Zweihundertsechzig Millionen

Bauarbeiter
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Frostiges Klima: Viele Arbeitsmigranten sind auf Baustellen beschäftigt - nach wie vor sind nur wenige im Besitz rechtsgültiger Arbeitsverträge

Sie haben das immense Wirtschaftswachstum mit ermöglicht, doch jetzt werden sie abgehängt von den Städtern. Vom Leben chinesischer Wanderarbeiter/innen.

Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten leben heute in Chinas Städten. Sie haben das immense Wirtschaftswachstum mit ermöglicht, doch jetzt, 35 Jahre nach Beginn der Reformpolitik, werden sie abgehängt von den Städtern, die eine gute Bildung besitzen, über höhere Einkommen verfügen und bessere Lebensbedingungen haben. Der folgende Text gibt einen Überblick über die soziale und politische Situation der chinesischen Wanderarbeiter/innen; die anschließenden Interviews vertiefen das Bild. Drei persönliche und exemplarische Geschichten machen die aktuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen chinesischer Wanderarbeiter/innen deutlich.

  • Dong Jianzhuang ist 57 Jahre alt und arbeitet auf dem Gelände der Peking-Universität
  • Xiao Zhang verkauft auf er Straße Socken, um ihre Familie zu ernähren
  • Wei Chen ist auf der Suche nach einem Job und erinnert sich an seine Zeit als Wanderarbeiter in der Mongolei

Chinas beispielloses Wirtschaftswachstum wäre ohne die vielen Millionen Menschen, die als billige Arbeitskräfte in die Wirtschaftszentren strömen, nicht möglich gewesen. Binnenmigration in China ist hauptsächlich Arbeitsmigration. Die als Wanderarbeiter/innen oder wörtlich "Bauernarbeiter/innen" ("nongmingong") bezeichneten Arbeitsmigrant / innen verlassen ihre ländlichen Heimatregionen auf der Suche nach höheren Einkommen und besseren Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft. In den Städten arbeiten sie zumeist in Fabriken, auf Baustellen, im Dienstleistungssektor oder Gaststättengewerbe. Mit der Rücküberweisung von Teilen ihrer Einkommen leisten sie einen beachtlichen Beitrag zur Armutsbekämpfung in ihren Heimatregionen.

Trotz Lohnsteigerung immer noch kaum Geld

Laut der vom Nationalen Statistikamt veröffentlichten Zahlen gab es im Jahr 2013 rund 269 Millionen "Bauernarbeiter/innen" in China, 2,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Rund 166 Millionen davon sind außerhalb ihrer Heimatregion beschäftigt. Das Durchschnittseinkommen der Wanderarbeiter/innen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2012 betrug es nach offizieller Statistik 2 290 RMB [ca. 278 EUR] (11,8 Prozent mehr als im Vorjahr) und 2013 2 609 RMB [ca. 316 EUR], d.h. 13,9 Prozent mehr als 2012. Gleichzeitig ist jedoch auch das Leben in den Städten teurer geworden. Allein die Mieten verzehren mittlerweile ca. 50 Prozent der gesamten Lebenshaltungskosten. Hinzu kommen inflationsbedingte Preissteigerungen. Somit schlagen sich die Lohnsteigerungen kaum in besseren Lebensbedingungen oder erhöhter Kaufkraft nieder.

Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren das Arbeitsrecht reformiert. Da Wanderarbeiter/innen jedoch noch meist informell beschäftigt sind, hat sich die Situation für sie nicht grundlegend verändert. Nach wie vor sind nur wenige im Besitz rechtsgültiger Arbeitsverträge, und soziale Absicherungen, die gesetzlich verbrieft sind, werden ihnen weiterhin vorenthalten. Zudem können sie ausstehende Löhne und Entschädigungszahlungen bei Arbeitsunfällen nur selten wirksam einklagen.

Darüber hinaus führt das seit 1958 bestehende Haushaltsregistrierungssystem ("hukou"-System) zu einer institutionalisierten und strengen Trennung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung. Obwohl Chinas Wanderarbeiter/innen teilweise seit vielen Jahren in den Städten arbeiten und leben, sind sie trotzdem nur in Besitz eines ländlichen "hukou". Damit sind sie und ihre Familien weiterhin von vielen öffentlichen und sozialen Leistungen ausgeschlossen. Im Jahr 2013 hatten offiziell nur 15,7 Prozent der Wanderarbeiter/innen eine Rentenversicherung und nur 17,6 Prozent eine Krankenversicherung. Außerdem haben Kinder von Wanderarbeiter/innen nicht die gleichen Bildungschancen wie Kinder mit städtischem "hukou".

Widerstand gegen Reformen

Seit Jahren wird sowohl in Regierungskreisen als auch unter Wissenschaftler/innen, Intellektuellen und in den Medien über eine Reform des "hukou"-Systems diskutiert; in ausgewählten Pilotregionen werden Reformexperimente durchgeführt. Widerstand kommt jedoch oft von den Lokalverwaltungen der Städte. Sie befürchten, die entstehenden Mehrkosten für die Integration der Wanderarbeiter/innen nicht aufbringen zu können. Grundlegende strukturelle Reformen zur Aufhebung der bestehenden sozialen und rechtlichen Ungerechtigkeiten blieben deshalb bislang aus.

Doch nun ist erneut Bewegung in die Debatte gekommen. Ende Juli 2014 veröffentlichte der Staatsrat ein Dokument mit umfassenden Reformankündigungen hinsichtlich einer Lockerung der bisher strikten Unterscheidung zwischen städtischem und ländlichem "hukou". Diese Unterscheidung soll zunächst insbesondere in kleineren Städten abgeschafft werden. Restriktionen für Wanderarbeiter/innen bleiben in den Metropolen allerdings weiterhin bestehen.

Materielle Unterschiede und Ungerechtigkeiten sind nur ein Aspekt. Ein weiterer ist die soziale Diskriminierung, denen sich Wanderarbeiter/innen in den Städten oft ausgesetzt sehen. Städter begegnen ihnen mit Vorurteilen und schauen auf sie herab. Das führt dazu, dass sie sich als "Bürger/innen zweiter Klasse" empfinden. Hinzu kommt die Diskussion über die sogenannte "zweite Generation von Wanderarbeiter/innen". Dabei handelt es sich um die vielen jungen Menschen, die in den Städten geboren und aufgewachsen sind und sich selbst als Stadtbewohner wahrnehmen. In den meisten Fällen haben sie keinerlei Beziehung zur ländlichen Heimatregion ihrer Eltern. Da sie jedoch lediglich einen ländlichen "hukou" besitzen, haben sie nicht die gleichen Möglichkeiten und Zugänge zu öffentlichen Gütern wie Menschen mit städtischem "hukou".

Die im Rahmen des 3. Plenums des 18. Parteitages der KP Chinas angekündigten umfangreichen Urbanisierungspläne sowie die gerade veröffentlichten "hukou"-Reformpläne müssen auch mit umfassenden Reformen des Sozialversicherungssystems sowie des Bildungssektors einhergehen. Nur unter diesen Voraussetzungen können Migrant/innen erfolgreich integriert, bestehende Ungerechtigkeiten verringert und einer Polarisierung der Bevölkerung entgegengewirkt werden.

Quellen:

- National Bureau of Statistics of the People’s Republic of China.
- China Labor Bulletin
- Bundeszentrale für politische Bildung, Bettina Gransow: «Binnenmigration in China – Chance oder Falle?»:
- Ankündigung des Staatsrates