NATO-Gipfel: Nukleare Abschreckung, nukleare Abrüstung

Treffen der Verteidungsminister/innen im NATO-Hauptquartier in Brüssel 2016
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Abschreckung und Abrüstung: Ergänzend oder unvereinbar?

Der bevorstehende Gipfel der NATO in Warschau  am 8. und 9. Juli 2016 steht unter den Vorzeichen der kollektiven Abschreckung Russlands. Bereits im Vorfeld hatte sich die Allianz auf eine stärkere so genannte „Rückversicherung“ der baltischen Staaten und Polens verständigt, die sich spätestens seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim von Moskau bedroht fühlen. Die Ergebnisse sind bereits jetzt greifbar: in Europas Nordosten wird aufgerüstet.

Fast fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion bestimmen die Logiken gegenseitiger Abschreckung wieder die Agenden in Brüssel, Washington und Moskau. Auch wenn die ideologische Auseinandersetzung fehlt, auf militärischer Ebene ist man zurück im Kalten Krieg.

Als wäre dieser Umstand nicht schon schlimm genug, zeigt sich gleichzeitig ein seit Jahren verstärkendes Politikversagen auf institutionalisierter Verhandlungsebene: die Verträge bi- und multilateraler Rüstungskontrolle und Abrüstung sind entweder veraltet, porös oder hinfällig.

Keiner redet mehr über Rüstungskontrolle

Während der wohl bekannteste Theoretiker der militärischen Auseinandersetzung der Sowjetunion mit den USA, Thomas Schelling, die Rüstungskontrolle noch immer als integralen Bestandteil der Abschreckungslogik verstanden hatte  – das inhärente Ziel war die Verhinderung von Rüstungswettläufen bzw. die Erlangung einer signifikanten Erstschlagskapazität – ist heute in Washington und Moskau von Rüstungskontrolle fast nicht mehr die Rede.

Damit tritt jedoch auch das Langzeitziel nuklearer Abrüstung weit in den Hintergrund. Die Folgen dieser prekären Kettenreaktion werden die kommenden Jahre nachhaltig beeinflussen. Während Europa unter Umständen das Schreckgespenst einer Re-Nuklearisierung droht, wird sich eine Vielzahl dritter Staaten wahrscheinlich einen neuen Weg zum Zielpunkt nuklearer Abrüstung suchen.

Wechselseitige Aufrüstungsspirale

Dieses äußerst komplexe Thema beschäftigte am 4. Juni 2016 die Teilnehmer/innen des Panels zu „Nuclear Deterrence and Disarmament: Complementing or Irreconcilable?“ in Warschau. Die Diskussionsrunde mit Jacek Durkalec (PISM), Sascha Hach (ICAN), Katarzyna Kubiak (SWP) und Ulrich Kühn (IFSH) fand im Rahmen der dreitägigen vom Warschauer Büro der Böll-Stiftung organisierten Konferenz „Świat pod Lupą“  (World in Focus) statt und bot der polnischen Öffentlichkeit die extrem seltene Möglichkeit, sich über die Themen nuklearer Abschreckung und Abrüstung zu informieren.

Dabei ging es zunächst um Europa. Vor dem Hintergrund der erneuten Konfrontation zwischen Russland und der NATO droht dem Kontinent in den kommenden Jahren eine wechselseitige Aufrüstungsspirale in der Ostseeregion. Während die NATO bereits die Verlegung von vier multinationalen Bataillonen (ca. 4.000 Soldatinnen und Soldaten) in die drei baltischen Staaten und Polen verkündete und die USA eine zusätzliche rotierende Brigade für die östlichen Bündnispartner bereitstellen, reagierte Moskau mit der Ankündigung, seine Truppen im westlichen russischen Militärbezirk neu zu organisieren.  Wo die daraus resultierenden zwei neuen Divisionen (ca. 20.000 Soldatinnen und Soldaten) stationiert werden, ist noch nicht abschließend geklärt.

Polen wünscht sich stärkeres militärisches Engagement

Vor diesem Hintergrund machte gerade Jacek Durkalec noch einmal die polnische Position deutlich: Warschau wünscht sich von der Allianz ein stärkeres militärisches Engagement.  Und dieses könnte sich auch auf die Komponente der nuklearen Abschreckung erstrecken. So fordert Polen bereits seit längerem, die nukleare Teilhabe unter anderem durch häufigeres Training zu stärken.  Hierbei wird wohl auch Deutschland eine entscheidende Rolle zukommen – werden doch die in der Bundesrepublik stationierten Nuklearwaffen (ca. 20 B-61 Fallbomben) während der kommenden Jahre modernisiert und durch die neue B-61-12 ersetzt werden.

Gleichzeitig droht Europa aber auch noch eine weitere potentielle Nuklearkrise, sollten sich die USA und Russland nicht über den umstrittenen Vertrag zur Eliminierung nuklearer Mittelstreckensysteme mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern (INF-Vertrag) verständigen. Seit 2014 beschuldigt die Obama-Regierung Moskau offiziell, den Vertrag zu unterlaufen.  Der Kreml hat mit einer Reihe Gegenvorwürfen an die amerikanische Adresse reagiert.  Diplomatische Gespräche zur Lösung der Krise haben bisher kein positives Ergebnis erzielt.

Abrüstungsvertrag läuft in fünf Jahren aus

Nun werden auch die ersten europäische NATO-Staaten vernehmlich unruhig – würden doch potentielle russische Mittelstreckenraketen sämtliche europäische Staaten bedrohen.  Gleichzeitig warnen amerikanische Sicherheitsexperten vor den politischen Langzeitfolgen der Krise. Sollte Russland nicht nachweisbar zum INF-Vertragsregime zurückkehren, würden sämtliche Versuche, mögliche Rüstungskontrollabkommen mit Russland zu schließen in den kommenden Jahren im Senat auf Grund laufen.  Und das könnte sich sogar bis zur Ebene strategischer Nuklearwaffenkontrolle erstrecken. Im Jahr 2021 läuft der New-START-Vertrag zur Begrenzung von Trägersystemen über 5.500 Kilometern und deren Sprengköpfe aus. Ohne eine einvernehmliche Lösung der INF-Krise wäre ein New-START-Folgevertrag wohl reines Wunschdenken, so die einhellige Meinung in Washington.

Für die Befürworter/innen nuklearer Abrüstung ist diese Entwicklung nur eine Bestätigung ihrer Befürchtungen. Sascha Hach machte deshalb klar, dass es gerade das Unvermögen der Nuklearwaffenbesitzer, vor allem der USA und Russlands, sei, welche die internationale Staatengemeinschaft zwinge, nun alternative Wege weiterer Abrüstung zu beschreiten. Damit meint Hach vor allem die so genannte humanitäre Initiative.

Vage Versprechungen

Spätestens seit dem Scheitern der letzten Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) in 2015 drängt eine lose Koalition von über 130 Staaten darauf, endlich die Versprechen des NVV einzuhalten.  Diese Versprechen sind recht vage formuliert. Im Gegenzug für die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, verpflichten sich die offiziellen Atommächte (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA) Verhandlungen mit dem Ziel nuklearer Abrüstung sowie genereller und kompletter Abrüstung zu führen.  Bis heute ist dieses Versprechen nicht eingelöst. Noch immer gibt es weltweit über 16.000 Nuklearsprengköpfe. Die USA und Russland stellen zusammen noch immer über 90 Prozent dieses Arsenals.

Die Unterstützer der humanitären Initiative versuchen nun, über den Umweg eines möglichen generellen Verbotsvertrags für Nuklearwaffen die nukleare Abrüstung zu erzwingen.  Kritiker der Initiative merken an, dass ohne die Beteiligung der Nuklearwaffenbesitzer ein solcher Vertrag lediglich symbolische Bedeutung hätte.

Europa im Zentrum der sicherheitspolitischen Debatte

In der Panel-Diskussion in Warschau zeigten sich gerade in dieser Frage die teils konträren Argumente der Unterstützer nuklearer Abschreckung und der Abrüstung. Während ‚Abrüster‘, wie Hach, die erneute Aufwertung von Nuklearwaffen als offensichtliches Argument für das Versagen der Staatengemeinschaft kritisieren und deshalb auf ein generelles Verbot drängen, führen Experten, wie Durkalec, die bestehenden Sicherheitsbedenken von Staaten, wie Polen, ins Feld und argumentieren, dass die humanitäre Abrüstungsinitiative die Realitäten ignoriere.

Als Ergebnis der Debatte stand somit die Feststellung, dass die teils konträr gelagerten Politiken der Abschreckung und der Abrüstung momentan deutlich stärker auseinanderdriften, als noch während der vergangenen zwei Dekaden. Gerade Europa wird wohl, so es denn zu keiner generellen Verständigung zwischen dem Westen und Russland kommt, im Zentrum der sicherheitspolitischen Debatten der kommenden Jahre stehen. Auf Deutschland – einen klassischen Unterstützer nuklearer Abrüstung und gleichzeitig Mitglied der nuklearen Teilhabe der NATO – werden somit äußerst schwierige Entscheidungen zukommen.