PNU), abgewählt hatten; 20 amtierende Minister einschließlich des Vizepräsidenten verloren ihr Parlamentsmandat. Alles schien zunächst auf einen Wahlsieg von Raila Odingas Orange Democratic Movement (ODM) und eine schnelle Auszählung hinzudeuten, doch wurden diese Hoffnungen in den beiden folgenden Tagen enttäuscht. Die Spannungen wuchsen merklich – selbst der Vorsitzende der Wahlkommission, Samuel Kivuito, klagte darüber, dass Ergebnisse aus diversen Wahlbezirken sehr spät eintrafen. Am 29. Dezember erklärte Odinga sich zum Wahlsieger, und es kam zu Demonstrationen gegen die Verzögerungen der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Im Verlauf des 30. Dezember stieg die Anspannung weiter – und am Abend desselben Tages verkündete ein sichtlich überforderter Kivuito dann einen überraschenden, recht knappen Sieg Kibakis. Kivuito tat dies nur vor ausgewählten Medienvertretern, denn die reguläre Verlesung einiger Wahlergebnisse, die offenkundige Ungereimtheiten aufwiesen (wie auch die EU-Wahlbeobachter feststellten) war nach Handgreiflichkeiten abgebrochen worden. Eine Stunde später wurde Präsident Kibaki nichtöffentlich für weitere fünf Jahre als Präsident vereidigt. Raila Odinga hat dieses Verfahren als zivile Version eines Putsches bezeichnet.

Noch am selben Abend verbot die Regierung unter Hinweis auf die Sicherheit sämtliche Live-Berichterstattung in den elektronischen Medien sowie eine für den Folgetag angekündigte Demonstration der ODM in Nairobi. Derweil brachen Unruhen in allen großen Städten aus, am schlimmsten offenbar in Kisumu am Victoria-See, der Metropole der Luo-Region, aus der Kibakis Herausforderer Raila Odinga stammt, und in den ethnisch gemischten Slums von Nairobi, wo Milizen agieren. Aber auch in zahlreichen anderen Landesteilen begannen Angriffe auf Kikuyu und andere Mitglieder ethnischer Gruppen, die als Parteigänger Kibakis galten. Am dramatischsten jedoch entwickelte sich die Lage in der nördlichen Rift Valley Province, wo es regelrechte Pogrome gegen die ansässige Kikuyu-Minderheitsbevölkerung gab. Diese erreichten ihren traurigen Höhepunkt im Brandanschlag auf eine Kirche in Eldoret, in die sich zahlreiche Flüchtlinge gerettet hatten, von denen mehrere Dutzend ums Leben kamen – ein Vorfall, der alle Lager in dem tiefreligiösen Land erschütterte.

Starke Sicherheitskräfte, vor allem die paramilitärische General Service Unit (GSU),  verhinderten die für den 31. Dezember und dann für den 3. Januar angekündigte ODM-Demonstration im Uhuru Park in Nairobi, konnten Plünderungen aber nicht vollständig verhindern. Eine für den 4. Januar angekündigte weitere Demonstration in Nairobi kam mangels Beteiligung nicht zustande. Seither haben die Sicherheitskräfte die  Lage in Nairobi und den meisten Landesteilen stabilisiert. Bei aller Kritik an ihrer politischen Funktion, ein höchst fragwürdiges Wahlergebnis durchzusetzen, ist das Verhalten der Sicherheitskräfte als insgesamt professionell und auf Schutz und Deeskalation orientiert zu werten. So dramatisch die Fernsehbilder von Tränengaseinsätzen gegen Demonstrationen im Zentrum Nairobis auch wirken: In den Slums Nairobis, in West-Kenia und im Rift Valley dient der Einsatz von GSU und Militär wesentlich dem Schutz der Zivilbevölkerung, etwa indem Milizen und Banden bekämpft oder Straßensperren beseitigt werden, um Fluchtwege für Vertriebene zu öffnen. Allerdings reichen die Kapazitäten der Sicherheitskräfte offenkundig nicht aus, um die Sicherheit in kritischen ländlichen Regionen zu gewährleisten. Dies erklärt die Massenflucht aus solchen Gegenden in die relative Sicherheit der Städte, wo Flüchtlinge eher von Hilfslieferungen erreicht werden als auf dem Land.

Die politische Logik der Gewalt

Der politische Protest gegen die Wahlfälschung ist mit sozialen Problemen und einer Politisierung ethnischer Konflikte eine brisante Mischung eingegangen. All dies hat zu einer Explosion geführt, wie sie das in seiner Selbstwahrnehmung fortgeschrittene und friedliche Kenia seit seiner Unabhängigkeit 1963 nicht erlebt hat. Vier Faktoren lassen sich identifizieren: ein hoher Erwartungsdruck auf Seiten der Opposition, die Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung selbst, die Politisierung ethnischer Konkurrenz und die populistische Strategien der Opposition.

1. Erwartungsdruck und Ängste vor der Wahl
Noch im Sommer 2007 waren die meisten Beobachter von einem klaren Wahlsieg des amtierenden Präsidenten Mwai Kibaki ausgegangen. Letzterer hat zwar in einigen Bereichen, insbesondere bei der Bekämpfung von Korruption und Selbstbereicherung auf höchster Ebene, versagt. Doch sprachen für ihn die ausgesprochen positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung, deutliche Fortschritte beim Aufbau von Infrastruktur, der Reform von Staatsunternehmen und der Agrar-Vermarktungsagenturen sowie – sehr populär – die Abschaffung der Schulgebühren für die Primarschulen.

Im Herbst 2007 zeigten Umfrageergebnisse dann, dass Raila Odinga und seine ODM rasch an Beliebtheit gewannen. „Raila", wie er überall genannt wird, mobilisierte unter dem Stichwort „Wandel" die Unzufriedenheit derjenigen, die nicht oder wenig vom Wirtschaftsboom profitierten.

In populistischer Manier und mit einer professionellen Kampagne schuf Raila einen großen Erwartungsdruck. In Umfragen hatte er phasenweise einen Vorsprung von rund 10 Prozent auf Kibaki. Später allerdings begann dieser Vorsprung wieder abzuschmelzen. Im Dezember war sein Vorsprung gegenüber Kibaki nur noch gering. Raila jedoch war offenbar davon überzeugt, dass er die Wahlen gewinnen werde – und eine Niederlage nur durch Manipulation zustande kommen könne. Dieser Logik folgend rief sich Raila denn auch bereits während der Auszählung zum Sieger aus und versuchte unmittelbar nach der offiziellen Bekanntgabe des Ergebnisses, sich in einer öffentlichen Kundgebung in Nairobi zum „people's president" ausrufen zu lassen – was die Regierung allerdings mit massivem Einsatz von Sicherheitskräften verhinderte.

2. Wahlauszählung und Wahlbetrug
Auf Seiten der Opposition war damit eine Anspannung erzeugt, die sich im Verlauf der Auszählung nach dem 27. Dezember als fatal erweisen sollte. Die Wahlkommission veröffentlichte die Ergebnisse einzelner Wahlkreise (getrennt nach Parlaments- und Präsidentschaftswahlen) live im Fernsehen. Während die Ergebnisse für die Parlamentssitze eindeutig waren, wurden die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in den einzelnen Wahlkreisen inoffiziell kontinuierlich aufaddiert. Solche Zwischenergebnisse hatten nur vorläufigen Charakter, aber sie wurden weithin als wichtige Tendenzaussagen, wenn nicht bereits quasi als Endergebnis verstanden.

Am Ende des ersten Tags der Auszählung (28. Dezember) führte Raila mit etwa 51 zu 41 Prozent gegenüber Kibaki. Im Lauf des 29. Dezember kamen dann mehr Ergebnisse aus der Central Province, den Kibaki-Hochburgen, hinzu. Am Abend dieses Tages hatte Raila nur mehr eine hauchdünne Mehrheit. Dies hat die Vermutungen, es sei zu Fälschungen gekommen extrem verschärft. Das am Abend des 30. Dezember von der Wahlkommission veröffentlichte Ergebnis wies 47 Prozent für Mwai Kibaki gegenüber 44 Prozent für Raila aus – ein Unterschied von rund 230.000 Stimmen.

Der Verlauf der Auszählung bestätigte für viele, die mit Fälschungen rechneten, ihre schlimmsten Befürchtungen. Das späte Eintreffen, beziehungsweise die späte Bekanntgabe der Ergebnisse aus Kibakis Hochburgen waren in der Tat unverständlich. Möglich ist, dass Ergebnisse bewusst zurückgehalten wurden, um sie zum Ende der Auszählung hin in einer Weise zu manipulieren, die eine Stimmenmehrheit Kibakis sicherstellt. Einige der am 30. Dezember veröffentlichten Zahlen – beispielsweise die von der EU-Beobachtermission umgehend kritisierte nachträgliche Ergänzung von 25.000 Stimmen für Kibaki auf den Zählformularen im Wahlbezirk Molo – waren so offenkundig zugunsten des amtierenden Präsidenten manipuliert, dass sie nur mehr als dilettantische Fälschungen bezeichnet werden können. Die entstandene Anspannung entlud sich unmittelbar in physischen Attacken auf den Vorsitzenden der Wahlkommission und leitete die Explosion der Gewalt im Lande ein.

Wer hat die Wahlen in welcher Weise manipuliert? In einzelnen Wahllokalen wurden die Wahlurnen offenbar mit zusätzlichen Stimmzetteln gefüttert. Dies geschah nicht nur in den Hochburgen der PNU, sondern wohl auch in denen der ODM. Darüber hinaus hat es offenbar Manipulationen bei der Addition der Stimmen gegeben, die wohl vor allem Kibaki zugute kamen. Die EU-Beobachtermission führt derzeit Dokumenten- und statistische Analysen zur Identifikation typischer Fälschungsmuster durch.

Klar ist, dass Wahlergebnisse manipuliert wurden. Dass der Umfang der Unregelmäßigkeiten die ODM und Raila ihres legitimen Siegs beraubt hat, ist nicht nachgewiesen (und möglicherweise auch nicht mehr nachweisbar), aber es ist sehr wahrscheinlich. Zahlreiche nationale wie internationale Beobachter sind jedenfalls inzwischen von dieser Version der Ereignisse überzeugt. Selbst der sichtlich überforderte Chef der Wahlkommission gab in einem Fernsehinterview am Neujahrstag zu, er sei sich nicht mehr sicher, ob Kibaki die Wahlen wirklich gewonnen habe.

Auch wenn vermutlich beide Seiten in Unregelmäßigkeiten verstrickt waren, herrscht doch inzwischen die Wahrnehmung vor, ein Kern von Personen um Präsident Kibaki  habe die Ergebnisse systematisch gefälscht. Inwieweit der Präsident selbst daran beteiligt war ist offen – zumal im Vorfeld der Wahlen der Eindruck entstanden war, Kibaki sei Demokrat genug, um keine Wahlfälschung zu betreiben. Dasselbe galt und gilt allerdings sicher nicht für die Politiker und Berater in seinem Umfeld. In jedem Fall bleibt Kibaki dafür verantwortlich, ein hochgradig fragwürdiges Wahlergebnis akzeptiert und rücksichtslos mit fatalen Folgen zunächst einmal durchgesetzt zu haben.

3. Ethnisierung der Parteipolitik und ethnische Gewalt
Der Wahlkampf hat zu einer scharfen ethnischen Polarisierung zwischen Kikuyu (mit ca. 22% der größten Bevölkerungsgruppe, pro-Kibaki) und Luo (ca. 13% der Bevölkerung, pro-Raila) geführt. Tatsächlich ist Ethnizität („tribalism" im lokalen Sprachgebrauch) seit der Unabhängigkeit ein wichtiger Faktor in der kenianischen Politik. Für sich allein genommen erklärt Ethnizität allerdings nur wenig die Dynamik politischer Prozesse im Land – und auch kaum die Explosion der Gewalt seit Ende Dezember.

Die Mehrheit der Kenianerinnen und Kenianer verortet sich politisch entlang ethnischer Loyalitäten und unterstützt üblicherweise lokale oder nationale Führer der eigenen Gruppe. Doch die Konkurrenz lokaler und nationaler politischer Führer untereinander führt zu zahlreichen, bisweilen verwirrenden Mustern von Parteibildungen und Koalitionen. Mangels Bevölkerungsgröße kann keine einzelne ethnische Gruppe das politische System Kenias dominieren; um die Macht zu erringen, müssen Koalitionen geschlossen werden. Im Endergebnis stand Kenia seit seiner Unabhängigkeit 15 Jahre lang unter der Präsidentschaft von Jomo Kenyatta (Kikuyu) und danach 24 Jahre unter Daniel arap Moi (Kalenjin) – all dies im Rahmen der dominanten Kenya African National Union (KANU).

Die von Mwai Kibaki und Raila Odinga geführte Koalition, deren Wahlsieg Ende 2002 die KANU-Herrschaft beendete und die Demokratie in Kenia wiederbelebte, trug nur insofern einen ethnisch übergreifenden Charakter, als sie Luo und Kikuyu (und viele andere) gegen einen Kikuyu-Kandidaten der KANU zusammenbrachte. Diese Koalition zerbrach bereits 2004 wieder, als die vereinbarte Machtteilung zwischen einem eher zeremonialen Präsidenten (Kibaki) und einem für das politische Alltagsgeschäft zuständigen Premierminister (Raila) nicht zustande kam. Damit war der Versuch gescheitert, einen Repräsentanten der Luo zum Führer Kenias zu machen – nicht zum ersten Mal, denn bereits in den 1960er Jahren hatte sich Railas Vater Oginga Odinga nicht gegen Jomo Kenyatta durchsetzen können. Der Kikuyu-Luo-Gegensatz wird darüber hinaus auch aus der Tatsache gespeist, dass ein Gutteil der kenianischen Wirtschaft von Kikuyu kontrolliert wird, und die Luo sich als marginalisiert betrachten. Ein Wahlsieg Railas im Jahr 2007 hätte aus der Sicht vieler „einfacher Leute" aus den Luo-Gebieten die Chance geboten, das, was sie als ihre historische Benachteiligung wahrnehmen, zurechtzurücken – und sei es nur durch die Vorstellung, nach einem ODM-Sieg keine Mieten mehr an Kikuyu-Hauseigentümer in Nairobi zahlen zu müssen.

Verkörpert durch die beiden Hauptkontrahenten Kibaki und Raila, wurde der Kikuyu-Luo Gegensatz so zu einem zentralen Motiv des Wahlkampfs 2007. Die Wahlergebnisse in den beiden ethnischen Kerngebieten, in denen 90% der Menschen für „ihren" jeweiligen Kandidaten stimmten, belegen den Grad der ethnischen politischen Mobilisierung. In der Explosion der Gewalt ab dem 29. Dezember kam es denn auch zu zahlreichen Angriffen auf Kikuyu und ihren Besitz in der Luo-Region West-Kenias sowie zu zahlreichen Kämpfen zwischen militanten Gruppen von Kikuyu und Luo in den Slums von Nairobi.

Einige Führer anderer Regionen oder Gruppen gingen mit kleineren Parteien eigene Wege, insbesondere Kalonzo Musyoka (ein Kamba mit seiner Partei ODM-Kenya), der bei den Präsidentschaftswahlen 9 Prozent der Stimmen erhielt. Andere schlossen sich einer der beiden großen Gruppierungen an.

Die große Mehrheit der Muslime an der kenianischen Küste stimmte vermutlich für die ODM, da sie sich von der Regierung Kibaki ausgegrenzt und als Bürger zweiter Klasse behandelt sahen. Auch an der Küste gab es nach den Wahlen Übergriffe gegen Kikuyu, doch deutlich weniger als in West-Kenia oder im Rift Valley.

Die Kalenjin im nördlichen Rift Valley unterstützten die ODM, in deren Führung der altgediente Kalenjin-Politiker William Ruto eine wichtige Rolle spielt. Der ehemalige Präsident arap Moi – selbst Kalenjin – hatte zur Wahl Kibakis aufgerufen. Die Stimmabgabe für die ODM wiederholte in der Region im Jahr 2007 einen Wandel, der in anderen Landesteilen bereits 2002 stattgefunden hatte. In der Kalenjin-Region nördlich von Nakuru und um Eldoret spielt darüber hinaus die Landfrage eine zentrale Rolle: In diesen Gebieten hatten seit der Unabhängigkeit kenianische Regierungen Kikuyu-Bauern angesiedelt. Im Wahlkampf unterstützen diese Kibaki – und bei der Gewalt nach den Wahlen wurden viele von ihnen Opfern von Vertreibungen und regelrechten Pogromen; diese Gruppe stellt heute einen großen Anteil der Binnenflüchtlinge.

Es war vor allem vor dem Hintergrund dieser Ereignisse im nördlichen Rift Valley, dass der Landminister der Kibaki-Regierung den unsinnigen Vorwurf erhob, die Opposition betreibe Völkermord. Raila Odinga konterte dies mit dem Vorwurf, die Aktionen der Sicherheitsorgane gegen Demonstranten in West-Kenia seien Völkermord. Beide Vorwürfe sind absurd, da – so tragisch die Ereignisse sind – keine Seite eine systematische Ausrottungspolitik betreibt. Vielmehr handelt es sich um lokale Konflikte um Ressourcen, vor allem um Land, die vor dem Hintergrund einer nationalen politischen Krise explodiert sind. Die Völkermord-Vorwürfe richteten sich vermutlich eher an die internationale Öffentlichkeit und dienten der eigenen Legitimation in der Hitze des Gefechts. Einige internationale Medien haben den Vorwurf des Völkermords schnell und in ausgesprochen sensationsheischender Weise aufgegriffen und Vergleiche mit der Situation in Ruanda 1994 gezogen. Dies ist durch nichts gerechtfertigt, hat aber dem Image Kenias und Afrikas generell bereits Schaden zugefügt.

In Kenia selbst werden solche Völkermord-Debatten nicht wirklich ernst genommen. Ein Blick auf die Situation vor Ort lenkt den Blick jedoch auf ein anderes Spannungsfeld. Raila und die ODM hatten in den Wochen vor der Wahl unter dem Stichwort „majimbo“ („Regionalismus" oder auch „Föderalismus") eine Debatte über Dezentralisierung und größere regionale Autonomie ausgelöst. Dies sind politische Ziele, über deren Sinn oder Unsinn die politischen Eliten in Nairobi sicher trefflich streiten können. Bei vielen weniger gebildeten Kenianerinnen und Kenianern löste die majimbo-Debatte allerdings ganz andere Hoffnungen und Ängste aus: Viele verstanden unter „majimbo“ ein Prinzip unterschiedlicher Staatsbürgerrechte, das es erlauben würde, Menschen, die sich in anderen Landesteilen als ihren (ethnisch gesehen) Herkunftsgebieten niedergelassen hatten, zu vertreiben oder ihre Ansiedlung außerhalb ihrer „Heimatregion" zu verhindern. Insofern wurde „majimbo“ als potentielle Waffe der Luo und anderer Gruppen gegen die ökonomische Dominanz der Kikuyu verstanden. Natürlich hat die Führung der ODM solchen Vorstellungen immer öffentlich widersprochen, doch muss man davon ausgehen, dass populäre Vorstellungen davon, was „majimbo“ bedeutet, das Verhalten der Bevölkerung nach wie vor beeinflussen – bis hin zu den jüngsten Gewaltexzesse im Rift Valley.
 
4. Populistische Strategien
Wut und Frustration bei der ODM über die „gestohlene Wahl" sind legitim und nachvollziehbar. Die Strategie Raila Odingas jedoch, sich durch „people's power" zum Führer des Landes ausrufen zu lassen, wurde bald fragwürdig, denn sie nahm wenig Rücksicht auf die landesweite Explosion der Gewalt. Natürlich appellierte die Führung der ODM auch an ihre Unterstützer, keine Gewalttaten zu begehen. Allerdings wirkte sie dabei wenig überzeugend, nicht zuletzt weil sie selbst mehrfach zu Demonstrationen in Nairobi aufrief, die offenkundig zu massiven Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften führen würden. Die Führung der ODM sagte diese Demonstrationen erst spät ab. Bereits mobilisierte Demonstranten – viele von ihnen unter dem Motto „No Raila, no peace" – lieferten sich Schlachten mit der Polizei, begleitet von Plünderungen. Auch wenn man ihr nicht unterstellt, die Gewalt aktiv gefördert zu haben, kalkulierte die ODM-Führung in den ersten Tagen Gewalt als Druckmittel zumindest mit ein. Erst seit dem Gespräch Railas mit Desmond Tutu am 3. Januar 2008 scheint die ODM ernsthaft verhandeln zu wollen. Am 5. Januar reisten Teile der ODM-Führung erstmals nach Kisumu in West-Kenia, um zu ihren Anhängern zu sprechen. Dafür war es auch höchste Zeit, denn inzwischen waren wachsende Teile der kenianischen Öffentlichkeit vom Ausmaß der Gewalt so schockiert, dass die ODM selbst jene Legitimität zu verlieren drohte, die sie aus der Tatsache des Wahlbetrugs zog.

Raila Odinga ist ein ausgesprochen populistischer Politiker, dessen Anziehungskraft vor allem für Junge und Arme auch vor den Wahlen unübersehbar war. Obwohl er selbst durchaus ein Machtpolitiker der alten Schule ist, hat sein Versprechen, „Wandel" zu bringen, erhebliche Teile der Bevölkerung elektrisiert. Seine Warnungen vor einer möglichen Fälschung der Wahlen enthielten immer auch eine implizite Androhung von  Gewalt.
Inwieweit die ODM-Führung in den kritischen Tagen um den Jahreswechsel in der Lage war, Ausmaß und Richtung der Gewalt in Kenia zu beeinflussen, ist schwer zu beurteilen. Es wäre gewiss verfehlt, der nationalen ODM-Führung zu unterstellen, sie hätte die Gewalt aus politischen Gründen ausgelöst oder gesteuert. Aber die Führung der ODM hätte möglicherweise mehr tun können, um die Gewalt einzudämmen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass politische Führer vor Ort an der Eskalation beteiligt waren – aber in welcher Weise und in welchem Ausmaß, lässt sich ohne Ortskenntnis nicht einschätzen. Es bleibt zu hoffen, dass die ODM ihre Verantwortung, Gewalt zu verhindern, in den nächsten Wochen ernster nehmen wird als bisher.

Wie kann es weitergehen?

Die internationale Gemeinschaft war vom Ausmaß der Gewalt überrascht. Zahlreiche Aufrufe zum Dialog und Angebote zur Vermittlung begannen unmittelbar nach dem Neujahrstag. Vor allem der Besuch Desmond Tutus am 3. Januar und seine Gespräche mit Kibaki und Raila scheinen die Dialogbereitschaft beider Seiten gefördert zu haben.

Allerdings sind die Positionen beider Seiten nach wie vor sehr weit voneinander entfernt: Die ODM strebt eine internationale Vermittlung an sowie Neuwahlen. Dagegen betrachtet Kibaki sich als legitim gewählten Präsidenten. Die Unruhen sieht er als innere Krise Kenias, und er ist allenfalls gewillt internationale Unterstützung für einen Dialog zuzulassen. Immerhin hat Kibaki inzwischen eine Regierung der nationalen Einheit als Möglichkeit ins Spiel gebracht. Die ODM ihrerseits ist von der Forderung abgerückt, Kibaki müsse, bevor überhaupt Gespräche stattfinden könnten, zugeben, seine Wahl sei unrechtmäßig zustande gekommen. Eine Beteiligung der ODM an einer Regierung unter Kibakis Präsidentschaft scheint aber nach wie vor unwahrscheinlich.

Für die Woche ab dem 7. Januar 2008 ist damit zu rechnen, dass Kibaki ein Kabinett vorstellen wird, in dem möglicherweise, als Angebot an die ODM, Sitze freigehalten werden. Die ODM hat erneut landesweite Demonstrationen für Dienstag, den 8. Januar, angekündigt, die wohl wieder nicht genehmigt werden. Derweil werden Kenias Institutionen mit der Sicherung des Friedens, humanitärer Hilfe für die Opfer sowie der Wiederankurbelung der fast zum Stillstand gekommenen Wirtschaft beschäftigt sein. Im Finanzsektor dürfte die Eskalation ihre vollen Auswirkungen überhaupt erst in den nächsten Tagen zeigen.

Verschiedene Akteure, darunter Mitglieder der Wahlkommission, haben für eine Neuauszählung unter gerichtlicher Aufsicht plädiert. Die ODM-Führung lehnt dies ab, da sie den Institutionen nicht traut. Ob eine erneute Auszählung Klarheit schaffen könnte, ist zweifelhaft, da offenbar viele verschiedene Manipulationen vorgenommen wurden. Neuwahlen scheinen kurzfristig kaum möglich zu sein. Im besten Fall ist mit einer Übergangsregierung zu rechnen, an der auch die ODM beteiligt ist.

Hierbei könnten andere Akteure eine wichtige Rolle spielen. Neben Kalonzo Musyoka von ODM-Kenya könnte das Parlament an Bedeutung gewinnen – wenn es denn erst einmal eröffnet wird. Die ODM ist mit 99 von 210 gewählten Sitzen (12 weitere werden später von den Parteien nach ihrer jeweiligen Stärke besetzt) zwar die stärkste Fraktion, doch verfügt sie auch mit ihren Verbündeten nicht über die Mehrheit. Kibakis PNU allein hat sogar nur 43 Mandate. Am 5. Januar formierte sich eine Smaller Parties Parliamentary Group (SPPG) mit 35 Sitzen, die damit, noch vor ODM-Kenya (16 Sitze), zur drittstärksten Gruppe im Parlament wird. Angesichts dieser Vielfalt könnte das Parlament eigene Initiativen entwickeln, zumal viele Mandate mit Parlaments-Neulingen besetzt sind.

Darüber steht zu erwarten, dass zivilgesellschaftliche Akteure ihre Aktivitäten zur Friedenssicherung und Förderung des Dialogs zwischen den Hauptkontrahenten ausweiten werden. Parallel zu den Aufrufen religiöser Organisationen und Unternehmen hat die nationale Menschenrechtskommission von der Regierung eine umfassende Untersuchung der Wahlen, das Recht auf friedliche politische Demonstrationen sowie die Offenlegung und Einhaltung von Regeln der Rechtsstaatlichkeit bei den Aktivitäten der Sicherheitskräfte gefordert. Mit zahlreichen anderen Initiativen ist zu rechnen.
 


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