Déjà-vu: Die Kritik an der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Brasilien ähnelt jener der Fußball-WM in Südafrika 2010. Damals war klar, dass die Prognosen über die positiven wirtschaftlichen Effekte rundherum übertrieben waren (vgl. WM 2010 – Afrika am Ball). Letztlich mussten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Südafrika und sogar Wirtschaftsunternehmen kräftig draufzahlen. Touristinnen und Touristen kamen deutlich weniger als vorhergesagt, Arbeitsplätze für die Zukunft – vor allem für die Jugendlichen – sind nicht in nennenswerter Zahl entstanden. Was wird wohl aus den neuen Stadien in Brasilien, z.B. in Manaus? Wer zahlt Monat für Monat die Unterhaltskosten in Millionenhöhe? In Nelspruit in Südafrika wurde für die WM 2010 eigens das Mbombela-Stadion gebaut. Kostenpunkt: 100 Millionen Euro. Der "weiße Elefant", wie ungenutzte Stadien in Südafrika genannt werden, steht nun an rund 350 Tagen im Jahr leer und die Stadt läuft Gefahr, auf den Unterhaltskosten von 450.000 Euro jährlich sitzen zu bleiben. "History Repeating", der Song von Shirley Bassey, wäre ein passendes Lied zur WM.
Die Debatte und mehr noch der politische Kampf auf den Straßen Brasiliens um den Nutzen und die Kosten von Megaevents ist seit vielen Monaten entbrannt. Denn der wirtschaftliche Zugewinn für die Allgemeinheit ist überschaubar. Die Kosten, vor allem die Sozialen, sind hoch. Und die Vorbereitungen auf die Weltmeisterschaft haben nationales und internationales Menschenrecht verletzt, insbesondere das Recht auf Wohnen. Zivilgesellschaftliche Organisationen in Brasilien schätzen, dass mindestens 170.000 Menschen von Zwangsräumung und Zwangsumsiedlung im Zuge der Stadtumbauten betroffen sein werden (siehe: Großevents und Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, 2012).
Öffentliches Interesse oder Sicherheitsrisiken können Zwangsräumungen erforderlich machen. Doch das Völkerrecht kennzeichnet sie als Ausnahme, die angesichts der Garantie des Rechts auf Wohnen gut begründet sein muss. Zudem gibt es klare Regeln, die im Völkerrecht und auch in brasilianischen Gesetzen niedergelegt sind: Die Menschen müssen rechtzeitig und umfassend informiert und am Prozess beteiligt werden; sie müssen Rechtssicherheit haben und Rechtsbeistand erhalten; die Entschädigungen müssen angemessen sein und mindestens den Standard der geräumten Wohnung garantieren; Ersatzwohnraum ist nach Möglichkeit in der Nähe der alten Wohnung bereitzustellen. Räumungen dürfen nicht des Nachts oder bei schlechtem Wetter durchgeführt werden. Praktisch alle diese Prinzipien haben die Behörden in den brasilianischen WM-Städten wiederholt verletzt.
Das für alle brasilianischen Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern verpflichtende Stadt-Statut sichert den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf eine "nachhaltige Stadt" und auf demokratische, partizipative Stadtpolitik zu. Gewachsene urbane Strukturen werden wegen der WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 zerstört – und sie lassen ein anderes Modell von Stadt erkennen. Dieses andere Modell öffnet bloßen Investoreninteressen Tür und Tor, dafür müssen die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner weichen. Es setzt auf eine Verkehrspolitik, die eher die Touristenrouten bedient, als den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Bevölkerungsmehrheit zu folgen. Und es verfolgt eine Sicherheitspolitik, die wenig dazu beiträgt, den Menschen ihre staatsbürgerlichen Rechte zu garantieren, sondern allein die Event- und Investitionslogik abzusichern. In diesem Modell agiert die Stadt wie ein privates Unternehmen im Wettbewerb, bei dem allerdings die öffentliche Hand das finanzielle Risiko trägt und die Bau- und Tourismusfirmen die Gewinne behalten. Das brasilianische Parlament und die Behörden haben zugunsten privater Interessen in den letzten fünf Jahren zahlreiche Ausnahmen von demokratisch wichtigen Regeln genehmigt. Das reicht von der Abkehr vom Prinzip transparenter Ausschreibungen für öffentliche Bauvorhaben bis hin zur Anhebung der Verschuldungsgrenze für Kommunen.
Das sonderbare Demokratie-Verständnis der FIFA
Hier wird deutlich, wie wenig die Ausrichtung von Großereignissen wie Fußball-Weltmeisterschaften mit Demokratie zu tun hat. Ermutigend für die Zukunft der brasilianischen Demokratie ist, dass ausgerechnet die fußballverrückten Brasilianer während der Mini-WM des Confederation-Cups im Juni 2013 für ihre sozialen Rechte auf die Straße gingen. So geht für die Regierung ein Teil der Rechnung nicht auf. So steht der Imagegewinn – anders als in Südafrika und erst recht im deutschen "Sommermärchen" 2006 – in Brasilien durchaus in Frage. Statt bunter Bilder wie zu Karneval fürchtet die Regierung nun ein Eigentor, wenn tränengastrübe Bilder von Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant/innen und der Polizei während der WM die internationalen Titelseiten zieren. Die Brasilianer/innen lieben Fußball und hoffen auf den sechsten WM-Titel ihrer Mannschaft. Doch setzen die Demonstrant/innen – zumeist die junge Generation – die richtigen Zeichen: Sie wollen ein demokratischeres und sozialeres Brasilien, das mit der historisch gewachsenen Ungleichheit vor allem im öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen endlich Schluss macht. Sie wollen ein Gemeinwesen, das besser funktioniert. Deshalb nehmen sie nicht einfach hin, wenn mehr als acht Milliarden Euro für eine Weltmeisterschaft ausgegeben werden.
Der aus Frankreich stammende FIFA-Vizegeneralsekretär Jerôme Valcke hat sich noch vor den Juni-Protesten 2013 selbst entlarvt. Er sagte: "Manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, vielleicht wie Putin sie 2018 hat, ist es für uns Organisatoren leichter, als etwa in Ländern wie Deutschland, in denen auf verschiedenen Ebenen verhandelt werden muss." Auch in Brasilien habe die politische Struktur Probleme bereitet. "Es gibt verschiedene Personen, Bewegungen und Interessen, und es ist es durchaus schwierig, in diesem Rahmen eine WM zu organisieren", sagte Valcke[1]. Die zahlreichen von der FIFA veranlassten und durchgesetzten Eingriffe und Rechtsverletzungen in Brasilien haben also nicht gereicht. Man darf der FIFA dankbar sein, dass sie es klar ausgesprochen hat: In ihrer derzeitigen Verfassung und Arbeitsweise ist sie selbst eine Gefahr für die Demokratie. Die Brasilianer tun Recht daran, sich dagegen zu wehren. Auch dem Fußball zuliebe.
[1] Zitiert nach einer Meldung des Sportinformationsdienstes (SID) vom 24.04.2013