Eva Quistorp gibt seit den sechziger Jahren Sprachkurse für Geflüchtete. Das Bild, das manche Unterrichtshefte von Deutschland vermitteln, hat mit der konfliktreichen Wirklichkeit so gut wie nichts zu tun. Ein Erfahrungsbericht.
Ich habe Germanistik studiert und sollte Literaturprofessorin werden. Doch ich entschied mich als gute 68erin, das Bildungswesen von unten zu demokratisieren und wurde Lehrerin an Gymnasium, Gesamtschule und Berufsschule. In den Jahren der kleineren Flüchtlings- und Emigrationswellen habe ich privat, aus Neugier und aus Kritik an den Diktaturen oder Kriegen, Flüchtlingen Deutschunterricht gegeben - 1967 Griechen, 1973 Chilenen, 1988 Iranern und Ungarn, 1999 Tschetschenen, 2004 Ukrainern, 2010 Belorussen und 2011 syrischen Kurden.
Dabei merkte ich, wie schwer der Deutschunterricht für Zugewanderte und Flüchtlinge sein kann: Er besteht immer auch aus der meist unreflektierten Aufgabe, einen großen sozialen, politischen und kulturellen, damit auch religiösen Graben gegenseitiger Unkenntnis zu überwinden. Daher sehe ich dieses Deutschlehren auch als künstlerische Übersetzerarbeit und habe früh Zuflucht zur elementaren Verständigung in Musik und in Gesten gesucht. Am liebsten würde ich einen Kinder- und Flüchtlingschor gründen, um ihre und unsere Lieder zu singen.
Nun bin ich seit zwei Wochen eine der hunderttausend Ehrenamtlichen in Deutschland, die die neue Masseneinwanderung von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern des Nahen und Mitteleren Ostens zu bewältigen versuchen. Die großen Erklärungen von Angela Merkel und die gut gemeinten Reden von Joachim Gauck sind weit entfernt vom Alltag der Integration und dem Lernen mit Handy in Flüchtlingsheimen und auf der Straße.
Lippen, Mund, Stirn, Zähne: Das ist unsere Bundeskanzlerin
In einer Talkshow von Frank Plasberg forderte Herfried Münkler etwas süffisant, fast diabolisch neben Markus Söder: "Wir müssen sie zu Deutschen machen". Keiner widersprach. Doch auch Margot Käßmann, die den Syrienkrieg durch einen Stopp der Rüstungsexporte zu beenden vorschlug, schien nicht zu wissen, was es dafür in Kirchengemeinden und Schulen, in Gewerkschaften und Krankenhäusern braucht: Ohne mindestens eine Verdoppelung der Mittel durch den Bund, ohne eine rasche praxis- und alltagsnahe Weiterqualifikation aller Ehrenamtlichen und vor allem der LehrerInnen und ErzieherInnen ist das nicht zu meistern.
Es wird eine Anstrengung für die nächsten fünfzehn Jahre sein, und damit werden die eigentlichen Krisen noch nicht einmal gelöst sein. Die Aufgaben, vor denen alle im Lande und nicht nur die hilfsbereiten Bürgerinnen stehen, möchte ich an einem Beispiel klar machen: Am Heft "Deutschkurs für Asylbewerber. Thannhauser-Modell", das tausendfach in allen Flüchtlingsheimen verteilt wird. Es basiert auf dem Konzept "Erstorientierung und Deutschlernen für Asylbewerber" des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.Zunächst war ich glücklich, endlich mal ein einfaches, klares, freundliches Heft für den Deutschunterricht zur Verfügung zu haben. Das Buch ist für den ersten Spracherwerb gedacht, um eine schnelle Orientierung und Verständigung im Alltag zu ermöglichen. Es ersetzt keinen Integrationskurs. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen interessierte mich, welches Bild von Deutschland dort vermittelt wird.
Welches kulturelle und demokratische Selbstverständnis der Deutschen, welcher Sinn ihres Lebens, welche Gründe für das Engagement und für das Asylrecht werden vermittelt, wenn die ersten Sätze - Ich heiße Mohammed, ich komme aus Syrien, ich gehe einkaufen - erst einmal gelernt sind?
Schon auf Seite 16 wird es spannend, denn eingekauft wird in Deutschland anscheinend nur im Supermarkt. Wo es um Körper und Gesundheit geht, wird das Wort Brust mit dem Bild einer nackten Männerbrust gelernt, nicht mit dem einer Frau. Danach kommen aber, obwohl Gleichberechtigung oder Grundgesetz nie erwähnt werden, die Wörter für das Gesicht am Beispielsfoto einer strahlend lächelnden Merkel: Lippen, Mund, Stirn, sogar Zähne... Dann kommt der Satz: Das ist unsere Bundeskanzlerin. Dass Frau Merkel keine Kinder hat, geschieden ist, Protestantin und wieder verheiratet, aus der DDR kommt, wichtige Infos zum Deutschlernen im modernen Deutschland, wird leider nicht erwähnt, eher scheint sie unsere Kaiserin zu sein. Das war's zu Frauenrechten und Demokratie.
Wenn ich soweit bin im Kurs, werde ich mir wohl die Freiheit nehmen zu erklären, was der deutsche Bundestag, die Parteien, die Wahlen, das Grundgesetz sind seit dem Zweiten Weltkrieg, der auch mit Flucht und Armut für Millionen einherging. Das Wort "Flucht" kommt in dem Heft so wenig vor wie Krieg oder Frieden, Diktatur und Terror, oder die wesentlichen Worte für Trauer, Leid, Freude, Lachen, Weinen, Trösten, Umarmen, die Hand geben, Küssen, Toleranz, Barmherzigkeit, Mitleid, Verantwortung, Pflicht. Dafür aber alle Worte, die Frau zum Einkaufen von Kleidung braucht, obwohl doch Kleidung zur Zeit vor allem gespendet wird.
Bei den Berufen, die gelernt werden, kommt der Lehrer, der Pfarrer, der Maurer, der Automechaniker, der Altenpfleger, dann plötzlich Putzfrau und Putzmann. Ich habe noch keine Kollegin gefragt, wie sie denn das Wort Putzmann erklärt. Draußen im Hof werfen Kinder Plastikmüll weg, sogar Brot und Butter. Wenn ich nachfrage, zucken die meisten mit den Schultern, der globale Ausdruck für: nicht mein Problem, ich bin nicht verantwortlich. Keiner der Älteren kümmert sich darum und zeigt, wie man putzt oder Abfälle in den Mülleimer wirft, es kommt ja täglich eine Putzfirma. Wo die Hausordnung hängt, weiß keiner. Am Ende gibt sich das Heft Mühe, auf das umweltbewusste Deutschland vorzubereiten - mit einer Seite: Wir schützen gemeinsam unserer Erde. Aber wie lernen die Hunderttausende von jungen Männern, wie man eine Frau kennen lernt, wie man sie behandelt, was Liebe ist - alles aus dem Internet?
Deutschlernen ohne Judentum und Juden?
Was ist Arbeitsdisziplin, was Kollegialität? Was sind Gewerkschaften? Nicht unwichtig für die, die aus zerfallenden Staaten kommen. Wie sie ohne all dies zu Deutschen machen, Frau Merkel, Herr Gauck, Herr Münkler? Und was für Deutsche? Helle wohl. Aber was ist für uns selbst dabei elementar an kulturellen und geistigen Traditionen? Denn der Supermarkt ist doch wohl nicht der Kern unserer Gemeinschaft?
Doch woran ich mich am meisten störe und wo ich eine schnelle Reform für die elementaren Deutschkurse fordere, ist das Thema Behörden, Religion und Brauchtum auf Seite 36 und folgende, also gegen Ende. Das Asylverfahren wird auf einem sehr detaillierten, komplexen Sprachniveau mit Begriffen wie Anerkennung, befristeter Erlaubnis und Duldung erklärt. Doch es wird nicht einmal klar gemacht, dass dies ein Teil des Grundgesetzes ist und wann und warum das geschaffen wurde. Im Vergleich dazu bleibt die elementare Frage der Integration, wie wir es mit Religion und Brauchtum halten, auf nichtssagendem Niveau.
Geschockt war ich, als ich feststellte, dass für Deutschland, Europa und die Welt nur zwei Religionen angegeben sind, das Christentum und der Islam: Auf Seite 37 wird zwar zu Christen und Muslimen geschrieben: "Gemeinsam geht es besser". Doch bei der Gemeinsamkeit fehlen ausgerechnet die Juden! Überhaupt fehlt jeder Hinweis auf das Judentum, so wie es auch keinen Hinweis auf Luther und die Reformation oder die Orthodoxe Kirche gibt. Wie kann es passieren, dass das niemandem im Bundesamt für Migration oder im Bayerischen Staatsministerium aufgefallen ist? Soll Deutschlernen ausgerechnet jetzt, wo fast eine Million Muslime aus dem Nahen Osten kommen, ohne Judentum und ohne Juden in Deutschland stattfinden? Ist es ein Ergebnis der faulen oder der blinden Toleranz, dass anscheinend keiner anderen Ehrenamtlichen und keinem anderen Deutschlehrer vor mir das aufgefallen ist?
Wo wird im Deutschunterricht und bei den vielen Angeboten für Flüchtlinge der säkulare Staat, die Freiheit der Meinung und ihre besondere Beschränkung von Hassreden in Deutschland erklärt und das besondere Verhältnis zu Israel? Wie wird es geübt? An große Zelte mit Computern für Deutschunterricht, wie der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime es in einer Phoenix-Runde vorschlug, glaube ich nicht. Es muss darum gehen, sich in kulturell gemischte Nachbarschaften zu integrieren, deutsche Kultur als geprägt auch von der jüdischen und antiken Kultur zu verstehen, die Spuren dazu in den Jugendzentren und Kulturorten zu suchen, nicht in den Shopping Malls, den Parallelgesellschaften oder den kriminellen Clans, die wir ja haben. Mädchenclubs wie Madonna und die Muslime gegen Antisemitismus müssen jetzt vervielfacht werden und gehören mit in das Sozialwissen der Deutschlehrer.
Es sollte den Ehrenamtlichen Freiheit gegeben werden, die Schwachstellen der Arbeitshefte und Curricula schnell zu korrigieren, damit Frauenrechte, Minderheitenrechte und die Kritik am Antisemitismus wie am Rassismus von Anfang an gelernt werden. Damit die Hunderttausenden aus den Kriegs- und Flüchtlingslagern in einem liberalen, demokratischen Land zurechtkommen - mit all seinen Frauen- und Minderheitenrechten, verschiedenen Religionen und Kulturen, mit Kabarett und Satire, Sexshops und Nachtclubs, überhaupt seiner extremen Pluralität -, braucht es andere Bilder in den Arbeitsheften und grundsätzliche Worte zum Kultur- und Demokratieverständnis. Wie gelingt das Zusammenleben in Konflikten? Wie erträgt man so viel Verschiedenheit und Individualismus? Welcher Zeitgeist steht dahinter? Was lernen die Flüchtlinge im Internet über uns? Wie sollen sie sich das Durcheinander erklären?
Zeit für Länderinformationen, Sonderbeilagen und Demokratieunterricht
Deutsch lernen sollte auch heißen zu lernen, dass in Europa Atheisten, Humanisten, Religionskritik von innen und außen anerkannt sind, dass Beleidigungen auch der Religion tolerant ertragen werden müssen. Und was tun, nicht nur finanziell, sondern in Beziehungen, wenn man arbeitslos bleibt, sich nicht anerkannt fühlt? Auch bei Besuchen von Kirchen und Synagogen und demokratischen Moscheen kann Deutsch gelernt werden, wie auch in Museen, Theatern, Opern, Musikschulen und Sportplätzen, auf denen auch Frauen Fußball spielen dürfen.
Deutsch lernen ist soziales, kulturelles und demokratisches Lernen. Es muss mit dem Einüben von Streitkultur und Kompromissen, von Konfliktfähigkeit einhergehen und damit, Frustrationen auszuhalten und Leiderfahrungen gewaltfrei zu verarbeiten.
Es wäre auch eine Aufgabe der Medien, jetzt schnell mehr Länderinformationen zur Verfügung zu stellen, Sonderbeilagen zu machen zu Afghanistan, Syrien, Irak, Pakistan, dem Balkan eventuell in Zusammenarbeit mit Flüchtlingen aus den Ländern, die schon länger hier leben. Gebete, Lieder, Feste, Großfamilienbräuche auch die, die zu kritisieren sind, kennen zu lernen, unsere eigenen besser vorzustellen. Denn was ist Ostern, was ist Pfingsten, was ist Weihnachten, Ramadan, was sind die zehn Gebote, was ist Pressefreiheit? Da können wir gemeinsam lernen üben und uns gegenseitig übersetzen.
Frau Merkel, Herr Gauck, Herr Münkler, liebe Integrationsbeauftragte: Nur wenn Sie den Ehrenamtlichen eine vernünftige Weiterbildung und gute Jobs geben, den besten Deutschunterricht als Demokratieunterricht konzipieren, werden wir die fast unendlichen Übersetzungsaufgaben der Integration besser als bisher schaffen. Der Deutschunterricht muss wie die Begleitung bei Behördengängen oder Gesundheitsdiensten als Weg der Übersetzung in unsere Kulturen, Spielregeln, Weltverständnisse und Methoden der Interpretation von Thora, Bibel, Koran und Aufklärung gelebt werden, über denen das Grundgesetz steht. Das sollten wir neben Süßigkeiten auch mal verteilen, in vielen Sprachen, und die Europahymne gleich mit.
Vielleicht können wir aber auch von Flüchtlingen unsere Demokratie und Kultur mehr schätzen lernen und von ihnen neben ihren Dramen und Tragödien und ihrem Humor, ihrer Musik, auch mehr Achtung für die Alten und die Familie annehmen. Als ich neulich im Unterricht Prellungen erlitt und nach schmerzhaftem Humpeln ein junger Afghane das sah, kam er angerannt und nahm mich, die Sprache ging nur über die Augen, spontan auf den Arm, trug mich die Treppe hinunter und brachte mich wieder zum Lachen, verwundert beobachtet von seinen Landsleuten.
Dieser Essay erschien zuerst am 22.9.2015 auf perlentaucher.de.
Update: Karl Landherr vom Team deutschkurs-asylbewerber.de hat auf die Kritik von Eva Quistorp in einem Kommentar geantwortet. Eva Quistorp hat auf seine Kritik in einem weiteren Kommentar reagiert.