Nach dem Terror: Das Ringen um Europas Seele

Tage nach den Anschlägen in Paris erwacht Europa nur langsam aus der Schockstarre. Die Geschehnisse erinnern schmerzhaft an unsere innere Verletzlichkeit und die großen außenpolitischen Hürden, vor denen wir stehen. Ein Kommentar zu sieben Herausforderungen, die aus den Trümmern von Paris erwachsen.

1. Ein Balanceakt zwischen dem Bekenntnis zu unseren Werten und einem Rückfall in den Nationalismus: Eines tief bewegendes Video von letztem Freitag zeigt eine Menschenmenge, die beim Verlassen des Stade de France die französische Nationalhymne anstimmt. Es handelt sich dabei nicht um das berauschende Gift des Nationalismus. Vielmehr symbolisiert die Szene ein anrührendes Bekenntnis zu einer gemeinsamen politischen Identität, die auf den Gründungswerten der Grande Nation mit ihren republikanischen Ideen und Traditionen beruht. Es ist eine seelenvolle Bejahung unserer demokratischen Ordnung und unserer freien Gesellschaft. Sicher, unsere liberalen Demokratien sind bei weitem nicht perfekt. Die Anschläge von Paris verlangen eine selbstkritische Auseinandersetzung mit unserem Versäumnis, die Radikalisierung junger Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft zu verhindern. Gleichzeitig können wir uns glücklich schätzen, in einer der freisten und demokratischsten Regionen dieser Welt zu leben. So sehr dies Tage der Trauer und der Selbstreflektion sind, so sehr sind es auch Tage der Rückbesinnung auf die Werte, nach denen wir bis heute anstreben zusammenzuleben: Liberté, Égalité, Fraternité.

2. Die Populisten nicht gewinnen lassen: In diesen dunklen Stunden brauchen wir eine breite Koalition der demokratischen Kräfte um zu verhindern, dass der Front National und andere Populisten aus dem Grauen Gewinn schlagen können. Opportunistische Querelen und Schuldzuweisungen zwischen den Parteien der gesellschaftlichen Mitte sind den Zeiten nicht angemessen. Vielmehr sollten die demokratisch gesinnten Parteien eine breite Front der Anständigen bilden, um die fälschlich herbeigeschworene Verbindung zwischen den Anschlägen in Paris und der Flüchtlingswelle zu enttarnen.

Die große Mehrheit der Flüchtlinge, die momentan den Weg nach Europa antritt, flieht selbst vor Gewalt und wahlloser Verfolgung. Die Flüchtlingsthematik hat mit den Anschlägen bei genauerem Hinsehen tatsächlich nur sehr bedingt zu tun. Nach bisherigen Erkenntnissen waren die Attentäter von Paris mit einer Ausnahme allesamt europäische Staatsbürger. Diejenigen, die nun aus den Attentaten politisches Kapital zu schlagen versuchen, um ihre immigrationsfeindliche Haltung zu stärken, sollten sich schämen. Das gilt gleichermaßen für die populistischen Parteien in Deutschland und Frankreich, als auch für die neue polnische Regierung und die über 20 republikanischen Gouverneure in den USA, die jetzt lautstark einen Aufnahmestopp für syrische Flüchtlinge fordern.

3. Eine sachliche, unaufgeregte Debatte über den Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit: Der Anschein absoluter Sicherheit existiert nur im Polizeistaat. Unsere offenen Gesellschaften dagegen sind inhärent verletzlich. Wir zahlen willentlich einen gewissen Preis für unsere Freiheit. Daran sollten wir auch nach den Anschlägen in Paris nicht rütteln. Gerade jetzt braucht es eine wachsame Zivilgesellschaft um zu verhindern, dass das Pendel zu sehr in die Richtung der grenzenlosen staatlichen Überwachung und Kontrolle schwingt. Der US Patriot Act, den das amerikanische Abgeordnetenhaus nach dem 11. September 2001 beschloss, gilt als warnendes Beispiel.

Gleichzeitig müssen wir anerkennen, dass es ohne Sicherheit keine Freiheiten geben kann. Regelmäßige Anschläge inmitten unserer Gesellschaft und die grassierende Angst, die solche Attentate entfalten, würden auch unsere Gesellschaften auf Dauer nicht tolerieren. Wir sollten deshalb die Notwendigkeit gut aufgestellter Sicherheitsdienste und grenzübergreifender Kooperation im Daten- und Informationsaustausch nicht verkennen. Demokratische Legitimation und parlamentarische Kontrolle unserer Sicherheitsorgane sind von größter Bedeutung. Gleichzeitig sollten wir nicht so tun, als seien europäische und amerikanische Sicherheitsdienste unsere größten Feinde. Paris erinnert uns daran, dass ein sachlicher und breiter gesellschaftlicher Dialog über den Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit heute dringlicher denn je ist.

4. Die Dinge beim Namen nennen: Einige europäische Stimmen haben nach den Anschlägen in Paris rasch verkündet, der Terror habe keine Religion. In den meisten Fällen entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Keine Frage: Islamistische Fundamentalisten pervertieren und entfremden den Islam, wie ihn die große Mehrheit der Muslime heute interpretiert. Aber wir sollten nicht ignorieren, dass die allermeisten Terroristen ihre hasserfüllten Taten durch ihre Religion rechtfertigen. Dieses religiöse Element kleinzureden, wird den Kampf um die Herzen und Köpfe der gefährdeten jungen Männer und Frauen nur erschweren. Ganz sicher kann der Terrorismus nicht nur militärisch oder mit polizeilichen Mitteln bekämpft werden. Wir müssen die Auseinandersetzung auch in der Welt der Ideen gewinnen.

Im gleichen Atemzug gilt zu betonen, dass wir keinen Krieg gegen den Islam oder die überwältigende Mehrheit von Muslimen führen, die selber mit islamistischen Fundamentalisten nichts zu tun haben. Es bedarf lediglich eines flüchtigen Blicks auf die Zusammensetzung der französischen Sicherheitsdienste, die nach den Anschlägen die Straßen sicherten, um festzustellen, dass ein großer Teil von ihnen Pariser Muslime mit nordafrikanischem Migrationshintergrund waren.

5. Den Kopf nicht in den Sand stecken: Einige Kommentatoren ließen nach den Anschlägen rasch verlauten, dass die Anschläge von Paris die Antwort auf die französischen Luftangriffe gewesen seien, die Frankreich seit letztem Jahr im Rahmen der Anti-ISIS-Koalition fliegt. Was aber ist die Schlussfolgerung aus dieser Logik? Soll das heißen, dass wir mit ISIS in Frieden leben könnten, wenn wir die Terrororganisation nur in Ruhe ließen? Wie viel Chaos und Verwüstung sind wir bereit in Europas Nachbarschaft zu tolerieren? Was ist unsere Antwort auf den Frauenhandel, die Rekrutierung von Kindersoldaten und die erbarmungslose Verfolgung von Minderheiten durch ISIS?

Erst vor ein paar Tagen haben kurdische Peschmerga-Kämpfer Massengräber in der Nähe der irakischen Stadt Sinjar entdeckt. Wir können nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und darauf warten, dass das Grauen vorüberzieht. Die Verwüstung durch ISIS geht uns alle an, und zwar nicht nur, weil unsere Flüchtlingsheime aus allen Nähten platzen. Es gibt keine einfachen Antworten auf die Zerstörungswut von ISIS. Die Kriege im Irak und in Afghanistan dienen als warnendes Beispiel. Aber ISIS in Syrien und im Irak walten zu lassen, um nicht zu ihrem Angriffsziel zu werden, ist schlicht keine langfristige Option. Ob wir es wollen oder nicht, dieser Krieg wird Europa noch lange beschäftigen.

6. Assads Propaganda keinen Glauben schenken: Syriens Präsident Bashar al-Assad führt die Anschläge in Paris ähnlich wie manch europäischer Kommentator auf Frankreichs Intervention in Syrien zurück. Es ist bezeichnend, dass der Diktator nach dem Absturz des russischen Flugzeugs über dem Sinai vor einigen Wochen keine vergleichbaren Schlüsse zog. So hätte er doch logischerweise damals verkünden müssen, dass der mutmaßliche Terroranschlag auf das russische Passagierflugzeug in direkter Verbindung mit Moskaus militärischer Intervention zu seinen Gunsten stand. Damals zog Assad es allerdings vor, zu schweigen. Während er also einerseits die französische Intervention in Syrien kritisiert, die vornehmlich auf die Schwächung von ISIS abzielt, verkauft er sich gleichzeitig als einzig realistisches Bollwerk gegen den islamistischen Terror. Assads Propagandaschlacht hat eben seine ganz eigene verquere Logik.

7. Vorsicht bei Zweckbündnissen: Dieses Argument wird aus gutem Grund immer wieder angebracht: Assad und ISIS sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Kampf gegen ISIS allein wird nicht erfolgreich sein, solange Assad sich an der Macht hält. Ähnlich skeptisch sollten wir dem sich abzeichnenden Zweckbündnis mit Russland im Kampf gegen ISIS begegnen. Ein gewisser Grad an Kooperation mit Russland mag notwendig sein, um den Druck auf Assad zu erhöhen, seine tödlichen Angriffe auf die eigene Bevölkerung einzustellen. Eine limitierte Zusammenarbeit mit Putin ist auch im internationalen Kampf gegen ISIS wohl unumgänglich. Trotz aller Pragmatik sollte der Westen aber vermeiden, sowohl Putin als auch Assad als kleineres Übel anzusehen und politisch zu rehabilitieren. Den Machtinteressen Putins sollten wir ohne Augenwischerei begegnen. Solange Putin seine schützende Hand über Bashar al-Assad hält, bleibt er Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Eine Zweckallianz mit Assad und Putin wird allerdings nur zu vermeiden sein, wenn der Westen bereit ist, sein eigenes Engagement in Syrien deutlich zu steigern.