Psychologische Kriegsführung im libanesischen Bürgerkrieg

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Nicht das einzige Relikt des Krieges im Libanon

Der Libanon ist ein gespaltenes Land mit vielen Fernseh- und Radiosendern. Und mit Bürgern, die es lieben, sich über Facebook, Whatsapp und Twitter auszutauschen. In solch einem Umfeld können Gerüchte leicht außer Kontrolle geraten. Sie können sogar einen Bürgerkrieg befeuern.

Es ist ein lauer Abend im Sommer 2014. Eine Gruppe alter Bekannter trifft sich in einem libanesischen Bergdorf auf ein Bier und leckere Häppchen. Sie tauschen private Neuigkeiten aus. Die Männer sind alle um die fünfzig Jahre alt, und alle waren am libanesischen Bürgerkrieg als Kämpfer beteiligt – ein Krieg, der zwischen 1975 und 1990 das kleine Land am Mittelmeer zerstörte.

Obwohl alle Anwesenden den Weg zurück ins zivile Leben gefunden haben, machen bei solchen Zusammenkünften beinahe zwangsläufig ihre Bürgerkriegserinnerungen die Runde. Diese geteilten Erfahrungen und Erinnerungen schaffen ein ganz besonderes Band der Verbundenheit zwischen den Männern, und der Abend zieht sich bis weit nach Mitternacht hin. Am nächsten Tag führen einige von ihnen ihre Unterhaltungen des Vorabends auf Facebook fort. Einer fängt zu witzeln an, dass sie doch lieber diese Bergregion beobachten und schützen sollten, um einem möglichen Einfallen des „Islamischen Staates“ (IS) zuvorzukommen.

Die Witzelei auf Facebook geht hin und her. Einer der Freunde schlägt vor, eine bewaffnete Gruppe zu bilden, um ihre Heimatregion zu beschützen – genau so, wie sie es damals als Jugendliche zu Zeiten des libanesischen Bürgerkriegs gemacht haben. Ein Außenstehender klinkt sich in die Facebookunterhaltung ein, nimmt die Witzelei für bare Münze und am nächsten Tag berichtet mir einer der Männer, eine bekannte libanesische Zeitung habe geschrieben, dass sich eine Gruppe Männer in der bergigen Grenzregion zu Syrien gegen den IS bewaffnen wolle. Im Artikel stehe außerdem, dass sich eine weitere Gruppe anderer Konfession ebenfalls bewaffnen würde.

Aus der Witzelei wurde ein Gerücht, das für bare Münze genommen wurde, ein Insiderwitz, der als Tatsache gehandelt wurde, weil der Journalist keine richtige Recherche betrieb und die Information nicht überprüfte – dennoch veröffentlichten die Massenmedien eine solche Information. Im Libanon benutzen Medien solche Art unbestätigter Informationen für ihre eigene politische Agenda.

Worte als Waffen

Der Libanon ist ein kleines und komplexes Land mit vielen Fernseh- und Radiosendern und Bürgern, die es lieben, sich über Facebook, Whatsapp und Twitter auszutauschen. In solch einem Umfeld können Gerüchte leicht verbreitet werden.  Es besteht die Gefahr, dass sie in so einer tief gespaltenen, von Konflikten geprägten Gesellschaft wie dem Libanon leicht außer Kontrolle geraten. Dies ist eine ernste Angelegenheit, denn Kriege beginnen in den Herzen und Köpfen der Menschen, lange bevor jemand eine Waffe in die Hand nimmt. Gerüchte helfen, Herzen und Gedanken zu beeinflussen und zu manipulieren.

Zu Beginn des libanesischen Bürgerkriegs waren Gerüchte meistens an Vorurteile über andere Religionsgemeinschaften angeknüpft:

„Moslems sind Wilde und wollen die Macht im Libanon übernehmen.“
„Christen gehören zur Bourgeoisie und wollen die Anderen ausbeuten.“

Auf solchen Vorurteilen basierende Gerüchte bereiteten das Klima für den libanesischen Bürgerkrieg und sie beeinflussten die Geisteshaltung der Menschen, bevor sie sich Milizen anschlossen, sich militärisch ausbilden ließen, Waffen in die Hände nahmen und kämpften. Der libanesische Bürgerkrieg lässt sich jedoch nicht nur anhand von konfessionellen Zugehörigkeiten definieren; er war wesentlich komplexer. Die Präsenz der Palästinenser mit ihren bewaffneten Gruppen war ein wichtiger Katalysator für den Krieg, genauso wie wirtschaftliche und politische Interessen und die andauernden Machtkämpfe der einzelnen Gruppen. Letztendlich war der libanesische Bürgerkrieg aber auch ein Stellvertreterkrieg zwischen den Supermächten von West und Ost.

„Gerüchte vergifteten die Menschen, und dieses Gift wurde mit schlechten Absichten eingesetzt“, erinnert sich Assaad Chaftari, ehemaliger Leiter des Geheimdienstbüros der christlichen Miliz Lebanese Forces. „Wenn ich daran glaube, dass alle Moslems Wilde sind, dann werde ich allen Gerüchten glauben, die dies bestätigen. Ebenso werde ich alle Gerüchte verneinen, die das Gegenteil besagen“, führt er aus.

In den ersten Kriegsjahren beschränkten sich Gerüchte nicht nur auf Vorurteile gegenüber allen Andersartigen, sondern sie wurden konkret gegen den Gegner eingesetzt. Haidar Amashi, ein ehemaliger Kämpfer der Nasseritischen Bewegung erinnert sich an Informationen über Christen, die militärisch ausgebildet und bewaffnete Gruppierungen bilden würden. Er sagt, dass sie damals davon überzeugt waren, dass deren „erklärtes Ziel war, gegen alle Moslems zu kämpfen und dass sie die libanesischen Schiiten vertreiben und in den Irak zurückdrängen wollten.“ In diesem Fall hatte das Gerücht einen wahren Kern: Die Christen schufen bewaffnete Gruppen – aber die libanesischen Moslems, Drusen und die Palästinenser taten dies ebenso. Heute, 40 Jahre später, glaubt Amashi, dass “solche Art von Gerüchten die gefährlichste Waffe war, die den Nährboden für den libanesischen Bürgerkrieg bereitete.”

Viele Menschen starben wegen falscher Radio-Meldungen

Man kann zwischen mindestens zwei verschiedenen Arten von Gerüchten unterscheiden: Erstens gibt es Gerüchte, die aus Versehen verbreitet werden, wie das Beispiel in der Einführung dieses Artikels zeigt. Zweitens gibt es Gerüchte oder Fehlinformationen, welche die Medien, oder auch Milizenführer oder Politiker bewusst einsetzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen: Zum Beispiel, um die gegnerischen Milizen einzuschüchtern, um die verfeindete Zivilbevölkerung zu demoralisieren oder um den Kampfgeist der eigenen Truppe zu stärken und die Unterstützung der Zivilbevölkerung auf der eigenen Seite zu sichern.

Alle Fraktionen des libanesischen Bürgerkriegs – Libanesen, Palästinenser und sogar die Israelis – benutzten Gerüchte und gezielt gestreute Falschinformationen für ihre eigenen strategischen Ziele und unter- oder übertrieben gleichermaßen bestimmte Kriegsereignisse.

Der zerfallende libanesische Staat zum Beispiel benutzte regelmäßig seine Staatsmedien, um bestimmte Ereignisse herunterzuspielen. Hana Saleh, der ehemalige Direktor des kommunistischen Radiosenders Stimme des Volkes erinnert sich, dass der staatliche Radiosender während des libanesischen Bürgerkriegs für einen bestimmten Satz bekannt war: „Die Straße ist offen und sicher.“ Der Ansager würde zum Beispiel sagen: ‚Heute ist die Straße zum Nationalmuseum (einer wichtigen Straßenkreuzung zwischen Ost- und Westbeirut) geöffnet und sicher.‘ Aber der Ansager war sich selbst gar nicht sicher, denn er hatte die Fakten nicht überprüft. Die Menschen gingen zur Kreuzung und manchmal passierte dann etwas Schreckliches.“

Der libanesische Historiker und Politikwissenschaftler Nemer Frayha bestätigt, dass die öffentlichen Medien die Menschen mit solchen Fehlinformationen täuschten, in dem sie gefährliche Situation als ungefährlich einstuften. Er weiß noch, dass sich Menschen „wegen solcher Fehlinformationen unwissentlich in Gefahr begaben. Manche Entführungen und Ermordungen von Zivilisten geschahen, weil der öffentliche Radio- oder Fernsehsender die Gefahr heruntergespielt hatte.“

Saleh erzählt, dass „es Nachrichten über irgendwelche Entführungen oder Tötungen gab, aber dass es unmöglich war zu wissen, ob diese Nachrichten stimmten oder nicht. Die Nachrichten wurden dennoch sofort überall gesendet, und es gab direkte Reaktionen darauf. Viele Opfer starben wegen eines Gerüchtes, das im Radio verbreitet worden war.“

Wenig erfahrene Journalisten

Es ist ein generelles Problem der Kriegsberichterstattung, dass Reporter Informationen oft nicht verifizieren können. So berufen sich Journalisten auf Augenzeugenberichte, die sich nicht überprüfen lassen. Bestimmte Gebiete können von Milizen oder der Armee abgesperrt sein und der Reporter hat keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Oder die Ereignisse sind schon vorbei und können nicht rekonstruiert werden.

„Damals gab es in den Radiosendern wenig erfahrene Journalisten“, gibt Saleh zu, und die Journalisten waren sich oft nicht bewusst, wie bestimmte Nachrichten die Gemengelage beeinflussen konnten. „Wenn die Medien Nachrichten über Entführungen oder Erschießungen verbreiteten, gab es oft Racheakte“, erinnert sich Frayha – nur um später herauszufinden, dass solche Entführungen oder Erschießungen gar nicht stattgefunden hatten.

Der ehemalige Radiodirektor berichtet, dass sein Sender 24 Stunden lang Nachrichten sendete, und dass es einen großen Konkurrenzkampf um die Ausstrahlung von Eilmeldungen gab: „Der Wettbewerb ging auf Kosten der Wahrheit“, gibt er zu, und ergänzt, dass am Ende des Krieges „die Spaltung (im Land) so groß war, dass wir nicht mehr darauf achteten, was wir über die jeweils Anderen sagten.“

Auch westliche Medien berichteten einseitig

Während des Bürgerkriegs war die Medienlandschaft komplett anders als sie heute ist. 1976 gab es nur einen öffentlichen Fernsehsender, eine Handvoll Radiosender und eine Reihe von Zeitungen. Saleh meint, dass der Vorteil dieser begrenzten Medienlandschaft war, dass „Informationen über bestimmte Ereignisse die Zielgruppe direkt erreichten.“ Milizenführer und Politiker aller Seiten setzten die Medien gezielt dazu ein, um Informationen zu verbreiten, Ereignisse herunterzuspielen oder aufzubauschen und somit die Informationen zu ihrem Vorteil zu kanalisieren. Und Milizenführer sowie Politiker benutzten Journalisten, um (Des-)Informationen bei der Gegenseite zu verbreiten.

Die Stimme des Volkes, in Westbeirut ansässig, hatte einige Reporter im Osten der Stadt. Sie waren die Hauptinformationsquelle aus diesem Stadtteil. „Wir vertrauten darauf, dass sie uns verlässliche Informationen geben würden“, erinnert sich Saleh. „Aber nach einiger Zeit merkten wir, dass einer unserer Reporter für die (christliche Partei) Kataeb arbeitete. Er gab uns die Informationen, die Kataeb verteilen wollte.“ Angeblich ging der Reporter ziemlich intelligent vor: manchmal gab er die richtigen, manchmal aber auch die falschen Informationen weiter. „Aber über die wichtigen Dinge gab er uns die Informationen, die Kataeb an den Mann bringen wollte“, sagt Saleh. „Wir erreichten den Punkt, dass wir unsere Zusammenarbeit mit ihm beenden mussten.“

Frayha geht noch weiter und sagt, dass westliche Journalisten dazu beitrugen, Falschinformationen zu verbreiten. Seiner Meinung nach waren sie gegenüber den christlichen Milizen voreingenommen und standen meistens auf der Seite der Palästinenser. Er behauptet: „Westliche Medien verbreiteten das Gerücht, dass christliche Milizen Waffen aus den USA und aus Frankreich bekamen, aber das stimmte nicht. Fakt ist, dass der Westen sich weigerte, den Christen Waffen zu verkaufen. Die meisten Waffen kamen aus Osteuropa und später belieferte Israel die christlichen Milizen mit Waffen.“ Seiner Meinung nach hatte das schwerwiegende Konsequenzen.  Er denkt, dass „die Auswirkungen der Medien auf die Menschen stärker waren als jegliche Art von Bildung, und dass die Gefühle der Menschen oft missbraucht wurden.“

Meldungen über den israelischen Einmarsch kursierten schon Monate zuvor

Libanesische Milizen benutzten Gerüchte, um Kämpfe in Gang zu halten. Der ehemalige Kämpfer Amashi erzählt, dass in den ersten Kriegsjahren der Höhere Schiitische Rat unter Scheich Mohamad Yakoub zusammen mit dem Christen Dany Chamoun, der Sohn eines früheren Präsidenten, eine Initiative ins Leben gerufen hatte, um Versöhnungsversuche zu stärken und die Kämpfe zu beenden. Seiner Meinung nach waren die Nasseriten von dieser Entwicklung genervt, weil sie weiterkämpfen wollten. Diese verbreiteten das Gerücht, dass eine solche Friedensinitiative nur ein Vorwand sei und dass die christlichen Milizen eigentlich das schiitische Gebiet von Chiyah unterwandern wollten, um dann von innen heraus Militäroperationen auszuführen. Milizen benutzten solche Art von Gerüchten, um die Ängste der Menschen zu schüren. Sie waren ein wirkungsvolles Instrument, um jegliche Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Bürgerkriegs auf politischer Ebene zu unterminieren.

Die bewusste Steuerung von Informationen oder die Verbreitung von Desinformation für strategische Zwecke ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Im Nahen Osten wird besonders den Israelis nachgesagt, dass sie psychologische Kriegsführung effektiv einsetzen. Ein Beispiel: Eine bestimmte libanesische Miliz bekam die Information, dass die Israelis im Sommer 1982 in den Libanon einmarschieren würden – Monate bevor die eigentliche Invasion tatsächlich vonstatten ging. Hier und da sickerten Informationen darüber in den Medien durch. Es war eine sehr effiziente Art und Weise, dieses Gerücht über eine mögliche Invasion zu verbreiten und es war gleichzeitig eine Strategie, um den libanesischen und palästinensischen Zivilisten Angst einzujagen. „Bis heute verstehe ich nicht genau, warum die Israelis diese Nachrichten verbreiteten“, fragt sich Chaftari. Er vermutet, dass „sie wahrscheinlich wollten, dass die Welt nicht so schockiert wäre, wenn es dann tatsächlich umgesetzt würde. Es war eine Strategie, um die Menschen an diesen Gedanken zu gewöhnen.“

Ziad Saab, ein ehemaliger Kommandant der kommunistischen Miliz, erinnert sich aber ganz anders an dieses Ereignis: „Ich weiß noch, dass der Erste, der öffentlich über eine israelische Invasion sprach, der Kommunistenführer George Hawi war. Ich denke, dass unser Politbüro diese Information vom sowjetischen Geheimdienst hatte.“ Die Kommunisten bereiteten sich daraufhin militärisch im Südlibanon vor, um den Israelis zu trotzen.

Spione, Kollaborateure und Überläufer

1985 besetzten die Israelis noch immer weite Teile des Südlibanon, darunter die Stadt Sidon. Sie benutzten ihre libanesischen Verbündeten, die Lebanese Forces, dazu, um das Gerücht zu verbreiten, dass die Moslems Christen in Sidon massakrieren würden, sobald sich die Israelis aus Sidon zurückziehen würden. „Die Lebanese Forces benutzten dieses Gerücht, weil sie wollten, dass die Christen Sidon verlassen und nach Ostbeirut kommen,“ meint Fouad Dirani, ein ehemaliger Kämpfer der Organisation Kommunistische Aktion im Libanon. Das strategische Ziel der Lebanese Forces war, die Christen zu vereinen, mehr Christen militärisch auszubilden und dann in andere Gebiete zu schicken, wo sie gebraucht würden.

„Dieses Gerücht diente auch dazu, einen Keil zwischen Moslems und Christen zu treiben,“ bestätigt Amashi, „und um Christen dazu zu ermutigen, sich zu bewaffnen und den Israelis einen gesicherten Rückzug zu garantieren.“ Letztendlich erfüllte das Gerücht auch einen wirtschaftlichen Zweck: Es wurden mehr Waffen an die Konfliktparteien verkauft.

Alle Milizen kanalisierten Informationen oder verbreiteten Falschinformation zu Spionagezwecken. „Die Lebanese Forces hatten verschiedene Kampagnen und benutzten Medien und Politiker, um Falschinformation zu verbreiten, und ließen solche Informationen absichtlich durchsickern, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen“, gibt Chaftari zu. Sie streuten beispielsweise das Gerücht, dass diese oder jene gegnerische Miliz korrupt sei, oder dass sie viel Geld aus dem Ausland erhielten. „Auf diese Weise sagten wir ihren Gefolgsleuten: „Warum unterstützt ihr die Miliz mit Geld?“ Mit solchen Gerüchten versuchten wir, die Miliz von ihrer Unterstützergruppe zu trennen.“

Sowohl rechte als auch linke Parteien benutzten ihre Geheimdienstler, um die Gegenseite auszuspionieren. Agenten unterwanderten die gegnerische Partei oder Miliz und biederten sich als Kollaborateure an – gegen ihre eigenen Reihen. Somit konnten die Spione herausfinden, welche Führer überlaufen würden und welche Leute innerhalb der eigenen Reihen mit der Gegenseite zusammenarbeiteten.

Der Krieg ist vorbei, die Vorurteile bleiben

In einer tiefreligiösen Gesellschaft wie dem Libanon sind Gerüchte mit einem spirituellen Beigeschmack für viele Menschen besonders glaubwürdig: „Die Statue von Harissa drehte sich zweimal während des Bürgerkriegs“, sagt Chaftari mit einem Schmunzeln. Christliche Parteiführer verbreiteten das Gerücht, dass sich diese Statue – die aus massivem Beton gefertigt ist – in eine bestimmte Richtung drehte, „um (die vorwiegend christliche Stadt) Jounieh oder die Christen ganz allgemein zu beschützen“, erinnert sich Chaftari.

„Diese Art von ‚Wundern‘ wurde oft dann unter der Bevölkerung verbreitet, wenn wir in einer militärisch schwierigen Situation waren“, erklärt der ehemalige Kämpfer, „um die Moral der Bevölkerung zu heben und um ihnen zu sagen: Gott wird uns helfen.“ Der Sozialwissenschaftler Frayha sieht das ähnlich: „Man braucht Wunder in Situationen der Schwäche, man braucht Hoffnung, und die kann man durch Aberglauben bekommen.” Der Aberglaube beschränkte sich nicht nur auf die Christen – bei Moslems war er genauso zu finden. Die Schiiten zum Beispiel benutzten Sitt Zeinab (eine Enkelin des Propheten Mohamed). „Wichtige schiitische Religionsführer sagten, dass ihnen Sitt Zeinab im Traum erschienen sei und ihnen gesagt habe, dass der vor ihnen liegende Weg zwar lang und steinig sei, aber dass er am Ende zum Erfolg führen würde“, erinnert sich Amashi. Das hob die Moral der Kämpfer und Zivilisten und ermutigte sie zum Durchhalten.

1990 war der Bürgerkrieg offiziell zu Ende, aber die Vorurteile, die in den Gedanken der Menschen während des 15-jährigen Krieges existierten, sowie die erlebten Traumata der Kriegszeit konnten nicht sofort bei Kriegsende abgebaut werden. Ein christliches Paar heiratete einige Jahre nach Kriegsende und wollte seine Flitterwochen in Amir Amin Palace, einem schönen Hotel in den libanesischen Bergen verbringen – eine Region, die sowohl von Christen als auch Drusen bewohnt wird. Ein Verwandter des Paares sagte ihnen: „Die Drusen kommen nachts und schneiden euch die Kehle durch!“ In Panik verließ das frisch vermählte Paar das Hotel - ihre Kriegstraumata waren noch frisch, und ihre Flitterwochen ruiniert.

Was kann man wem glauben?

Mitte der 1990er Jahre organisierte das Ministerium für Vertriebene ein Sommercamp in den libanesischen Bergen, um Jugendliche verschiedener Religionsgemeinschaften zusammenzubringen und um erste Schritte der Versöhnung zu wagen. Die Trainer benutzten verschiedene Aktivitäten, um die Jugendlichen auf mögliche Vorurteile aufmerksam zu machen, die während des Kriegs zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften existiert hatten (und womöglich noch immer existierten). Am Ende des Camps kam ein Mädchen zu den Trainern und erklärte ihnen weinend, dass sie nun nicht mehr nach Hause zurückkehren könne. Als die Trainer nach dem Grund fragten, sagte das Mädchen: „Meine Eltern haben mir beigebracht, dass die Menschen der anderen Seite schlecht seien und dass sie sogar anders aussehen. Ich habe herausgefunden, dass das eine Lüge war. Wie kann ich nun jemals wieder meinen Eltern glauben?“

Was und wem man glauben soll, das genau ist die Frage. Übrigens – der Artikel über die neuen bewaffneten Gruppen, die IS bekämpfen wollen, wurde überhaupt nicht in der bekannten libanesischen Zeitung veröffentlicht – das war nur ein weiteres Gerücht. Angeblich erschien der Artikel in einem Onlinemagazin. Ich hätte wohl besser recherchieren müssen!

P.S.: Während ich diesen Artikel fertigstelle, übersetzt mir jemand einen Auszug aus einem Artikel der Zeitung Al Akhbar, der wiederum im Internet auf Lebanon Files veröffentlicht wurde: Der Artikel trug den Titel “Training der Sozialistischen Partei unter dem Deckmantel eines Pfadfindercamps.” “Am 20.09.2014 erwähnt Al Akhbar, dass unter dem Deckmantel eines Pfadfindercamps die Sozialistische Partei, zusammen mit der fundamentalistischen drusischen Gruppe Scheich Ammar ein Trainingcamp für über 60 Menschen in den Hügeln von Schwaifat Stadt organisierte. Ein paar religiöse Führer aus dem Dorf Deir Qoubel waren ebenfalls anwesend. Es war nicht das erste Mal, dass man solch ein Training, in dem es auch Militär- und Schiessübungen gab, in diesen Hügeln sieht. Diesmal wurde den Teilnehmern nur theoretisches Wissen vermittelt, vor allem über schwere Waffen und solche, die auf Jeeps transportiert werden können. Ihnen wurde auch beigebracht, wie man solche Waffen benutzt.”

Oft beinhalten Gerüchte ein kleines Körnchen Wahrheit. Es ist wahr, dass verschiedene Parteien in der Vergangenheit Pfadfindercamps als Tarnung benutzten, um junge Leute militärisch auszubilden. Es ist wahr, dass sich viele Libanesen momentan wieder bewaffnen oder sogar private Bürgerwehren aufstellen. Ich arbeite allerdings auch für die Nichtregierungsorganisation Permanent Peace Movement. Der Leiter dieser Organisation, Fadi Abi Allam, gab genau in dem oben erwähnten Camp Workshops – allerdings über Konfliktresolution und Friedensbildung – und mit Sicherheit nicht über schwere Waffen. Kriege beginnen in den Köpfen der Menschen, und solche Artikel wie der eben genannte vergiften den zivilen Frieden im Libanon. Lassen wir uns nicht von Milizen oder Politikern und deren Medien verführen, lassen wir uns nicht von ihnen für ihre kriegerischen Ziele manipulieren. Wir müssen Verantwortung für uns selbst übernehmen – und unseren Köpfen und Herzen Raum geben, der frei ist von Gerüchten und Desinformation, für Frieden.

Dieser Text ist eine Übersetzung aus der englischsprachigen Publikation Perspectives Middle East #7: Rumours.