"Niemand kann sich sicher fühlen"

Donetsk, 2014
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Donetsk, 2014

In den von Separatisten kontrollierten Teilen der ukrainischen Gebiete Donetsk und Luhansk wird systematisch gefoltert. Das ist das Fazit der Berichte einer Koalition von Menschenrechtsorganisationen unter Führung der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte, über die zuletzt in den deutschen Medien vermehrt berichtet wurde. Der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine, Sergej Sumlenny, antwortet auf Fragen zur Menschenrechtssituation in der Ostukraine und der Bedeutung für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zur Beilegung des Konflikts um den Donbass.

Wie stellt sich die Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten dar?

Die von den Separatisten besetzten Gebiete sind ein Territorium des Unrechts, oder auch des Rechtes des Stärkeren. Niemand kann sich dort sicher fühlen, jeder kann gefangen, gefoltert, sogar getötet werden. Es gibt in den beiden selbsterklärten "Republiken" keine zentrale Führung. Einzelne Gebiete werden von voneinander unabhängigen und oft rivalisierenden Warlords kontrolliert. Diese verdienen ihr Geld und die Loyalität ihrer Kämpfer-Trupps unter anderem mit Erpressungen, Entführungen, Raub oder Schmuggel.

Wie lassen sich die Nachrichten aus den Gebieten unabhängig verifizieren?

Einerseits ist es schwierig, an verlässliche Informationen zu gelangen. Viele Fälle sind dennoch von Journalist/innen oder durch internationale Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig beschrieben. Aber sogar in den russischen Medien, auch in den staatlichen, die die sogenannten "Rebellen" normalerweise sehr stark unterstützen, kamen ab und zu Berichte von solchen Entführungen und von ganzen Folterkellern, die in Donetsk und Luhansk von unterschiedlichen Rebellengruppen eingerichtet wurden. Das ziemlich kremltreue Medium "Gazeta" hat einmal ein ganzes Interview mit einem Rebellen veröffentlicht, der offen erzählte, wie wild die Entführungen aussehen, und wie diese als ein wichtiges Instrument in dem internen Kampf um die Macht und Geld in den sogenannten "Republiken" verwendet werden.

Wem drohen Entführungen? Muss man sich besonders proukrainisch profilieren, damit man in die Gefahr gerät?

Gar nicht. Natürlich erhöht sich die Gefahr, entführt und gefoltert zu werden, wenn eine Person durch die "Rebellen" als politisch "illoyal" eingestuft wird. So wurde etwa in Donetsk Iryna Dovgan festgenommen und an einen Pranger gestellt, weil an einem Checkpoint auf ihrem Computer Fotos ukrainischer Soldaten gefunden haben. Die Frau wurde angekettet, musste die Flagge der Ukraine in Hand halten, und jeder durfte sie schlagen. Es gibt Videos, wie sie wild mit Fäusten und Füßen geschlagen und getreten wurde – diese wurden von Rebellen stolz aufgenommen und ins Netz gestellt. Aber es gibt auch Fälle klassischer Willkür bewaffneter Männer gegen die ansässige Bevölkerung. So wurde Ende 2015 in der Stadt Horlivka in Donetsk eine Schülerin von Kämpfern der "Rebellen"-Einheit "Troja" gekidnappt, wochenlang in einer Kaserne eingesperrt, vergewaltigt und schließlich im März 2016 getötet. Geschäftsleute werden entführt, um Geld zu erpressen. Das sind die Zustände, die auch 2016 in den besetzten Gebieten noch herrschen - der in den Medien nun besprochene Bericht bezieht sich ja auf einen früheren Zeitraum.

Und wie ist die Lage auf der ukrainisch kontrollierten Seite der Kontaktlinie?

Leider gibt es auch eine zwar geringere aber dennoch stattliche Anzahl dokumentierter Entführungsfälle, in die Mitglieder der ukrainischen Freiwilligenverbände oder sogar Soldaten der ukrainischen Armee verwickelt sind. Der entscheidende Unterschied ist, dass solche Vorfälle auf der ukrainischen Seite von den Behörden verfolgt und sanktioniert werden. So fordert die Anklage gegen einen 34-jährigen ukrainischen Soldaten in einem laufenden Prozess zwölf Jahre Haft wegen Raubüberfalls und Entführung zweier Mitarbeiter eines Lebensmittelladens. Auf der Seite der Separatisten gibt es in der Regel keine systematische Strafverfolgung.

Welche Konsequenzen hat die prekäre Menschenrechts- und Sicherheitslage für den Prozess der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zur Konfliktbeilegung?

Klar ist, dass freie Wahlen in den Separatistengebieten angesichts der herrschenden Zustände nicht durchführbar sind. Die Minsker Vereinbarungen sehen vor Lokalwahlen aber keine Kontrolle über die Grenze zu Russland vor. Damit bleiben die Territorien der Willkür bewaffneter Rebellengruppen ausgeliefert. So ist keine nachhaltige Konfliktlösung mit Sicherheit und Respekt für grundlegende Menschenrechte denkbar.