Charité

Charité-Gebäude

Malika und Fatima warten auf mich beim Eingang in die Frauenklinik der Charité. Die Frauen sind sehr still, ich versuche eine Unterhaltung anzufangen. Ich frage die beiden, wie sie in Tschetschenien gelebt haben... Ein Beitrag aus der "Berliner Anthologie" zum Internationalen Literaturfestival.

Tag 1

Es ist Montag, der 23. September, acht Uhr dreißig. Malika und Fatima warten auf mich beim Eingang in die Frauenklinik der Charité. Sie haben mir erst gestern gesagt, dass sie Übersetzungshilfe brauchen. Ich konnte niemanden so kurzfristig finden und übernehme selbst die Aufgabe. Die beiden Frauen sind hochschwanger, sie haben den Geburtstermin diese Woche. Wir gehen zur Schwangerenberatung und melden uns an. Fatima hat eine Überweisung vom Frauenarzt, nur die falsche. Wir werden gebeten, ein Papier zu unterschreiben, dass die Kosten für die Untersuchung privat zu tragen sind. Ich weigere mich zu unterschreiben. Zweihundert Euro, so viel würde die Untersuchung kosten. Fatima wird das nicht bezahlen können und dass danach jemand die Rechnung übernimmt, garantiert keiner. Wir warten erst einmal. Die Frauen sind sehr still, ich versuche eine Unterhaltung anzufangen. Ich frage die beiden, wie sie in Tschetschenien gelebt haben, in einer Wohnung oder einem Haus?

In einem Haus, sagt die eine. »Das Haus steht jetzt leer. Mein Mann hatte keine Arbeit. Für die Kinder wurden hundertzwanzig Rubel gezahlt.« Mehr sagt sie nicht. Mehr muss auch nicht gesagt werden.

Ich duze Fatima und sieze Malika wie immer. Ich  weiß nicht, aber ich kann Malika nicht duzen. Sie wirkt wie um die vierzig, ist sehr zurückhaltend und ruhig, ich habe Respekt vor ihr. Später stellt sich heraus, dass sie jünger ist als ich. Sie sind alle jünger als ich. Nur sehen sie sehr erfahren aus, reif, alt. Als ob sie schon ein ganzes Leben hinter sich hätten, aber sie erzählen nicht viel darüber. Vielleicht denken sie, es gebe da nichts zu erzählen. Sie halten nicht viel von sich. Diese Geringschätzung sich selbst gegenüber, diese ewige Geduld, die sie haben, das erstaunt mich und tut mir gleichzeitig weh.

Untersuchungen: Blutdruck, Urinprobe, Herztöne der Babys. Die ersten zwei Stunden sind um. Dann werden wir zum Arzt gebeten. Erst gehe ich mit Fatima zu ihm ins Sprechzimmer. Sie folgt mir unsicher, der Arzt ist ein Mann. Das ist ein Problem für sie.

Ich erkläre, dass Fatima das erste Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht habe, aber das zweite Kind jetzt ohne bekommen möchte. Der Arzt sagt, dass er Kaiserschnitt bevorzuge. Er macht einen Ultraschall und stellt fest, dass kein Fruchtwasser mehr da ist. Er sagt, dass die OP heute stattfinden müsse und wir direkt in den Kreißsaal nach oben gehen sollen. Ich frage Fatima, ob sie einverstanden sei. Sie lächelt nur unsicher und sagt nichts. Der Arzt schüttelt ihr die Hand und gratuliert ihr, weil sie heute erneut Mutter werden wird.

Malika wird von einer Ärztin untersucht.
»Alles in Ordnung«, sagt die Frau, »aber … der Kopf des Kindes liegt nicht unten, das ist kein Problem, wir drehen es gleich um. Die Frau Malika soll sagen, wenn es unangenehm wird.«
Malika stöhnt, die Ärztin macht trotzdem weiter.
»Jetzt ist es bald vorbei. So, jetzt ist es geschafft.«
Malika steht auf, das Gesicht blass, sie hält sich den Bauch. Sie ist sechs Tage über dem Termin. Die Ärztin schlägt vor, morgen die Geburt einzuleiten. Malika fragt mich leise, ob es nicht schon heute möglich wäre. Sie ist müde, der Bauch ist schwer, sie kann sich schlecht bewegen. Auch ihr Mann will sie heute nicht schon wieder zu Hause sehen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie das Kind immer noch nicht bekommen hat.

Die Ärztin fragt nach den vorigen Geburten und schreibt die Antworten in die Kartei. Ich korrigiere sie, dass Malika nicht drei, sondern vier Kinder hat.
»Sie hat vier lebende Kinder und das ist das fünfte?«, fragt mich die Ärztin erstaunt.
»Ja, das fünfte.«

Dann gehe ich mit Fatima in den Kreißsaal. Wir müssen uns zuerst anmelden. Die Mitarbeiterin verlangt einen Pass.
»Den hat Frau Ramirowa nicht dabei«, sage ich. »Hier ist doch das Untersuchungsheft und der Mutterpass, würde das vielleicht erst einmal helfen? Den Pass kann ihr Mann ja später bringen.«
»Nein, ich brauche ihn jetzt! Ist der Mann denn schon unterwegs? Wann genau kommt er? So geht das doch nicht. Gerade als nicht- deutscher Bürger muss man doch immer den Pass dabeihaben.«

Das hat sie wirklich so gesagt. Ich suche nach Worten. Das dauert zu lang, also schweige ich und ärgere mich, dass ich nicht sofort reagieren kann.

»Wo ist sie denn geboren: Tschetschenien, Kasachstan, Russland?« So geht es weiter.
»Ich brauche den genauen Geburtsort.«
Fatima weiß ihn nicht. Sie weiß nur, dass sie in Kasachstan geboren wurde und danach mit den Eltern zurück nach Tschetschenien gekommen ist.

Wir warten. Die Zeit vergeht. Es ist fast zwei Uhr. Ich muss bald zu den Kindern ins Heim. Ich frage am Empfang, ob es nicht schneller geht.
»Nein, es ist gerade viel los, und wenn Sie nicht übersetzen, dann können wir die Frau heute nicht operieren. Wir müssen sie über die Risiken aufklären, sonst werden wir nichts tun.«

Wir warten.

Fatima erzählt, dass bei der ersten Geburt in Tschetschenien das Kind einen Monat zu früh auf die Welt gekommen sei. Sie verbrachte zwei Tage auf der Intensivstation mit wahnsinnigen Schmerzen. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass das Kind tot zur Welt kommen würde.
Dann war es ein gesunder Junge. Ich kenne ihn ja, Rustam kommt jeden Tag zu mir und malt sehr konzentriert.

Aber jetzt verstehe ich, warum Fatima keinen Kaiserschnitt wollte, warum sie gerade eben beim Arzt geschwiegen hat. Endlich kommt der Chirurg. Ein Netter. Er erklärt, dass er den Schnitt quer machen werde. Bei Fatimas erster Geburt wurde der Bauchschnitt längs gemacht. Das mache man aber seit fünfzig Jahren in Deutschland nicht mehr. Es sei schmerzhaft und vernarbe unschön.

Dann erklärt er uns alle Risiken, zählt auf, was man bei dieser OP alles verletzen kann, wo man reinschneiden kann: Niere, Blutadern, Baby … Fatima lächelt nur. Zwischendurch sage ich, dass das alles sehr selten vorkomme, die Ärzte ihr das aber sagen müssten. So sind die Regeln. Ich weiß nicht, welche Wirkung das Ganze auf sie hat und ob sie überhaupt zuhört. Dann kommt der Anästhesist. Übelkeit, Durchfall, Lähmungen: die möglichen Nebenwirkungen der Narkose.

»Aber das passiert alles sehr selten«, sage ich wieder.

»Warum nicht Vollnarkose?«, fragt sie prompt. Das ist die erste Frage, die sie stellt.
»Weil es schlechter ist, die Risiken höher sind und das Kind mitbetäubt wird.« Heute habe ich auch was dazugelernt.

Und ich darf jetzt gehen. Ich schaue Fatima an, ich kann nichts von ihrem Gesicht ablesen. Sie hat  wahrscheinlich riesige Angst und fühlt sich alleingelassen. Aber sie lächelt sogar ein bisschen. Ich hoffe, dass ihr Mann bald da ist. Ich gehe mit Malika zurück ins Heim. »Kommst du morgen mit mir ins Krankenhaus?«, fragt sie.

Tag 2

Neun Uhr dreißig. Bin mit Malika im Kreißsaal. Wieder die Anmeldung. Und wieder dieselbe Frau wie gestern. Ich ahne schon, was kommt. Malika hat auch keinen Pass dabei. Später erfahre ich, dass ihnen bei der Einreise die Pässe vom Amt abgenommen wurden.

Die Dame wird wieder laut: »Ich kann sie nicht anmelden, ich brauche ihren Pass. Wo kommt sie denn her? Sie war doch schon gestern hier!«
»Das war eine andere Frau«, erkläre ich ihr.
»Wie kommen die denn alle hierher, mit einem Lastwagen etwa?«
»Ich wünsche Ihnen nicht, dass Sie mit so einem Lastwagen fahren müssen«, sage ich.

Stille.

»Der Mann soll den Pass bringen, so schnell wie möglich«, sagt sie und gibt die Daten in ihren Computer ein. Geht doch, denke ich … Wir warten wieder. Vorsichtig frage ich Malika, wer heute auf die vier Kinder aufpasst.
»Amina«, sagt sie. Amina ist ihre älteste Tochter, zehn Jahre alt.
»Und warum nicht Ihr Mann?«, frage ich.»

Er hilft nicht viel. Er ist sehr nervös. Tagsüber geht er spazieren, er legt sich oft hin. Nachts schläft er schlecht. Er hat demnächst einen Termin bei einem Neurologen. Islam, mein ältester Sohn, ist auch so, wie der Vater«, sagt sie.

»Sind Sie gläubig?«, frage ich.
»Mein Mann sehr. Er sagt meiner Tochter, dass sie nicht mit Jungen spielen soll.«

Ich versuche ihr zu erklären, dass Amina hier in die Schule gehen wird, dass es in Deutschland keine getrennten Klassen gibt und auch der Sportunterricht gemeinsam stattfindet.

»Ja, das sage ich meinem Mann die ganze Zeit schon, aber er hört nicht zu«, sagt Malika. Die Hebamme ruft uns auf. Sie gibt die Daten aller bisherigen Geburten ein. Jahr, Gewicht, Geschlecht, Verlauf der Geburt und ob das Kind gestillt wurde.

Die Hebamme erklärt uns, dass die Geburt eingeleitet wird, Malika soll eine Pille bekommen. Ich übersetze wieder alle Risiken. Der Blick von Malika wirkt abwesend. Danach soll sie ein Papier unterschreiben, auf dem steht, dass der Hersteller keine Haftung für die Wirkung der Pille übernimmt.

Ich muss jetzt gehen, es ist dreizehn Uhr, in einer Stunde öffnet das Studio im Heim. Ich muss noch alles vorbereiten und einkaufen. Brot und Nutella. Die Kinder kennen das schon und warten darauf. Es ist ein Ritual. Es tut mir weh, Malika alleinzulassen. Sie wirkt so verloren. Sie hat fast nichts gegessen. Ich überrede sie, mit mir zur Kantine zu gehen, dort kaufe ich Sandwiches.

»Rufen Sie mich an … ruf mich an, wenn was ist«, versuche ich endlich, sie zu duzen, um den Abstand zwischen uns zu überwinden.
»Danke, Marina«, sagt sie.

Ich hoffe, sie kriegt das alles hin. Natürlich tut sie das. Nur, zu welchem Preis? Sie verschließt sich immer mehr.

Sie ruft mich den ganzen Tag nicht an und geht auch nicht ans Handy.
Am nächsten Morgen rufe ich sie nochmals an. Diesmal geht sie ran.
»Und, alles gut gelaufen? Ist das Kind da?«, frage ich.
»Nein, noch nicht. Ich bin wieder im Zimmer. Ich habe schon drei Pillen geschluckt, die Wehen fangen nicht an.«
Ich weiß, dass sie ganz allein im Zimmer ist. Scheiße, jemand muss sie dort besuchen …

Zusammen mit dem "Internationalen Literaturfestival Berlin" haben wir Autor/innen dazu aufgerufen, sich mit dem Thema Flucht und Asyl literarisch auseinanderzusetzen. Dieser Beitrag ist Teil der "Berliner Anthologie", die auch zum Download bereit steht.