Die deutsch-französische Politik in Nordafrika muss sich neu erfinden

Hundreds of refugees from Libya line up for food at a transit camp near the Tunisia-Libya border.
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Geflüchtete aus Libyen warten auf das Essen in einem Camp an der Grenze zu Tunesien

Demokratisierung, Kampf gegen Terrorismus, Flüchtlingskrise: Die europäische Außen- und Entwicklungspolitik steht nach den Umbrüchen von 2011 vor neuen Aufgaben im Maghreb. Doch ein einheitlicher Ansatz fehlt.

An der Südküste des Mittelmeeres ist die Lage gefährlich fragil. Spätestens seit der Flüchtlingskrise offenbaren sich Schwachstellen in der europäischen Politik gegenüber der direkten Nachbarschaft: in der Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort, in der Abstimmung zwischen EU Mitgliedstaaten, in der Koordination zwischen Politikfeldern und von einzelnen Projekten. Zu inkohärent, kurzfristig und bisweilen widersprüchlich sind die Ansätze, zu wenig werden regionale Dynamiken berücksichtigt. Das gilt gerade auch für die deutsch-französische Sicherheits- und Entwicklungspolitik.

Viel zu oft fördert Politik auf diese Weise, was sie eigentlich verhindern will, wenn etwa aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus über eine militärische Intervention in Libyen nachgedacht wird, ohne die entwicklungspolitischen Konsequenzen für den kleinen Nachbarn Tunesien abzusehen. Oder für die Flüchtlingswanderung, deren Ursachen unter anderem in Krieg und Vertreibung liegen. Was fehlt, ist eine langfristige umfassende Strategie, die nachhaltige Entwicklung und Sicherheit als zwei Seiten einer Medaille versteht und vor dem Hintergrund regionaler und lokaler Zusammenhänge agiert.

Entscheidungsträger/innen und Expert/innen aus Deutschland, Frankreich, Nordafrika und der Sahelregion an einen Tisch zu bringen, war daher die Idee hinter der Fachkonferenz “Sicherheit versus Entwicklung? - Perspektiven für die deutsch-französische Außen- und Entwicklungspolitik in Nordafrika” von der Heinrich Böll Stiftung, dem Deutschem Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und der Stiftung Genshagen, die Ende Juni stattfand. Hier sollten konkrete und durchführbare Empfehlungen für eine kohärentere, effektivere und zielführendere europäische Außenpolitik erarbeitet werden, die Sicherheits- und Entwicklungsansatz zusammenbringt.

Postrevolutionäre Gemengelage am westlichen Mittelmeer

In einem Punkt waren sich alle Teilnehmenden einig: Eine gründliche Diagnose des Status Quo ist der erste Schritt zur besseren Zusammenarbeit. Als Hauptproblem wurde dabei identifiziert, dass in den Maghrebstaaten eine Vielzahl von Projekten unkoordiniert nebeneinanderher bestehen und Akteure parallel oder sogar konträr agieren, wodurch sehr viel Geld, Zeit und Energie verloren gehen.
Es wurde deutlich, dass Deutschland und Frankreich traditionell sehr unterschiedliche Ansätze und Interessen in Nordafrika verfolgen, obwohl sie auf dem Weg zu einer einheitlichen europäischen Außenpolitik viel abgestimmter zusammenarbeiten müssten.

Bei der deutschen Politik steht eher Entwicklung, bei der französischen Sicherheit im Vordergrund. Eine Annäherung zwischen Standpunkten und Herangehensweisen scheint schwierig. Bereits auf der Ebene der jeweils nationalen Agenda lassen sich Entwicklungs- und Sicherheitspolitik oftmals schwer zusammenbringen, in Frankreich noch verstärkt durch die große Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft auf der einen Seite und politischen Entscheidungsträger/innen auf der anderen Seite. Das führt dazu, dass Politik ohne ausreichende Regionalexpertise im hochkomplexen Geflecht vor Ort nur schwer ihre gesetzten Ziele verwirklichen kann. Sie ist zu oft auf kurzfristige Resultate angelegt und geht zu häufig Symptome statt Ursachen an. Grenzsicherung statt Fluchtursachenbekämpfung ist hier nur eines von vielen Beispielen.

Stattdessen müsste in der Politik ein radikales Umdenken stattfinden, so wird vor allem von wissenschaftlicher Seite argumentiert. Nur dann kann den unterschiedlichen Entwicklungen und sich schnell wandelnden politischen Realitäten Rechnung getragen werden. In Marokko und Tunesien etwa brauchen gerade junge Menschen eine Perspektive. In Libyen hingegen ist an Entwicklungspolitik aufgrund der Sicherheitslage kaum zu denken, hier müssen zunächst fundamentale Bedingungen für einen funktionierenden Staat etabliert werden. Die Politik ist folglich gefordert, ganz neue länderspezifische Methoden und Instrumente zu entwickeln und dabei Verflechtungen im Blick zu behalten. Keine leichte Aufgabe also.

Dennoch hat sich in der deutschen Politik laut Auswärtigem Amt und BMZ in den vergangenen Jahren schon einiges bewegt, es wird mehr koordiniert, diskutiert und ausgetauscht. Langfristigere Ziele werden angestrebt, wie unter anderem das Transformationspartnerschaftsprogramm zeigt. Doch nachhaltiger Erfolg braucht Zeit, wird auch von EU-Seite zu bedenken gegeben. Die EU-Mitgliedstaaten müssen intensiver zusammenarbeiten und sich auf einen Rahmen einigen, in welchem Ziele definiert und die richtigen Schritte festgelegt werden.

Der Blick auf Nordafrika – und zurück

Schwierigkeiten macht nicht nur die Konzeption, sondern auch die Umsetzung von deutschen und französischen Entwicklungsprogrammen. Hier sehen Vertreter/innen der deutschen beziehungsweise europäischen Seite die regionalen Partner/innen in der Verantwortung, konkrete Ziele zu definieren und Hilfen zu koordinieren. Nicht alle Fragen könnten von außen beantwortet werden, weil der politische Einfluss Europas in nordafrikanischen Staaten Grenzen hat.

So kann europäische Politik durch technische Unterstützung bei guter Regierungsführung, einem besseren Bildungssystem oder der Schaffung von Arbeitsplätzen ansetzen. Keinen Einfluss hingegen hat sie auf die Verteilung von Macht oder auf die Beseitigung von sozialer Ungleichheit. Was Entwicklungspolitik aber tun kann, ist Anreize für die Zivilgesellschaft schaffen, damit neue Akteure unterstützt und Vielfalt in die Systeme gebracht werden können. Wenn europäische Staaten in Nordafrika ihre Interessen durchsetzen wollen, können sie die Koordination jedoch nicht völlig den Partnern vor Ort überlassen, wird von wissenschaftlicher Seite zu bedenken gegeben.

Anders sehen die Hauptdefizite aus nordafrikanischer Perspektive aus. Es wird kritisiert, dass bilaterale Beziehungen nicht auf Augenhöhe geführt und so die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu wenig wahrgenommen werden. Hierzu müsse im Westen zuerst einmal eine Kultur des Zuhörens entwickelt und mit Empfängern von Hilfsmitteln über Prioritäten diskutiert werden – und zwar über die lokalen, nicht die europäischen. Hierbei spielen die politischen Stiftungen eine entscheidende Rolle, weil sie mit ihren Partner/innen aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum die Perspektive der Zivilgesellschaft im Sinne eines Bottom-up- statt eines Top-down-Ansatzes gut vermitteln können.

Wichtig wäre ein Forum, das zivilgesellschaftliche und politische Akteure der Region mit EU-Institutionen, Wissenschaft, Stiftungen und NGOs zusammen bringt. Vorbildcharakter hat beispielsweise das EU Joint Programming für Mali, um Entwicklungsarbeit besser zu koordinieren, kohärenter und effektiver zu machen und in Zukunft vielleicht sogar Synergien zu erzeugen. Ein gemeinsames Vorgehen muss vom Ziel ausgehen, um eine Strategie mitsamt den geeigneten politischen Instrumenten entwerfen und schließlich konkrete Maßnahmen umsetzen zu können. Doch hier stellt sich mit Blick auf Deutschland und Frankreich die Frage: Sind die Interessen überhaupt dieselben? Einzig für Tunesien ließe sich diese Frage grundsätzlich mit Ja beantworten, denn dass die demokratische Transition glückt, dass sich das Land stabilisiert, sein Jihadismus-Problem in den Griff bekommt und die Wirtschaft in die richtige Bahn lenkt, dürfte im Interesse aller europäischen Mitgliedstaaten liegen.

Gleichzeitig wird von politischer Seite vor zu großen Erwartungen gewarnt, ein pragmatischer und realistischer Umgang der Politik mit unterschiedlichen Interessenlagen muss im Vordergrund stehen. Immerhin kann aber auch über Austausch schon Vieles erreicht werden, zwischen Frankreich und Deutschland und zwischen europäischen und nicht-europäischen Akteuren. Denn von den verschiedenen Hintergründen und Analysen der Region können politische Weichenstellungen nur profitieren.

Bleibt zu hoffen, dass die Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich in Fragen der europäischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik eines Tages so „normal“ und alltäglich sein wird, wie sie es auf zivilgesellschaftlicher Ebene seit vielen Jahren ist.