Chronik der Vergesslichkeit - Abfahrt aus Havanna

Vortrag

Als der kubanische Schriftsteller Amir Valle zum ersten Mal das Buch „Billard um halb zehn“ in die Hände bekam, dachte er noch: „Ach, wieder so ein Deutscher.“ Heute schmerzt es ihn, dass so viele Menschen Bölls Werk nicht kennen.

Zeichnung von Heinrich Böll vor einem grünen Hintergrund

Eine kubanische Redensart besagt, dass das Gedächtnis lange Beine hat, immer findet es in die Gegenwart zurück und entkommt dem finsteren Ort, wohin die Menschen es warfen. Wir, die wir über diese Welt nachdenken und schreiben, sollten die Volksweisheit nicht übergehen. Täglich erleben wir aber, was ich für den schlimmsten menschlichen Fehler halte: die Vergesslichkeit. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die vielen sozialen und individuellen Missstände zu erläutern, an denen die Vergesslichkeit Schuld trägt.

Wegen dieser Vergesslichkeit erleben wir gegenwärtig, dass viele behaupten, der nationalsozialistische Holocaust sei eine kommunistische Erfindung, oder die Millionen Menschen, die dem Sozialismus zum Opfer fielen, seien eine Lüge der internationalen Rechten. Mit dem Schleier der Vergesslichkeit versuchen Vertreter sowohl der Linken wie der Rechten, die wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und menschlichen Katastrophen zu vertuschen und vergessen zu machen, die im noch so nahen 20. Jh. begangen wurden. Und diese Vergesslichkeit trifft auch das Vermächtnis jener Menschen – unter ihnen viele Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle –, die ihr Leben zu einem Kampflied für die wahren Freiheiten, die Grundrechte und ein besseres Leben auf unserer Erde machten.

Kuba, diese kleine Karibikinsel, von der ich ursprünglich komme, brachte im 20. Jh. eine der stärksten spanischsprachigen Literatur hervor. Namen wie Alejo Carpentier, José Lezama Lima, Guillermo Cabrera Infante und Virgilio Piñero (um vier berühmte Beispiele zu nennen) zählt die Literaturwissenschaft zu den so genannten „Klassikern der spanischen Sprache“. Doch auch hier richtete das schlechte Gedächtnis Schaden an. So erinnern sich sehr wenige in Kuba an die erlesene Erzählkunst eines Onelio Jorge Cardoso, den Akademiker auf der ganzen Welt für einen der größten lateinamerikanischen Erzähler halten. Und auch José Soler Puig, den die Schriftsteller der lateinamerikanischen Boom-Literatur (Mario Vargas Llosa, Gabriel García Márquez, Mario Benedetti, um nur einige aufzuführen) für einen der größten und originellsten Romanciers Lateinamerikas hielten, wurde weitgehend vergessen. Wenige außer uns, deren Lehrer er war, kennen noch seine Romane.
Kurz und gut, das schlechte Gedächtnis kommt überall hin.

Vor fast zwanzig Jahren, am Anfang meiner literarischen Karriere, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich eines Tages im Haus des Schriftstellers, der zu den deutschen Autoren zählt und die kubanische Literatur um die Mitte des 20. Jh. stark beeinflusst hat, schlafen, essen und herumgehen würde. Und doch ist das der Fall. 1986 fiel mir in Havanna ein Buch in die Hände, das mich als jungen Schriftsteller stark beeinflusste. Das Buch hieß „Billard um halb zehn“ und sein Verfasser war ein gewisser Heinrich Böll. „Ach“, sagte ich mir, „wieder so ein Deutscher.“ Ich hatte einen neuen Namen für meine Lektüresuche entdeckt. Ich kannte nämlich schon die in Kuba veröffentlichten Werke von zwei anderen großen Schriftstellern, Hermann Hesse und Günter Grass. Sicher fragen Sie sich, wieso diese Werke auf der kleinen Insel bekannt waren. Die Antwort darauf ist einfach.

Zu Beginn der kubanischen Revolution betraute die Revolutionsregierung den kubanischen Schriftsteller Alejo Carpentier mit der Leitung der kubanischen Nationaldruckerei. In dieser Position nahm sich Alejo Carpentier eine - wie ich finde - titanenhafte Aufgabe vor: die besten Werke sämtlicher Literaturen des Planeten Erde in die kubanischen Buchläden zu bringen. So war es uns Kubanern vergönnt, sowohl Werke zu lesen, die aus Literaturen mit einer großen Tradition stammten - wie der deutschen, der russischen, der englischen, der französischen, der japanischen und der nordamerikanischen -,  als auch die Werke der größten arabischen, afrikanischen, türkischen oder chinesischen Schriftsteller. Ja, sogar Werke, die im Original in einer vom Aussterben bedrohten Sprache geschrieben waren, die heute nur einige hundert Menschen sprechen.

Billard um halb zehn machte mich zu einem Suchenden nach jedem erhältlichen Buch von Heinrich Böll. So las ich (in dieser Reihenfolge): Und sagte kein einziges Wort, Die Verlorene Ehre der Katharina Blum und Gruppenbild mit Dame. Doch erst in seinem Landhaus in Langenbroich, lernte ich den Geist des großen Autors endgültig kennen. In einem Regal im Wintergarten fand ich eine spanische Ausgabe eines Romans, den ich in Kuba nicht aufgetrieben hatte: Ansichten eines Clowns. Ich bin ein Mensch mit einem tiefen Glauben an Jesus, und der Humanismus, der aus diesem Buch spricht, beeindruckte mich außerordentlich stark. Daher ist es mir ein Rätsel, wie es die Deutschen zulassen können, dass das Beispiel und das Andenken eines Mannes verblasst, der einen so großen über Deutschland hinaus bedeutenden Beitrag zum humanistischen Denken geleistet hat. Wie kann es sein, dass Hunderttausende Deutsche nicht das Werk des Mannes kennen, der wenigstens vier der größten in deutscher Sprache geschriebenen Romane verfasst hat? Auch wenn einige heute sich nicht erinnern, es nicht wissen, oder es ihnen gleichgültig ist, ist die immense literarische Bedeutung von Billard um halb zehn, Gruppenbild mit Dame, Die Verlorene Ehre der Katharina Blum und Ansichten eines Clowns unbestreitbar.

Die deutsche Literatur gehörte wie schon erwähnt zu den stärksten Einflüssen auf die kubanische Literatur des 20. Jh.. Bedauerlicherweise ist die aktuelle deutsche Literatur auf der Insel unbekannt, aber die Klassiker sind dort vorhanden und gehören zur Bildung der kubanischen Intellektuellen. Die kubanischen Kinder wachsen noch mit den wunderbaren Märchen der Gebrüder Grimm auf; man liest Novalis, Goethe, Schiller, Heinrich Heine, Paul Celan und sogar den so selten erwähnten Hölderlin; auch die reiche deutsche Philosophie hat viele Leser; man findet Gefallen an der Erzählkunst von Thomas Mann, Günter Grass, Anna Seghers, Hermann Hesse, Christa Wolf und Heinrich Böll. (Ich führe hier ich nur einige Autoren auf, die mir während des Schreibens einfielen.) Ein wichtiges Detail ist auch, dass Bücher in Kuba vergleichsweise preiswert sind. So kostete zum Beispiel mein Exemplar von Billard um halb zehn 80 kubanische Centavos (also etwa 30 Eurocent zum damaligen Wechselkurs). Das Buch erschien in einer damals üblichen Auflage von fünfundzwanzigtausend Stück.

Für meine Generation der heute 40 bis 45jährigen Autoren gilt Heinrich Böll immer noch als ein berühmter Präzedenzfall dafür, wie man gesellschaftliches Denken erzeugen und damit eine wesentliche Aufgabe der Literatur leisten kann. Für viele von uns ist Heinrich Böll ein Beispiel dafür, wie literarisches Schaffen sich für das höchste Ziel engagieren kann: das spirituelle Wachstum des Menschen und der Kampf um seine Freiheit und seine Träume. In meinem Land war ich Dozent für literarische Techniken verschiedener Literaturworkshops sowie an der einzigen Fortbildungsstätte für junge Schriftsteller der Insel und ich kenne die zwei letzten Schriftstellergenerationen. Daher kann ich bestätigen, dass der Einfluss von Heinrich Bölls Erzählkunst fortbesteht; ich kann bestätigen, dass sie seine literarische und philosophische Meisterschaft auf den ersten Blick erkennen. Der kubanische Leser fand in Bölls komplexem, humanem, kritischem und provokantem Werk Themen, die ihm nah waren, und in jedem kubanischen Dorf, in jeder Straße verortet sein konnten. Ich kann bestätigen, dass Heinrich Böll auf dieser Insel präsent und lebendig ist und seine Wirkung auf die kubanischen Leser zeigt seine Bedeutung für die Literatur in anderen Teilen der Welt.

Ich verdanke dem von Heinrich Bölls Vermächtnis als Beispiel der humanistischen Aktionen des deutschen Volkes, dass ich ruhig mit meiner Familie in Deutschland leben kann, denn in Kuba gibt es heute keine Gedankenfreiheit. Dank des Stipendiums dieser Stiftung blieb mir das Gefängnis erspart, in dem heute mehr als 300 meiner Landsleute leiden – wegen des simplen Vergehens anders zu denken als es die offizielle kubanische Politik verlangt. Mein Aufenthalt in Heinrich Bölls Haus in Langenbroich ermöglichte es mir auch, ein Paar Romane zu beenden, von denen einer soeben erschienen ist und ein anderer 2008 veröffentlicht wird. Ich habe oft hier in Deutschland erklärt, dass viele von Ihnen vielleicht nicht die große Bedeutung ermessen können, die dieses Stipendium des Heinrich-Böll-Hauses in Langenbroich für das Leben, die Freiheit und die Verteidigung der Menschenrechte weltweit hat. Es ist weitaus bedeutender - und das sage ich, weil ich es am eigenen Leib erlebt habe - als viele sich vorstellen mögen.

Daher schmerzte es mich, dass viele Deutsche - vor allem Hunderttausende junge Menschen - nicht einmal wissen, dass es einen Schriftsteller dieses Namens gegeben hat. In Gesprächen mit anderen Universitätsdozenten habe ich mit Schrecken vernommen, dass einige von Heinrich Bölls Werken, die früher an Universitäten gelesen wurden, heute nicht mehr auf den Lehrplänen stehen. Ich habe sogar feststellen müssen, dass einige deutsche Intellektuelle ihn nicht mehr erwähnen, wenn von großer deutscher Literatur die Rede ist. Vor kurzem stieß ich im Internet sogar auf einen beleidigenden Umstand: Dort las ich eine Arbeit eines deutschen Schriftstellers zur deutschen Nachkriegsliteratur, die Heinrich Böll nicht erwähnt, obwohl sein Name ohne Zweifel ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Abschnitts der deutschen Literatur ist.

Waltraut Ludwig aus Langenbroich gehört zu den größten mir bekannten Bewunderinnen des Werks von Heinrich Böll und kannte das Ehepaar Böll auch persönlich. Sie hat mir in unseren Gesprächen eine Geschichte erzählt, die ich in einer meiner Erzählungen aufgreife: Die meisten Schriftsteller und Künstler, die im Haus Unterkunft fanden, schwören, dass sie dort in der Nacht die Schritte des Schriftstellers hören konnten. Sie schwören, dass die Präsenz dieses großen Menschen sehr nahe zu spüren war. Auch ich habe seine Anwesenheit gespürt. Heinrich Böll ist in diesem Haus präsent. Auf diese Weise ist er für uns, die ihn bewundern und an sein unentbehrliches Werk glauben, am Leben. Ich weiß außerdem, dass Heinrich Böll an diversen Orten dieser Welt durch die Aktivitäten dieser Stiftung präsent ist. Erlauben Sie mir einen Rat zu wiederholen, den ich schon in Interviews geäußert habe: Um das Werk und das Denken von Heinrich Böll zu verbreiten, muss sich die Arbeit nach Innen, also auf die deutsche Gesellschaft selbst, richten. Es muss deutlich werden, dass das Werk und das kritische Denken Heinrich Bölls aktuell sind. Es sollte daher ein Projekt entwickelt werden, das ein Heinrich-Böll-Museum umfasst, um den Zugang der deutschen Gesellschaft zu dem Werk, dem Beispiel, dem physischen, schriftstellerischen und ideellen Vermächtnis des Schriftstellers zu verbessern.

Dazu habe ich einen Traum, den ich mit einem der gastfreundlichsten und professionellsten Menschen, die ich in Deutschland kenne, schon besprechen konnte. Ich meine Sigrun Reckhaus, die mit ihrer Sensibilität und ihrem professionellen Ernst für fast alle Gäste von Langenbroich zur besten Freundin wurde. Mein Traum ist sehr einfach. Ich träume davon, dass aus diesem Haus das meiner Ansicht nach nötige Museum wird. Die Stipendiaten selbst könnten als Museumsführer dienen und das Werk Heinrich Bölls in die Welt tragen. Dieses Haus würde mindestens drei wichtige Funktionen erfüllen. Es wäre die Institution, die Schriftsteller und Künstler aufnimmt, die in ihren Ursprungsländern unter den Problemen leiden, gegen die Heinrich Böll zu Lebzeiten kämpfte. Es wäre das Zentralmuseum, das seine Bücher, persönliche Gegenstände, Photographien und seine Bibliothek bewahrt und ausstellt. Und es wäre auch ein Kulturzentrum, das mit einem prestigeträchtigen, nach Böll benannten Literaturpreis regional und national für das Haus werben würde, und durch ein Literaturprogramm in das universitäre, schulische und soziale Leben Deutschlands integriert wäre. Mein Traum enthält weitere Anregungen, doch die genannten halte ich für die wesentlichen.

Das Leben und Werk dieses wichtigen Namens der Weltliteratur, die Aktualität seines Denkens und die Aufrichtigkeit seines Beispiels bietet Hunderte von Möglichkeiten, mit denen seine Kinder, diese Stiftung, die deutschen Intellektuellen, die deutschen Universitäten, und alle interessierten Menschen, politischen Kräfte oder Kulturinstitutionen dazu beitragen können, dass Heinrich Bölls Name wieder die Anerkennung, das Prestige und die gesellschaftliche Wirkung erlangt, die ihm zukommen.

Unsere Vergesslichkeit darf diese Schlacht nicht gewinnen.

Vortrag von Amir Valle zum 90. Geburtstag von Heinrich Böll.
(Übersetzung Carina Ceschi)