Auf dem 4. Europäischen Geschichtsforum ging es um einen integralen Bestandteil des Krieges: Propaganda. Meistdiskutiertes Thema war der vor hundert Jahren ausgebrochene Erste Weltkrieg.
Jedes Land hat seine ganz eigenen Erinnerungen an den Krieg, der irgendwann einmal in der Vergangenheit die ganze Welt vereint hat. Für die postjugoslawischen Länder ist der Erste Weltkrieg ein Anlass, um nach neuen Berührungspunkten für Friedensverhandlungen zu suchen – in der ehemaligen UdSSR scheint er eine Zündschnur für einen neuen Krieg zu sein. Man kann diesen Krieg als „hybriden Krieg“, „zweiten kalten Krieg“ oder „dritten Weltkrieg“ bezeichnen. Noch ist er nicht mit voller Kraft entflammt, Anzeichen für sein Erlöschen sind aber bislang auch noch nicht in Sicht. Auf dem europäischen Kontinent kann dieser Krieg mit der Zeit auch einen anderen Namen erhalten, denn die Geschichte wiederholt sich nie. Und eine oberflächliche, teilweise Ähnlichkeit ist für die Beobachter nur störend und irreführend.
Sie wollen ein Beispiel? Die Regierung der Russischen Föderation hat der Ukraine formal keinen Krieg erklärt, aber ein sehr großer Teil der russischen Bevölkerung ist offenkundig zu diesem Krieg jederzeit bereit. Die offiziellen und nicht ganz so offiziellen russischen Fernsehsender überziehen die Ukraine mit einer Flut von Verleumdungen. Möglicherweise soll diese Diffamierung dafür sorgen, dass die russische Bevölkerung und vielleicht auch breitere Bevölkerungsteile in anderen Ländern glauben, „Faschisten“ und „Bandera-Schergen“ hätten die Macht in der Ukraine an sich gerissen und der ukrainische Staat bestehe nunmehr nur noch auf dem Papier.
Zwischen Russland und der Ukraine sind Millionen Menschen mit ihren Familien, Freunden und Bekannten nicht in der Lage, exakt zu definieren, wer sie denn nun wirklich sind – Ukrainer oder Russen. Allerdings wussten sie noch bis vor kurzer Zeit, welche Staatsbürgerschaft sie hatten, die ukrainische oder die russische. Millionen Russen waren und sind nach wie vor Bürger der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und Millionen Ukrainer Bürger der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Vor fünfundzwanzig Jahren kam für das Sowjetische das Aus. An seiner Stelle blieben – unter anderem – die Republik Ukraine und die Russische Föderation.
Ob es Menschen gibt, die mit diesem Stand der Dinge unzufrieden sind? Bestimmt gibt es sie. Ob es Menschen gibt, die diese Unzufriedenheit ausnutzen wollen, um die ehemaligen Sowjetmenschen oder ihre Nachfahren wieder in einen Staat leben zu lassen? Ja, solche Menschen gibt es auch. Schaut man sich ihre politischen Vertretungen in Russland an, so gehören sie zu mindestens drei Gruppen, zwischen denen kein volles Einvernehmen herrscht.
Die Renaissance des Geheimdienstkults
Die erste Gruppe wünscht sich die Sowjetunion zurück, die 1990 – 1991 aufgelöst wurde. Die zweite Gruppe wünscht sich das 1914 – 1918 zerfallene Russische Kaiserreich zurück. Und die dritte Gruppe möchte einen ganz neuen Staat schaffen – eine Art Neu-Russland, das jetzt durch die Bomben und Artilleriegeschosse vorbereitet wird, die auf den Donbass niederhageln.
Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen. Sich wünschen kann man das aber wohl. Und mit diesem Wunsch kann man auf jeden Fall Politik machen. Eine solche Politik lässt sich mit demokratischen und rationalen Mitteln nur schwerlich betreiben. Man kann es ja aber auch mit kontrollierter oder autoritärer Propaganda versuchen…
In der Russischen Föderation lassen sich drei Propagandaherde ausmachen, die berufen sind, den Erfolg für eine dieser drei Gruppen – nennen wir sie „sowjetisch“, „neoimperial“ und „neurussisch“ – zu gewährleisten.
Den effizientesten Propagandafeldzug führt natürlich die Russische Föderation als Staat. Dieser Staat, Mitglied im UN-Sicherheitsrat und Atomwaffenmacht, bereitet seine Mitbürger durch Äußerungen des Präsidenten, des Premierministers, des Außenministers und der Staatsduma auf die Notwendigkeit vor, einen möglichst großen Teil der Republik Ukraine der Russischen Föderation anzugliedern. Mit der Krim war das ja gelungen, aber für die Operation im Donbass musste der russische Staat zwei andere, weniger einflussreiche Gruppen in den Prozess involvieren: die von der Wiederherstellung der UdSSR träumenden Postkommunisten sowie die von der Schaffung eines „Neu-Russland“ träumenden „Landwehr-Kämpfer“.
Die Ziele dieser Gruppen sind in ideologischer Hinsicht jedoch so unterschiedlich, dass die propagandistische Kakofonie es erheblich erschwert, die historische Epoche zu sehen und zu hören, die die wichtigsten Beteiligten dieses Prozesses auf russischer Seite nachspielen. Wenn ich „nachspielen“ sage, so meine ich auch ganz exakt ein Rollenspiel, den spannenden und zeitgeistkonformen sozialen Zeitvertreib, den die sowjetischen Propagandisten während der ganzen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast der gesamten Bevölkerung der UdSSR beigebracht haben. Den medialen und künstlerischen Impuls für dieses Spiel stellten, als die Sowjetzeit bereits ihrem Ende entgegenging, TV-Serien über Geheimagenten im Ersten und Zweiten Weltkrieg dar – „Der Adjutant Seiner Exzellenz“ («Адъютант его превосходительства») und „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“ («Семнадцать мгновений весны»).
Die 1970er und 1980er Jahre waren überhaupt eine Zeit der Renaissance des Geheimdienstkults, der nach der Hinrichtung von Lawrenti Beria und der kurzen Tauwetter-Periode für wenige Jahre ausgesetzt wurde. An der Unterstützung und Durchsetzung dieses Kults wurde nie gespart – weder davor, noch danach. Alle Kriege der Nach-Stalin-Zeit und Kampfhandlungen, die die UdSSR mit ihrer Armee, aber unter der Führung des KGB oder des militärischen Geheimdienstes GRU geführt hat, findet man in der Anlage zum russischen Föderalen Gesetz „Über die Veteranen“.
Die Kriege in Südostasien (Vietnam und Laos) in den 1960er und 1970er Jahren waren länger als der Große Vaterländische Krieg. Den langwierigsten Krieg aber, der den letzten Nagel in den Sarg mit der Aufschrift „UdSSR“ getrieben hat, führte die sowjetische Regierung von April 1978 bis zum 15. Februar 1989 in Afghanistan. Wir wissen, dass es sich für die Bürger der UdSSR überhaupt nicht um einen Krieg gehandelt hat. Es war eine Spezialoperation. „Zeitweilige Stationierung eines begrenzten sowjetischen Truppenkontingents auf Ersuchen der afghanischen Führung“, so wurde das genannt. Kein einziges Wort in dieser Formulierung hatte mit der Wirklichkeit zu tun. Alle Bürger der UdSSR wussten das. Alle Bürger der UdSSR nahmen es als gegeben hin. Nicht, weil sie Angst hatten, sondern weil die globale Verschwörungstheorie zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Denken beherrschte.
Der Erste Weltkrieg als rollenspieltaugliche Plattform
Die wahnwitzige Form der Verschwörungstheorie war ein Ergebnis der TV-Serie „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“. Zur Musik zu diesem Film, die jeden Abend in der Moskauer U-Bahn ausgestrahlt wird, erinnern sich die Bürger irgendwie, dass Genosse Stalin den Großen Hybriden Krieg führte. Die Sowjetunion steuerte er höchstpersönlich, Hitler und dessen Generale durch den sowjetischen Aufklärer Isajew-Stierlitz. Und seine echten Feinde damals waren die USA und Großbritannien, die nur so taten, als wären sie seine Verbündeten, während sie den gesamten Film über versuchten, mit Hitler separate Verhandlungen zu führen. Tja, sie hatten keine Ahnung, die Deppen, dass wir Hitler schon im Sack hatten.
Diese Theorie passte überhaupt nicht zu den tatsächlichen Erfahrungen und Erinnerungen der damals noch lebenden Kriegsteilnehmer und Zeitzeugen. Es wuchs aber eine neue Generation heran, für die sich der Hauptkrieg, der 1945 durch die UdSSR im Bündnis mit den USA und Großbritannien gewonnen wurde, allmählich in einen hybriden Krieg verwandelte: Unter der sichtbaren propagandistischen Hülle fand sich ein geheimnisvoller und geheimer Kern. Und jetzt geht dieser Krieg im Geheimen weiter. Nur schade, dass man Deutschland irgendwie nicht für sich gewinnen kann, so wie damals, 1939. Als das Sowjetzeitalter zu Ende ging, kam der geheimnisvolle Kern ans Tageslicht und mit ihm gleich ein neues Problem – der Erste Weltkrieg, in dessen Stahlgewittern das Russische Kaiserreich unterging und die so unerwartet kurzlebige Sowjetunion entstand.
Somit stellt der Erste Weltkrieg eine gemeinsame, rollenspieltaugliche Plattform für die „neoimperialen“ Anhänger von Putin, die „kommunistischen“ Anhänger von Sjuganow und die „Neu-Russen“ (allerdings ohne Noworossijsk) dar. Das Finale dieses Rollenspiels ist für alle drei Gruppen gleich. Der russische Präsident hat der Bevölkerung der ehemaligen UdSSR durchaus offen und frühzeitig zu verstehen gegeben, worauf sie sich einstellen muss. Im Januar 2014, als er die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges für unantastbar erklärte. Im Juni 2014, als er erklärte, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges müssten revidiert werden. Und am 17. April 2014, als er bemerkte, dass „die Russen den Tod nicht fürchten, wenn die Welt dabei zuschaut“.
Warum sich die Spitze des politischen Interesses der gegenwärtigen russischen Führung in die Vergangenheit richtet, liegt auf der Hand: Wenn man den unendlichen Machterhalt für möglich und notwendig hält, dann kommt man selbst mit kurzfristigen rationalen politischen Konstruktionen kaum zurecht. Solch ein Regent muss sich der Welt als eine Art heiliger Berserker präsentieren. Seine flexibelsten und schleimigsten Höflinge greifen diesen Wunsch als Erste auf. Und sie sind es, die den propagandistischen Wahn für die Bürger anheizen, die dann „den Tod nicht fürchten, wenn die Welt dabei zuschaut“.