Warum das NPD-Urteil demokratisch und zeitgemäß ist

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat entschieden. Beim Umgang mit der NPD kann der Gesetzgeber jetzt von anderen Ländern lernen

Ein Parteiverbot ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung, die Ära des Ideologieverbotes ist vorbei. Das hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Urteil zur NPD klar gestellt. Eine juristische Einordnung.

Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die NPD eine verfassungswidrige Partei ist, sie aber nicht verboten. Die Entscheidung ist richtig und wichtig. Vor allem ist es sehr zu begrüßen, dass der Zweite Senat in seinem NPD-Urteil nicht der Forderung der Antragsteller gefolgt ist: Der Bundesrat hatte gefordert, die Idee des Ersten Senats aus dem „Wuhnsiedelbschluss“ auf das Parteiverbot zu übertragen und in den Parteiverbotsartikel ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal hineinzulesen, wonach jede Gesinnung mit Bezug zum Nationalsozialismus per se verboten ist, gleich ob und welchen Wirkungscharakter sie auf den demokratischen Prozess hat. Der Zweite Senat hat diese Ausweitung des Parteiverbotsartikels zutreffend mit dem Ausnahmecharakter der Norm abgelehnt. Für ungeschriebene Tatbestandsmerkmale bleibt bei Ausnahmenormen kein Raum, sie sind restriktiv anzuwenden.

Diese Feststellung des Gerichts unterstreicht, dass es sich bei dem in Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz (GG) verankerten Parteiverbot um ein Rechtsinstrument handelt, das bestimmte rechtliche Voraussetzungen hat. Diese müssen erfüllt sein, um es anwenden zu können. Das gilt auch dann, wenn man meint, inhaltlich auf der Seite „der Guten“ zu stehen und „moralisch“ recht zu haben. Denn dies sind politische Argumente. Das Parteiverbot ist aber kein Mittel der politischen Auseinandersetzung mit dem man sich aus politischem Aktionismus heraus sozialer und politischer Probleme entledigen kann, sondern ein rechtlicher Ausnahmetatbestand. Mit ihm wird der verbandsmäßigen Wirkungsmöglichkeit von Parteien Rechnung getragen. Demgegenüber sind verfassungswidrige Einzelaktionen mit Mitteln des Polizei- und Strafrechts zu ahnden, dafür muss keine Partei verboten werden.

Das Parteiverbot stellt einen so schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der politischen Willensbildung und die Parteienfreiheit dar, dass es als „demokratieverkürzende“ Ausnahme nur zurückhaltend angewendet werden darf, so das Gericht. Diesen Ausnahmetatbestand erfüllt die NPD nicht, jedenfalls nicht vollständig.

Die Neuerungen im Vergleich zum KPD-Urteil

An dieser Stelle folgt auch schon die erste Neuerung im Vergleich zum KPD-Urteil von 1956. In jenem hatte das Gericht noch die Formel des Erfordernisses einer „aggressiv-kämpferischen Haltung“ der Partei geprägt. Nunmehr arbeitet es mit dem Wortlaut des Artikels 21 Absatz 2 GG, dem „darauf Ausgehens, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. Danach ist ein Ausgehen auf eine Beeinträchtigung der NPD nur anzunehmen, wenn sie nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewirkte. Da das Parteiverbot kein Gesinnungs- und Weltanschauungsverbot sei, sei ein Überschreiten der Schwelle zur Bekämpfung der freiheitlich demokratischen Grundordnung notwendig. Strafrechtlich relevantes Verhalten sei dagegen nicht erforderlich. Eine Partei könne zudem auch dann verfassungswidrig sein, wenn sie ihre verfassungswidrigen Ziele unter Ausschluss jeglicher Gewaltanwendung verfolge.

Auch müsse der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht abgewartet werden. Das bedeutet, dass keine Situation abgewartet werden muss, ab der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einer Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden muss. Dazu heißt es im Urteil, dass ein Parteiverbot ansonsten zu spät kommen könne und die betroffene Partei bereits eine so starke Stellung erlangt habe, dass das Verbot nicht mehr durchgesetzt werden könne.

Insbesondere aus diesen Passagen wird deutlich, dass das Gericht in weiten Teilen seine Parteiverbotsrechtsprechung aufrechterhält. Sein Fokus liegt immer noch auf dem schützend-präventiven Charakter des Parteiverbotsartikels. Zu erkennen gibt sich das nicht nur in der verwendeten Sprache, so zitiert der Senat hier die alte Maxime „Wehret den Anfängen“ und verwendet wiederholt den Begriff des „Verfassungsfeindes“. Auch inhaltlich rekurriert er auf weite Passagen der Urteile zum Verbot der SRP und KPD.

Wirklich neu ist, dass das Gericht nunmehr konkrete Anhaltspunkte von Gewicht fordert, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Parteiverbotsartikels 21 Absatz 2 GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann. Es bezeichnet dies als „Potentialität“. Mit anderen Worten: Liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Partei über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfügt, ihre verfassungsfeindlichen Ziele mit Aussicht auf Erfolg umzusetzen, dann fehlt es an einem „Darauf Ausgehen“.

Der EGMR hätte ein Verbot wahrscheinlich verurteilt

Auch das Erfordernis der konkreten Anhaltspunkte ist etwas, das den Charakter des Parteiverbots als Instrument des präventiven Verfassungsschutzes bestärkt. Dieser Maßstab wird auch auf sonstige verfassungsschützende Maßnahmen, wie z.B. auf die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, angewendet.

Zu dem Ergebnis, dass eine gewisse Erfolgsabsicht zur Erreichung der verfolgten verfassungswidrigen Ziele bestehen muss, konnte der Senat auch nur kommen, wenn er die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) beachten wollte. Die NPD hatte bereits angekündigt, dass sie im Falle eines Verbotsurteils dieses durch das Straßburger Gericht überprüfen lassen wollte.

Das Bundesverfassungsgericht wendet die Rechtsprechung des EGMR als Interpretationshilfen bei der Auslegung der Grundrechte und Rechtsprinzipien des Grundgesetzes an, um das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich zu interpretieren. Denn Deutschland ist Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention und völkerrechtlich an diese gebunden ist.

Das Gericht will auf diesem Wege Verurteilungen Deutschlands in Straßburg nach Möglichkeit bereits im Voraus vermeiden. In Straßburg wäre Deutschland beim Verbot einer so kleinen und politisch unbedeutenden Partei wie der NPD höchstwahrscheinlich verurteilt worden. Das ergibt sich aus der seit 1998 gefestigten Rechtsprechung des europäischen Gerichts zu Parteiverboten. Denn das fordert zumindest eine irgendwie geartete Aussicht auf Umsetzung des politischen Programms der Partei und damit ein Risiko für die demokratische Grundordnung. Dies war bei der NPD, die weder im Bundestag noch in einem Landesparlament sitzt und auch außerparlamentarisch maximal eine Größe von 6.500 Mitgliedern hat und bankrott ist, nicht nachzuweisen.

In dem NPD-Urteil heißt es, der neue deutsche Verbotsmaßstab, dass Erfordernis konkreter Anhaltspunkte für die Realisierungschance des politischen Programms der Partei, stimme überein mit dem europäischen Maßstab der unmittelbaren Gefahr für die demokratische Grundordnung des Staates. Der EGMR fordere keine konkrete Gefahr. Ob das so stimmt, würde wohl der Fall des Verbots einer politisch signifikanteren Partei beantworten können. Bei der NPD jedenfalls kommt auch der Zweite Senat zu dem Ergebnis, dass sie zu unbedeutend ist, so dass sich der Sachverhalt hier nicht für einen juristischen Interpretationsstreit eignet.

Beim Umgang mit der NPD kann der Gesetzgeber von anderen Ländern lernen

Als letztes Novum des Urteils sei die Anregung des Senats genannt, für Fälle in denen lediglich ein Tatbestandsmerkmal des Parteiverbotsartikels erfüllt ist, hier das der Verfassungswidrigkeit der NPD, die Verfassung zu ändern und abgestufte Rechtsfolgen einzuführen. Das bedeutet, dass in den Fällen, in denen der Ausspruch eines Parteiverbots nicht möglich erscheint gegen die Partei mildere Sanktionsmöglichkeiten erlassen werden könnten.

Derartige abgestufte Rechtsfolgenmodelle existieren im Ausland bereits. So kann z.B. das türkische Verfassungsgericht seit einer Änderung des Artikels 69 Absatz 6 der türkischen Verfassung in 2001 den teilweisen oder vollständigen Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung anordnen, statt ein endgültiges Verbot und die Auflösung der Parteiorganisation anzuordnen. Das Verfassungsgericht kann diese Maßnahme jedoch erst anordnen, wenn es zuvor die Verfassungswidrigkeit der Partei festgestellt hat. Hierfür gilt kein gesonderter, neuer, Prüfungsmaßstab sondern derselbe wie bisher beim Parteiverbotsverfahren. In anderen Staaten, wie z.B. in Spanien, Bulgarien oder Moldawien, können die Gerichte nach Feststellung der Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit der Partei zeitlich befristete Verbote der politischen Betätigung aussprechen, sogenannte Suspendierungen der Parteienfreiheit.

Die vorstehenden Regelungen könnten eine Lösung zu dem in Deutschland viel diskutierten Problem des Eingriffs in die Chancengleichheit der Parteien darstellen. Die Maßnahmen würden weder durch das Innenministerium noch durch den Parlamentspräsidenten angeordnet werden, sondern vom Verfassungsgericht selber, so dass das Parteienprivileg gewahrt wäre. Da sie nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit erfolgten, läge auch kein Verstoß gegen das Problem der Chancengleichheit vor. Die betroffene Partei steht mit ihren Zielen eindeutig außerhalb des Grundgesetzes und die Versagung der Finanzierung wäre zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung geboten.

Zu diesen Regelungen und denen anderer Staaten sind die Urteile des EGMR zu Parteiverboten aufschlussreich, denn sie beleuchten die Konformität der Bestimmungen mit dem Demokratiegebot. Dies gilt insbesondere auch für die Arbeiten der Venedig-Kommission des Europarates zu Parteiverbotsstandards und anderen restriktiven Regelungen zu politischen Parteien, die diese das erste Mal 1999 formuliert und kürzlich aktualisiert hat. In diese sind sämtliche Ergebnisse der Analysen und Gutachten der Kommission eingeflossen, die sie in den letzten zwei Jahrzehnten zu den parteienrechtlichen Bestimmungen der vorstehend genannten Staaten aber auch weiterer Mitgliedsstaaten des Europarates erstellt hat. Anschaulich sind sie vor allem mit Blick darauf, was man bei der Formulierung neuer deutscher Regelungen aus den Anwendungsproblemen der anderen lernen kann.

Şeyda Emek ist Fellow des Bruno Kreisky Forums für Internationalen Dialog in Wien und derzeit Gastwissenschaftlerin an der juristischen Fakultät der Columbia Universität in New York. Sie ist Autorin des Buches “Parteiverbote und Europäische Menschenrechtskonvention" (Utz Verlag, 2006).