Heinrich Bölls "Ende einer Dienstfahrt": Im Windschatten der Geschichte

Grüner Jeep auf Schotter
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In "Ende einer Dienstfahrt" lassen die Protagonisten einen Jeep der Bundeswehr auf freiem Feld in Flammen aufgehen

"Ende einer Dienstfahrt" ist eine Humoreske mit tieferer Bedeutung. Damit ist die Dimension des Textes aber nicht erschöpft. Für den Schriftsteller Jochen Schimmang ist es Heinrich Bölls vielleicht utopischster Text.

Jüngere Böll-Leser heute – vereinzelt gibt es sie, wie ich zuverlässig weiß – haben vermutlich erhebliche Schwierigkeiten, sich die weltanschaulichen Kämpfe und Animositäten vorzustellen, in die dieser Autor von Beginn an verstrickt war und sich gern selbst verstrickte. Wer etwa die Bedeutung nicht kennt, die die Religionszugehörigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren für die berufliche Karriere spielte, kann einen Roman wie "Ansichten eines Clowns" kaum nachvollziehen. Schon allein das Wort „Weltanschauung“ klingt ja inzwischen stark angestaubt, wenn leider auch das, was gemeint ist, heute durch die wachsende Bedeutung der Religionen wieder zurückkehrt. 

Bölls Erzählung "Ende einer Dienstfahrt", die heute jeder Verlag unbedingt als Roman verkaufen würde, weil sie über zweihundert Seiten hat, ist 1966 erschienen und wurde allgemein freundlich begrüßt. Diese Freundlichkeit war von einem hörbaren Aufatmen begleitet, weil Böll sich mit dem Staat und der Gesellschaft, die er bis dahin nachhaltig attackiert hatte, wenigstens partiell versöhnt zu haben schien.

Die Geschichte ist gleichsam im Windschatten der Geschichte angesiedelt, in der rheinischen Provinz, die man sich von den fiktiven Ortsnamen und von verschiedenen kleinen Verweisen her am ehesten in der Voreifel oder im zwischen Köln und Bonn gelegenen Vorgebirge denken kann. In einem kurzen Nachwort zu seiner Erzählung hat Böll ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sein Ort aus mehreren Orten im Kölner Umland synthetisiert ist. Die erzählte Zeit umfasst einen einzigen Tag in der kleinen Kreisstadt Birglar, wo vor dem Amtsgericht der Fall des Möbeltischlers Johann Gruhl und seines Sohnes Georg verhandelt wird.

Der „Fall“ besteht darin, dass Vater und Sohn unweit der Stadt auf freiem Feld gemeinsam einen vorher sorgfältig präparierten Jeep der Bundeswehr abgebrannt haben – ein Vorgang, der von merkwürdigen rituellen Handlungen und Gesängen begleitet war und schnell Publikum anzog. Der Sohn, kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit bei der Bundeswehr, hatte den Auftrag, den Jeep ziellos durch die Gegend zu fahren, um ihn für die fällige Inspektion auf einen bestimmten Kilometerstand zu bringen. Stattdessen fuhr er nach Hause zu seinem hoffnungslos steuerverschuldeten und de facto bankrotten Vater, um ihm bei der Arbeit zu helfen.

Humoreske mit tieferer Bedeutung

Es versteht sich, dass die meisten an der Gerichtsverhandlung beteiligten Akteure sowie alle im Publikum Anwesenden sich untereinander kennen, ja, auf verschachtelte Art und Weise miteinander verwandt sind. Ausgenommen davon sind nur der gerade erst aus Bayern hierher versetzte Staatsanwalt und ein aus „der nahen Großstadt“ inkognito abgesandter Prozessbeobachter. Der Richter, für seine Milde bekannt, steht kurz vor der Pensionierung, dies ist sein letzter Fall. Die Angeklagten kommen am Ende entsprechend glimpflich davon.

Den Großteil der Erzählung dominiert ein Protokollstil. Da vor allem die Zeugen- und Gutachteraussagen wiedergegeben werden, herrscht die indirekte Rede vor, was dem Text hier und da eine gewisse Betulichkeit verleiht, insgesamt aber ein hervorragendes Mittel der Ironisierung und der Verschmitztheit darstellt. Vor allem hierin, denke ich mir, lag der Grund des Aufatmens damals: Böll war nicht mehr so bitter und böse, schien es, sondern hatte im Gegenteil eine Humoreske geschrieben, einen rheinischen Schwank mit tieferer Bedeutung.

Zu dieser Lesart verleiteten einige der Höhepunkte der Erzählung. Zu ihnen gehört die Aussage des Gefreiten Kuttke, der seinem Kameraden Gruhl diese Kilometerfahrt zugeschanzt hat und vor Gericht eine hinreißende Darstellung des groß angelegten Leerlaufs innerhalb der westdeutschen Armee zur damaligen Zeit gibt: hinreißend komisch und absolut authentisch, wie ich aus eigener Anschauung attestieren kann. Zu diesen Höhepunkten gehört weiter die Aussage des Künstlers und Akademieprofessors Büren, den die Verteidigung aufgerufen hat, damit er dem Verbrennungsakt den Charakter eines Kunstwerks, eines Happenings nämlich, bescheinigt.

Das Happening, heute eher unter dem Namen Performance geläufig, war ja zur damaligen Zeit eine blühende Form der Aktionskunst, wenn man an Namen wie Wolf Vostell, Nam June Paik, Bazon Brock denkt – und natürlich an Joseph Beuys, einen Seelenverwandten von Böll. Professor Büren betont zwar, dass er selbst kein Vertreter dieser Kunst sei, der Aktion von Vater und Sohn Gruhl aber den Charakter eines solchen Kunstwerks bescheinigen könne. Er, Professor Büren, so antwortet er auf die Frage des reichlich verwirrten Staatsanwalts, sei ein ordentlich bestellter und bestallter Professor an der Akademie („in der nahen Großstadt“, womit in diesem Text immer Köln gemeint ist), und es sei ihm peinlich, das zu sagen – jetzt an den Vorsitzenden Richter gewandt –, aber er müsse nun um Entlassung aus dem Zeugenstand bitten, denn er habe eine Verabredung mit dem Ministerpräsidenten.

Triumph des Lassens

Um es kurz zu machen: Ganz am Ende sind alle zufrieden, ja befriedet, sogar der anfangs eifernde Staatsanwalt. „Befriedet“ ist auch das Stichwort, das Anlass zu einer genaueren Überprüfung der gängigen Lesart dieser Erzählung geben sollte. Zweifellos hat Böll hier eine Humoreske geschrieben, deren realistischer Gehalt vor allem in der Darstellung des berühmten Klüngels liegt. Damit ist die Dimension des Textes aber nicht erschöpft.

Ende einer Dienstfahrt gehört nämlich zur reichlich vertrackten literarischen Gattung der Idyllen. Idyllen können ganz und gar rückwärtsgewandt und die Beschwörung eines verlorenen Arkadiens sein. Zu dieser Art gehört Bölls Erzählung nicht. Sie beschwört nicht das Gewesene, sondern eine Utopie, ist vielleicht sein utopischster Text überhaupt.

Was sind die wesentlichen Elemente dieser Utopie?

Erstens werden Widersprüche und Antagonismen durchaus ausgetragen, aber auf eine absolut zivilisierte Art und Weise. Das ist der utopischste Gehalt dieser Erzählung, denn realiter war das weder zu der Zeit der Fall, als das Buch erschien, noch lässt sich heute davon auch nur ansatzweise sprechen.

Zweitens überwindet, wie mehrere Nebenstränge der Erzählung zeigen, die Kraft der Liebe am Ende alle Hindernisse. Wie oft bei Böll spielen Frauen eine entscheidende Rolle – allerdings auch hier vornehmlich aus der zweiten Reihe, als Madonna, Hure, gütige Fee oder Managerin des sozialen Getriebes. Aber hier ist nicht der Ort, um auf Bölls Frauenbild einzugehen. Die Liebe jedenfalls siegt über alles – wie man weiß, ein durchaus christlicher Gedanke.

Drittens wird mit dem milden Urteil, das einem Freispruch gleichkommt, zugleich die Kunst in einen anderen Stand versetzt. Beim Akt der Gruhls handelt es sich ja gerade nicht um Repräsentations-, sondern um Aktionskunst. So wird sie von der Ebene der bloßen Dekoration in den Stand gesellschaftlicher Wirksamkeit erhoben und ein Künstlertraum verwirklicht.

Und viertens triumphiert in dieser Erzählung am Ende das Lassen über das Machen. Programme und Ideologien verkünden nur die expliziten Staatsvertreter: der Staatsanwalt und der Oberleutnant der Bundeswehr. Wo der Fortschritt auftritt, da nur als zerstörerischer ökonomischer Prozess, der den alten Gruhl in den Ruin treibt. Am Ende aber, die Nacht hat sich über Birglar gesenkt, haben die Meisten ihren Frieden gefunden, jenseits von allem Tun und allen Zwecken. „Keiner unter den abstrakten Begriffen“, schrieb Adorno einst in dem berühmten Essay 100 der Minima Moralia, „kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.“ Bölls Erzählung kann durchaus als ein kurzes Aufleuchten dieser Utopie gelesen werden. Leider, so muss man hinzufügen, wacht natürlich auch Birglar am nächsten Tag wieder auf.  

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll.