Jerusalem: Der Konflikt um den Tempelberg

Teaser Bild Untertitel
Der Auslöser des derzeitgen Konflikts: Haram al-Sharif (Das edle Heiligtum), wie der Tempelberg im Arabischen heißt

Gewalt bestimmt derzeit den Alltag in Israel. Eine Zwei-Staaten-Lösung rückt mit jedem neuen Anschlag in weite Ferne. Was ist der Anlass der erneuten Eskalation und welche Rolle kann die israelische Linke im Friedenspozess spielen?

Seit Oktober 2015 herrscht wieder alltägliche Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Der Konflikt begann in der Jerusalemer Altstadt rund um den Tempelberg, als die als Ordnungsmacht eingesetzte israelische Border Police gegen muslimische Proteste am Aufgang des Heiligtums vorging. Die Unruhen breiteten sich rasch auf die gesamte Altstadt aus und parallel dazu explodierten die Freitagsdemonstrationen an den neuralgischen Punkten in der Westbank, vor allem in Hebron und in der Nähe der Flüchtlingscamps rund um Betlehem. Auf beiden Seiten wächst seither die Zahl der Toten tagtäglich.

Es wurde in letzter Zeit viel darüber diskutiert, ob die neue Gewaltwelle, die die Westbank und Israel seit Monaten heimsucht, als eine neue Intifada bezeichnet werden kann oder nicht, ob die Maßnahmen von israelischer Seite angemessen sind, die zumeist in der „Neutralisierung“ der meist jugendlichen Angreifer besteht oder ob die Sicherheitskräfte genug zum Schutz der Bevölkerung tun. Offensichtlich besteht die israelische Reaktion einzig und allein in verschärften Sanktionen und Bestrafungsaktionen, ohne Aussicht auf eine Lösung. Es lohnt sich daher auf die Ursachen des Konflikts näher einzugehen, um diese Unbeweglichkeit der israelischen Seite zu erklären.

Die Suche nach tieferliegenden Gründen verweist auf eine grundlegende Änderung in den gesellschaftspolitischen Wertorientierungen der israelischen Gesellschaft.  

Neuralgischer Ort

Aufschlussreich ist der Blick auf den Anlass dieser Terrorwelle: die Auseinandersetzung um den Tempelberg in Jerusalem, dem Wahrzeichen der Stadt und Symbol beider Konfliktparteien. Auf palästinensischer Seite kursierten zu Beginn der neuen Gewaltwelle Gerüchte, dass die Regelung - freier Zugang für muslimische Gläubige und die Anerkennung als islamisches Heiligtum unter dem Schutz der jordanischen Tempelwärter (Wafq) - von Israel beseitigt werden sollte. Diese Gerüchte sind nicht nur befeuert worden durch das rigorose Durchgreifen der israelischen Ordnungskräfte, sondern vor allem durch radikalreligiöse Strömungen innerhalb der israelischen Gesellschaft, die den heiligen Berg als Zentrum des Judentums neu erstehen lassen wollen.

Eine in den letzten Jahren immer stärker werdende Bewegung, die sich „Temple Mount Faithful“ nennt, will einen dritten (jüdischen) Tempel anstelle des seit der islamischen Eroberung Jerusalems 635 n. Chr. errichteten Heiligtums Haram al-Sharif aufbauen und das Areal wieder in israelischen Besitz bringen. Gleichzeitig ist der Tempelberg auch Symbol für den Anspruch des palästinensischen Volkes auf Souveränität und auf einen eigenen Staat mit Ost-Jerusalem als dessen Hauptstadt. Immer stärker werdende Strömungen innerhalb der israelischen Gesellschaft nähren den Verdacht, dass sich in der israelischen Politik nun endgültig die Auffassung durchsetzen soll, den Palästinensern diesen Anspruch und damit einen eigenen Staat zu verweigern.

Dabei ist der israelisch-palästinensische Konflikt ebenso ein Streit um Land wie um Anerkennung der jeweiligen kulturellen und religiösen Erfahrungen und Traditionen. Der Tempelberg ist der neuralgische Ort, an dem beide Aspekte aufeinander prallen.

Seit dem Sieg der israelischen Armee im Sechs-Tage-Krieg 1967 wurde die Rückeroberung der heiligen Stätten des Judentums in Jerusalem und in der Westbank zu einem Kernstück der offiziellen israelischen Politik. Damit hat sich der Konflikt durch eine neue Komponente verschärft. Konnte man den Gang Ariel Sharons über den Tempelberg 2002 noch als eine Demonstration eines in seinem Wesen politischen Konfliktes interpretieren, in dem die religiöse Symbolik benutzt wurde, um weltliche Macht gegenüber der palästinensische Seite zu zeigen, so sind die heute agierenden national-religiösen Kräfte von ihren religiösen Überzeugungen als Handlungsmotive gekennzeichnet.

Vom politischen zum religiösen Konflikt

Aus der Überzeugung heraus, „Eretz Israel“ sei das den Juden in der Bibel von Gott versprochene Land, wird der Anspruch auf das ganze Land vom Mittelmeer bis zum Jordan abgeleitet und den Palästinensern ein eigener Staat und damit ihr Selbstbestimmungsrecht verweigert. Indem die Nationalreligiösen so den Zionismus umschreiben, ist es ihnen in den letzten Jahren zunehmend gelungen, aus einem Konflikt um nationale Selbstbestimmung einen religiösen Konflikt zu machen.

Yossi Verter, Parlamentskorrespondent der Tageszeitung Haaretz, geht davon aus, dass diese extreme Minderheit wachsenden Einfluss auf Regierungsentscheidungen gewonnen hat („When extreme becomes mainstream“). Miri Regev, die Kulturministerin, ebenso wie Uri Ariel, der für Landwirtschaft zuständig ist und sich mehrmals Zutritt zum Tempelberg verschafft hat, vertreten die Weltsicht der „Temple Mount Faithful“. Tzipni Hotovely, immerhin stellvertretende Außenministerin Israels, träumte öffentlich davon, die israelische Flagge auf dem Heiligtum wehen zu sehen.

Diese radikale jüdische Minderheit orientiert sich an der religiösen Begründung, die die Herrschaft und die Vereinnahmung der Orte der religiösen Überlieferung durch den Staat fordert. Sie beeinflussen und bestimmen auch teilweise das Handeln der Regierung  Dieser neu definierte und im nationalen Sinne radikalisierte Zionismus hat den Anspruch den status quo in Frage zu stellen  und Erfüllung der religiös begründeten Forderungen unhinterfragbar und nicht verhandelbar zu machen.

Die Landnahme im Westjordanland orientiert sich an der Erzählung des Volkes Israel vor seiner Vertreibung ins Exil vor fast 2000 Jahren, an der Kontrolle über die Grabstätten der Patriarchen in Hebron und an der Herrschaft durch Annexion in Jerusalem. Diese messianische Weltsicht speist sich aus einem apodiktischen, apokalyptischen Denken, das in seinem Kern schwer mit demokratischen Grundsätzen und Verfahrensweisen zu vereinbaren ist.

Doch auch das religiöse Establishment in Israel ist gespalten. Eine Mehrheit der jüdischen Traditionalist/innen argumentiert, dass seit der Zerstörung des Zweiten Tempels auch die Heiligkeit des Ortes zerstört sei. Für gläubige Juden sei der Ort entweiht. Die Übereinkunft mit Jordanien nach dem Sechs-Tage-Krieg, den Tempelbezirk als muslimisches Heiligtum anzuerkennen, wird mit dieser jüdischen Glaubensansicht begründet.

Avi Sagi, Philosophieprofessor an der Bar Ilan Universität in Tel Aviv, weist auf die Gefahr hin, die in der Instrumentalisierung von Religion für die Politik liegt. Seiner Meinung nach überlagern sich in diesem Machtdiskurs zwei Systeme: Die Forderung nach der Herrschaft des Staates Israel über den Tempelberg werde aus einer religiösen Interpretation der Besitznahme abgeleitet und daraus begründe der Staat seine Existenzberechtigung. Er appelliert hingegen dafür, weltliche nationale Souveränität und die religiöse Überlieferung weiterhin getrennt zu halten. „Holiness“, so das Argument von Avi Sagi, sei ein individuelles normatives System, unabhängig von staatlichem Zugriff. Daher wirft er den Nationalreligiösen eine Verfälschung der jüdischen Überlieferung vor. Die Heiligkeit des Ortes sei durch die Vermischung mit staatlichen Herrschaftsansprüchen zerstört und unterhöhle zugleich Israels weltliche, auf einem modernen Staatswesen beruhenden Macht.

Und wie reagiert das säkulare Israel auf diese Umdeutung des israelischen Staates durch die nationalreligiöse Bewegung? Eine Reihe von Kommentator/innen deutet diese messianische Bewegung als Gefährdung des Staates und fordert, dass die Regierung die Übereinkunft mit Jordanien und den Palästinensern erneuert, so Sefi Rachelevsky in Haaretz.

Die Anerkennung des status quo auf dem Tempelberg sei der Anfang eines Aussöhnungsprozesses mit der muslimischen Seite, eine Überlebenssicherung des israelischen Staates. Zeev Sternhell, einer der führenden Historiker Israels, beschreibt die Entstehungsgeschichte Israels als ein kontinuierliches Projekt der Eroberung und Besiedlung Palästinas, das auch im Sechs-Tage-Krieg fortgesetzt wurde. Er wirft der Linken und insbesondere der Arbeiterpartei vor, keinen Gegenentwurf zu dieser religiösen Eroberungsdoktrin vorgelegt zu haben. Gleichzeitig habe sie die Siedlungen jenseits der grünen Grenze nicht als illegal und vor allem als im Sinne eines aufgeklärten Staatsverständnisses als unmoralisch verurteilt zu haben. Sie hätten es wiederholt versäumt, sich zu einem Staat innerhalb der international anerkannten Grenzen zu bekennen. Sternhell erinnert daran, dass die zionistische Bewegung in ihren Ursprüngen Israels Existenzrecht nicht nur mit dem Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat begründete, sondern auch mit dem Recht der Gleichheit aller Menschen.

Diese Prinzipien anzuwenden, würde auch bedeuten, dass Israels Linke nicht nur die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen fordert - die im Übrigen von einer Mehrzahl der Israelis begrüßt wird - sondern auch die Prämissen des eigenen Handelns überdenken müsste. Die mit dem Sechs-Tage-Krieg übernommene Last der Besatzung ist nicht die Vollendung des israelischen Unabhängigkeitskrieges, wie auch weltliche Zionisten damals argumentierten, sie war der Beginn der Umdeutung einer nationalen Bewegung in eine messianische aus einem religiösen Weltbild gespeisten Mission, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hatte. Was die Historiker in den 1990er Jahren mit einer geschichtspolitischen Neujustierung Israels und der zionistischen Bewegung im Nahen Osten auf der Grundlage einer liberalen Demokratie begannen, hätte die Grundlage für eine neue Politik der Aussöhnung werden können: Anerkennung fester Grenzen, Ausgleichsregelungen mit den vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinensern. Aber eben nur „hätte“. Es fehlte der Wille und die Bereitschaft der Politik und offensichtlich die Fähigkeit der führenden Politiker.

Noch ist die Hälfte der israelischen Gesellschaft davon überzeugt, dass es eine Regelung mit den Palästinensern im Interesse Israels geben sollte. Während die Gewalt weiterhin den Alltag bestimmt, geraten die Kräfte, die die Zwei-Staaten-Lösung anstreben und sie politisch durchsetzen könnten, zunehmend ins Hintertreffen.

Ohne eine Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion und der Wiederbelebung eines Zionismus, der auf Humanismus beruht und für ein demokratisches Israel eintritt genauso wie für einen eigenen palästinensischen Staat, wird die demokratische israelische Linke weiterhin ohne Einfluss bleiben und nicht die Rolle spielen, die sie spielen könnte und sollte.