Nach Paris: Was tun? Europa zwischen Furcht und Säbelrasseln

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Podiumsdiskussion am 26. November 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung

Wie kann dem Terror begegnet werden? Darüber diskutierten am 26. November 2015 Expertinnen und Experten in der Heinrich-Böll-Stiftung bei einer gemeinsam mit dem Centre Marc Bloch veranstalteten Podiumsdiskussion.

Die Anschläge in Paris vom 13. November 2015 haben Europa schwer erschüttert. Nur wenige Monate nach den Attentaten auf das französische Satire-Magazin Charlie Hebdo ist Paris ein zweites Mal Ziel des islamistischen Terrors geworden - die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) bekannte sich zu den Attacken. Doch zielten die Anschläge dieses Mal vor allem auf öffentliche Orte, an denen sich besonders viele junge Menschen aufhielten und die mehr als andere die Freiheiten einer liberalen Lebensweise versinnbildlichen. Die Mehrzahl der Getöteten von Paris war jünger als 35.

Video-Mitschnitt der Podiumsdiskussion am 26. November 2015

 

Nach Paris: Was tun? Europa zwischen Furcht und Säbelrasseln - Heinrich-Böll-Stiftung

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Mit:

  • Bernd Ulrich, Leiter Politikressort und stellv. Chefredakteur, Die Zeit
  • Ulrike Guérot, Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance, Berlin
  • Dr. Teresa Koloma Beck, Leiterin der Studiengruppe "Urbane Gewalträume", Centre Marc Bloch
  • Jens Althoff, Leiter Heinrich-Böll-Stiftung Paris
  • Bente Scheller, Leiterin Heinrich-Böll-Stiftung Beirut

Moderation: Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

 

Frankreichs Staatspräsident François Hollande verkündete unmittelbar nach der Attacke, dass sich das Land nun im „Krieg“ befände und verhängte einen Ausnahmezustand, der vom französischen Parlament auf drei Monate verlängert wurde. Zugleich fliegt Frankreich verstärkt Luftangriffe auf die Stellungen der Terrormiliz in Syrien und im Irak. Mit Besuchen in Washington und Moskau wie auch einem Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel versucht Hollande, ein internationales Bündnis gegen den IS zu schließen und hofft auf verstärkte militärische Unterstützung im Kampf gegen die Terrormiliz.

Wie aber kann dem Terror in der Region und in Europa begegnet werden? Wie müsste eine nachhaltige Strategie gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak aussehen? Und wie können wir in Europa der Angst begegnen und erhöhte Sicherheit gewährleisten, ohne grundlegende Freiheiten einzuschränken?

In der französischen Hauptstadt, die sich, laut Jens Althoff, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris, knapp 10 Tage nach den Anschlägen noch immer im Schockzustand befindet, hat sich das Leben durch den verhängten Ausnahmezustand verändert. Viele der geplanten Veranstaltungen im Rahmen der UN-Klimakonferenz COP21, darunter die angesetzte Großdemonstration, wurden aus Sicherheitsgründen abgesagt. Die französischen Regionalwahlen Anfang Dezember fachen die Debatte über die Ursachen der Anschläge an und spielen dem Front National in die Hände, der nun mit besonders scharfer Rhetorik Ressentiments gegen muslimische Migrant/innen und Flüchtlinge schürt.

Neue Nachbarschaftlichkeit

Dass das Eintreffen einer großen Zahl an Flüchtenden aus dem Nahen und Mittleren Osten in Europa vielmehr als Chance für einen Versöhnungsprozess begriffen werden muss, betonte dagegen Bernd Ulrich, Leiter des Politikressorts und Stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung Die ZEIT. Die aktuellen Migrationsbewegungen versetzten die europäischen Gesellschaften nun in ein historisch neues und unmittelbares Nachbarschaftsverhältnis mit den Menschen aus der Region, das auch nicht mehr zu revidieren sei. Alle Maßnahmen, vor allem aber alle militärischen Interventionen in der Region, müssten nun vor dem Hintergrund dieses realen Nachbarschaftsverhältnisses neu bewertet werden.

Im Rahmen dieser Nachbarschaftlichkeit muss sich Europa nun auch an den eigenen, vielgepriesenen Werten messen lassen, bekräftigte Teresa Koloma Beck, die Leiterin der Studiengruppe zu „Urbanen Gewalträumen“ am Centre Marc Bloch. Zugleich werde allerdings oft verkannt, dass es sich bei den Attentätern selbst eben um Europäer handelte, die in den europäischen Gesellschaften sozialisiert und radikalisiert wurden. Gewalt, zumal terroristische, werde in Europa stets als etwas wahrgenommen, das nur woanders, nicht aber innerhalb der europäischen Gesellschaften stattfindet. Und lässt sie sich tatsächlich nicht länger ignorieren, wie beispielsweise die Unruhen in den französischen Vorstädten 2005, dann würden Gewaltphänome und –täter als nicht- oder außereuropäisch wegdefiniert: In diesem Falle als Einwandererkinder oder Migrant/innen, die als marginalisierte Gruppe nicht als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden. So sei zu hinterfragen, warum nun verstärkt Luftangriffe auf syrische Städte geflogen werden, wenn die Täter selbst aus Europa stammen. Auch dass kriegerische Auseinandersetzungen stets als Spektakel aus der Ferne betrachtet werden könnten, sei ein Luxus, den sich Westeuropa erst seit Ende des Zweites Weltkrieges leisten könne, so Koloma Beck. Ein genauerer Blick zurück in die europäische Geschichte zeige, dass auch in Europa insbesondere in den Phasen von Staatsbildungsprozessen nicht Frieden, sondern Kriege oder zumindest gewaltgeprägte Zustände alltägliche Phänomene gewesen seien.

Frankreichs gespaltene Gesellschaft

Ein genauer Blick nach Frankreich zeige ebenfalls, wie gespalten die französische Gesellschaft mittlerweile sei. Deutschland habe zu lange die Augen davor verschlossen, wie weit einerseits politische Kräfte wie der Front National vor allem in ländlichen Räumen eine neue, die V. Republik fundamental verändernde, politische Realität als Gegensatz zu den urbanen Zentren darstellten und andererseits Marginalisierung und Abkapselung von Muslimen in manchen französischen Vorstädten bereits vorangeschritten sei, so Ulrike Guérot, Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin. Gerade vor diesem Hintergrund sei der Fokus auf den IS in Syrien verfehlt. Vielmehr müsse die Aufmerksamkeit in die französischen Vorstädte gelenkt, Geld in Integrationsprojekte statt in eine voreilige Intervention investiert werden. Die derzeitige Kriegsrhetorik und das Einfordern militärischer Unterstützung der europäischen Partner wie auch der USA und Russlands erinnere sehr an den US-amerikanischen Aktionismus nach dem 11. September 2001. Die Bundesregierung sollte sich genau überlegen, inwieweit sie diesen Aktionismus mittragen wolle. Zugleich spiele natürlich das besondere deutsch-französische Verhältnis eine entscheidende Rolle, welches gegenwärtig außerordentlich angespannt sei. Die Tatsache, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nun weitere Unterstützung zugesichert hat, müsse vor dem Hintergrund eben dieser besonderen Beziehung gesehen werden.

Das von Hollande erhoffte Bündnis werde scheitern, solange Wladimir Putin weiterhin die Assad-Regierung in Syrien unterstütze, prognostizierte Bente Scheller, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Die eigentlichen Interessen der Bündnispartner seien zu konträr, als das eine wirkungsvolle Zusammenarbeit möglich sei. Was die Menschen in der Region sich wünschten, seien weniger Luftangriffe und nicht mehr. Das Einrichten einer Flugverbotszone, die auch die Bomben des Assad-Regimes verhindern könnte, wäre ein erster, aber entscheidender Schritt, der das seit Jahren andauernde Leiden der Zivilbevölkerung begrenzen könne, für den Scheller auch seit längerem plädiert.

Ein vorschnelles und unüberlegtes militärisches Vorgehen der französischen Regierung und der westlichen Bündnispartner durch eine klare und konsistente Strategie mit allen Handlungsoptionen für einen Übergang zu einem stabileren demokratischen Nachkrieg-Syrien zu ersetzen und den Blick auf die gescheiterten Integrationsprozesse innerhalb der europäischen Gesellschaften zu lenken: Diese beiden wesentlichen Forderungen seien - so ein Resümee der abschließenden Statements - die Voraussetzung dafür, dass sich die Handlungs- und Unterlassungs-Fehler der Vergangenheit nicht wiederholten, insbesondere im Umgang mit den nun eintreffenden Flüchtlingen in Europa.