In der Region Polissja rund um die einst blühende ukrainische Kleinstadt Tschernobyl scheint die Zukunft ausgeschlossen auf unvorstellbare Zeit. Seit einem Vierteljahrhundert findet hier nur der überwachte Verfall statt. ➢ Jetzt das Dossier zu 30 Jahren Tschernobyl lesen!
Die Sperrzone, die nach dem Reaktorunfall im Block 4 des Kernkraftwerks mit einem Radius von 30 Kilometern errichtet wurde, wirkt verlassen. Die wenigen Menschen, die hier leben, sind alt und haben Angst zu sterben, ohne dass jemand es merkt. Die historische Stadt Tschernobyl ist weitgehend verwaist, die Ruine der Nachbarstadt Prypjat menschenleer, das Landschaftsbild gleicht teilweise dem eines riesigen Gräberfelds. 300 Dörfer in der einst reichen Kulturlandschaft wurden nach dem Unfall evakuiert, 100 weitere wurden wegen zu hoher Strahlenwerte untergepflügt. Etwa 350.000 Menschen sind nach der Katastrophe aus ihnen geflohen.
Noch 300 Jahre verstrahlt
Der Sarkophag, der die Reste des havarierten Block 4 des Kernkraftwerks einschließt, ist undicht und nicht mehr stabil. Der mit 800 Millionen Euro aus internationalen Quellen finanzierte „Shelter Implementation Plan“ von 1997 sieht vor, eine 100 Meter hohe Stahlkonstruktion als neue Schutzhülle um den Reaktor zu bauen. Aber bis heute ist nicht viel passiert. Noch nicht einmal die Aufräumarbeiten am ehemaligen Atomkraftwerk sind abgeschlossen. Keine der Anlagen zur Behandlung oder Lagerung des Atommülls wurde nach Plan fertig gestellt, Korruption und die Bedingungen der Zone erschweren die Entsorgung. Noch heute fahren täglich Tausende zum Arbeiten in die Zone und ans Kraftwerk, der radioaktive Müll stapelt sich in Hunderten von Zwischenlagern. Nach Ansicht des britischen Atomexperten John Large ist es praktisch unmöglich, die Evakuierungszone vollständig zu dekontaminieren, sie wird wohl mindestens die nächsten 100 bis 300 Jahre isoliert und kontrolliert werden müssen.
Vor allem in Weißrussland, der Ukraine und in Russland werden die Langzeitfolgen des GAUs erst jetzt sichtbar. Die Anzahl der als Folge von Tschernobyl dauerhaft Behinderten hat sich von 200 Personen im Jahr 1991 auf mehr als 91.000 im Jahr 2001 erhöht. Etwa sieben Millionen Menschen in der Ukraine haben als anerkannte Tschernobyl-Opfer Anspruch auf Sonderbeihilfen, Renten und bevorzugte medizinische Betreuung. 237 Notfall-Einsatzkräfte waren durch akute Strahlenkrankheit betroffen, fast 50 von ihnen starben bis 2004.
Die Gesamtzahl der Todesopfer wird nie genau zu bestimmen sein. Der TORCH-Bericht zu den gesundheitlichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe kam 2006 aber zu dem Ergebnis, dass Hunderttausende Menschen erkrankten und Zehntausende starben oder sterben werden. Es wäre aber unzureichend, die Folgen der Reaktorkatastrophe allein an den Todesfällen festzumachen. Zu schmerzlich sind die Verluste, welche die Tschernobyl-Opfer, die überlebt haben, erdulden müssen: den Verlust von Heimat, Verlust der eigenen Geschichte, Verlust der Lebensgrundlage.
Ungebrochene Traditionslinie
Keine Frage, die ukrainische Bevölkerung ist von der Katastrophe und ihren gravierenden Folgen traumatisiert. Trotzdem stößt die Nutzung der Atomkraft nicht überall im Land auf Ablehnung, die Produktion von Atomstrom ist nach der Katastrophe nicht verringert worden. Aktuell werden in der Ukraine 15 Atomreaktoren betrieben, die etwa 47 Prozent des Stroms liefern. Die Machthaber ziehen eine ungebrochene Traditionslinie zu der Industrialisierung der 1930er Jahre. Was damals die gewaltigen Wasserkraftwerke an Dnjepr und Wolga und die Kohlegruben des Donbass waren, wurden in den 1970ern die gewaltigen Atomkraftwerke vom Typ Tschernobyl. Das Credo der Staatsmacht: Zu lernen sei nichts Grundsätzliches aus dem GAU, außer dass man solche Fehler nicht wiederholen dürfe.
Auch in der ukrainischen Bevölkerung hat Tschernobyl keine breite Anti-AKW-Bewegung ausgelöst. Wahrscheinlich, weil auch im Westen die Bewegung kein Reflex auf den GAU war, sondern vielmehr auf einem zivilgesellschaftlichen Umdenken beruhte, das wir mit der Chiffre „ökologisch“ benennen. Dieses Umdenken war möglich, weil es hierzulande demokratische Rechte gab. Unseren Partnern in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion fehlen deshalb 15 Jahre.
Rebecca Harms ist Sprecherin für Atom- und Energiepolitik in der Grünen-Europafraktion sowie Ko-Vorsitzende der Fraktion Grüne/EFA im Europaparlament.
Walter Mossmann ist Liedermacher, Autor und Anti-AKW-Aktivist der ersten Stunde.