Plädoyer für eine Reform der EU-Institutionen

Abstimmung im Europa-Parlament
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Die europäischen Institutionen müssen handlungsfähiger gemacht werden.

Nach dem Brexit-Referendum werden die Forderungen nach einer Reform der EU lauter. Der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Dieter Grimm hat Vorschläge erarbeitet, um die Europäischen Institutionen demokratischer und handlungsfähiger zu machen.

Die EU-Institutionen leiden an einer Legitimations- und Akzeptanzschwäche. Derzeit haben Reformvorschläge Konjunktur. Sie reichen vom Ausbau der EU zu einer Republik mit voller Staatlichkeit. Das andere Extrem ist die Rückführung auf den Binnenmarkt. Sinnvoller erscheint es, die einmal erreichte politische Union weiter zu entwickeln und die Defizite gezielt anzugehen.

Die EU bezieht ihre wesentliche Legitimation aus den Nationalstaaten, und damit über den Rat. Zusätzliche Legitimation erhält sie durch das Europäische Parlament, seit dieses in freier und geheimer Wahl von den Unionsbürgerinnen und -bürgern gewählt wird.

Im Zentrum der Kritik stehen die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH). Die Kommission ist nicht gewählt, nach der in den Verträgen festgelegten Bestimmung soll sie „Hüterin der Verträge“ sein. Im Zusammenspiel mit dem EuGH betreibt sie jedoch eine weitere Vertiefung der Union, ohne dass dies durch eine demokratische Debatte begleitet würde.

Der EUGH wiederum macht sich zunutze, dass die EU keine Verfassung besitzt. Tatsächlich ist in der Vergangenheit eine Konstitutionalisierung der Verträge vollzogen worden. Die europäischen Verträge, vor allem der Maastricht-Vertrag und der Lissabon-Vertrag werden so ausgelegt, als ob es sich um eine Verfassung handele. Dies bietet dem EuGH die Möglichkeit, seine Agenda der Vertiefung zu betreiben.

Die Rechtspraxis des EuGH führt zudem latent zu einem Regelungsvakuum: während es vergleichsweise einfach ist, nationales Recht außer Kraft zu setzen, steht die Rechtssetzung auf europäischer Ebene vor erheblichen Hürden. Eine weitere Problematik verschärft die Schieflage der europäischen Rechtssetzung: So enthält die europäische Grundrechtecharta mehr Grundrechte als viele nationale Verfassungen. In seiner Rechtsprechung gibt der EuGH aber den wirtschaftlichen Grundrechten Vorrang vor den personellen und sozialen Grundrechten. Diese Rechtspraxis ist deshalb für all jene eine Zumutung, die eine ökologische und soziale Ausgestaltung der Union anstreben.

Im Gegensatz zu den meisten nationalen Verfassungen, sind die Verträge sehr umfangreich und detailliert. Hinzu kommt, dass der EuGH 1963 und 1964 in bahnbrechenden Urteilen verfügt hat, dass EU-Recht unmittelbar anwendbar ist und im Falle der Kollision mit nationalem Recht dieses außer Kraft setzt. Damit greift die EU weit in die Regelungskompetenz der Nationalstaaten ein.

Insgesamt ist also zu konstatieren, dass der „unfertige“ Zustand der Union zu Problemen der Gewaltenteilung führt und das vor dem Hintergrund mangelnder demokratischer Deliberation. Zudem handelt die Kommission ähnlich einer Regierung. Sie ist jedoch nur eingesetzt und kaum durch das Parlament abwählbar.

Um diese Missstände abzuschaffen, die Europäischen Institutionen handlungsfähiger zu machen und zugleich die europäische Politik zu politisieren, ohne die Souveränität der Mitgliedsstaaten weiter auszuhöhlen, hat kürzlich der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Dieter Grimm folgende Vorschläge entwickelt:

  1. Das Europäische Parlament sollte nicht mehr nach nationalem Recht gewählt werden. Vielmehr sollten die europäischen Parteien mit jeweils einem Europa-weitem Programm auf der Grundlage eines europäischen Wahlrechts gewählt werden. So sollten die Parteien in die Lage versetzt werden, realistische, das heißt umsetzbare Programmvorschläge in die Abstimmung einzubringen. Eine solche Reform bedarf nicht einmal einer Änderung der Verträge.
  2. Die Europäische Union benötigt dringend eine Verbesserung ihrer Handlungsfähigkeit. Zugleich ist das Subsidiaritätsprinzip zu achten, um die nationale Souveränität nicht weiter auszuhöhlen. Das bedeutet, dass es einer Kompetenzverteilung entlang der Sachthemen bedarf. Wie in einer föderalen Ordnung müssen die Kompetenzen an dem Ort angesiedelt werden, an dem die am sachdienlichstem bearbeitet werden können.
  3. Schließlich muss der ausufernden Konstitutionalisierung der Verträge Einhalt geboten werden. Das bedeutet, dass die EU eine schlanke Verfassung benötigt. Verfassungen sind nicht Gegenstand der täglichen politischen Auseinandersetzung, sie sind die Grundlage auf der die politische Debatte geführt wird. Praktisch bedeutet dies, dass ein großer Teil der Verträge, insbesondere der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in sekundäres Unionsrecht umgewandelt werden sollte.

Der erste Vorschlag bezieht sich auf die verstärkte demokratische Legitimierung des Europäischen Parlaments (siehe auch Studie: Die Zukunft der Europäischen Demokratie). Die beiden letzten Vorschläge dürften nur schwer umzusetzen sein. Der zweite Vorschlag begrenzt die Kompetenzübertragung, bietet dem Zusammenwirken von Mitgliedsstaaten und Union jedoch eine pragmatische Struktur. Der letzte Vorschlag bedarf ebenfalls keiner Vertragsveränderung, schreibt aber die politische Union, die ja zunehmend in Frage gestellt wird, fort. Wenn die Europäische Union jedoch nicht einer fortschreitenden Erosion ausgesetzt sein will, die zusätzlich die Legitimations- und Akzeptanzproblematik verschärft, werden die Europäer sich dieser Debatte stellen müssen.

 

Quelle:
Dieter Grimm, Europa ja-aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, C.H. Beck München 2016