Emily Nasrallah: Die „Bäuerin“, die über ihr Land schrieb und damit die Herzen der Welt gewann

Homage

Am 28. August 2017 wird der libanesischen Schriftstellerin Emily Nasrallah die Goethe-Medaille verliehen. In ihren Texten für Erwachsene und Kinder hat sie eine poetische Sprache gefunden, um den Alltag im vom Bürgerkrieg gezeichneten Libanon zu beschreiben.

Emily Nasrallah

„Ich bin eine Bäuerin, die Tochter von Dorfbewohnern“, sagt die Schriftstellerin Emily Nasrallah über sich selbst.
Diese Bescheidenheit und Verbundenheit mit dem Land sind die markantesten Eigenschaften, die einem auffallen, wenn man ihr im Gespräch gegenübersitzt. Sie könnte aber auch auf einen Bücherschrank zeigen, der mit den von ihr selbst geschriebenen Büchern gefüllt ist – Bücher, die Leser/innen im Libanon beeinflusst und Menschen in aller Welt berührt haben.

Am 28. August 2017 wird Nasrallah die Goethe-Medaille verliehen. Damit wird sie für ihr bemerkenswertes Gesamtwerk ausgezeichnet, das verschiedene Genres, von Romanen über Kurzgeschichten bis hin zu Lyrik und autobiografischer Prosa, umfasst. Neben diesem umfangreichen und beeindruckenden Gesamtwerk trägt auch ihr Einsatz für Frauen- und Menschenrechte dazu bei, dass Goethe Nasrallah dieser Ehrenauszeichnung für würdig halten würde, die sie gemeinsam mit der indischen feministischen Verlegerin Urvashi Butalia und der russischen Historikerin Irina Scherbakowa erhält.

Ich bin eine Geschichte

In Bezug auf ihre deutschen Leser/innen sagt Nasrallah, dass sie immer wieder über ihr persönliches Leben befragt werde und beschreibt sich selbst so: „Ich bin eine Geschichte. Meine Familie kommt aus einem einfachen Dorf und wir sind Bauern. Meine ganze Kindheit hindurch habe ich mit meiner Familie auf dem Feld gearbeitet und Oliven und Weintrauben angebaut und gepflückt.“

Nasrallah wurde 1931 im Dorf Kfeir im Südlibanon geboren. „Ich habe mich sehr um eine weiterführende Bildung bemüht“, erzählt sie. In der öffentlichen Schule von Kfeir wiederholte sie die dreimal die dritte Klasse, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es dort keine höheren Klassen gab. Da ihre Familie kein Geld für ihre Schulbildung hatte, schrieb sie ihrem Onkel in den USA einen Brief, um ihn zu bitten, die Schulgebühren für sie zu bezahlen, was er auch tat. Sie war das erste Mädchen ihres Dorfes, das ihr Zuhause verließ, um auswärts zu leben und zu studieren. Sie absolvierte die Eliteschule „International School of Choueifat“ (die auch unter dem Namen Charles Saad School bekannt ist). Um das Geld für ihr Universitätsstudium zusammenzubekommen, arbeitete sie zum einen als Journalistin für die Frauenzeitschrift Sawt al Mar’a (Stimme der Frau) und das politische Magazin Al Sayyad und zum anderen als Lehrerin. An der Universität machte sie ihren Abschluss dann auch in Pädagogik.

Sie arbeitete 17 Jahre lang beim Al Sayyad Magazine. Nach ihrer Heirat gab sie den Beruf als Lehrerin auf, blieb aber dem Journalismus treu und widmete auch ihrer Familie viel Zeit. Sie schrieb weiterhin sowohl literarische als auch Sachbücher. Die Zeit dafür fand sie nach der Erledigung aller häuslichen und familiären Aufgaben, bei der ihr eine Haushaltshilfe zur Hand ging. Wenn sie an einem Roman arbeitete, legte sie immer bestimmte Zeiten für das Schreiben fest. Sie spricht auch über die enorme Unterstützung ihres Mannes, der ihr immer wieder sagte: „Du bist frei, du kannst machen, was du willst, du kannst schreiben, was du willst.“ Und er ermutigte sie auch immer, noch besser zu schreiben. „Vor sechs Jahren ist er nach 55 gemeinsamen Jahren gestorben“, erzählt sie. Die Autorin hat vier Kinder, über die und deren Erfolge im Leben sie auch gern und voller Stolz berichtet.

Schreiben ist ein Akt der Liebe

Nasrallah bezeichnet das Schreiben als einen Akt der Liebe. Ihre Liebe für Sprache und Erzählungen begann vielleicht schon mit ihrer Großmutter, die sie oft auf den Schoß nahm und ihr Geschichten erzählte. „Sie war die erste Geschichtenerzählerin“, sagt die Autorin. Aber sie schulde auch einem ihrer Onkel mütterlicherseits Dank, der anfangs in den USA lebte, nach einer Parkinson-Diagnose aber in den Libanon kam und bei ihnen wohnte, als sie klein war. Dieser Onkel weckte bei ihr ein erstes Interesse am Schreiben, indem er ihr kleine Schreibaufgaben erteilte: „Für wen ist dieses Haus?“ oder „Für wen ist dieser Baum?“
Bevor sie sechs Jahre und damit alt genug für den Schulbesuch wurde, hockte sie schon heimlich vor dem Fenster des Klassenraums, um dem Lehrer zuzuhören. Ihre Mutter bat den Lehrer darum, dass ihre Tochter im Klassenzimmer sitzen dürfe, und Nasrallah gibt lachend die Antwort des Lehrers wieder: „Solange du verschwindest, wenn der Schulinspektor kommt.“

Dann war es aber doch die tiefe Traurigkeit, die sie erfüllte, als ihre Geschwister auswanderten, die sie dazu brachte, Anfang der 1960er-Jahre ihren ersten Roman zu schreiben: Septembervögel. Sie erinnert sich an die tränennassen Seiten, als sie mit dem Schreiben fertig war. Nasrallah beschäftigt sich in ihren Romanen, Kurzgeschichten und persönlichen Aufzeichnungen mit den Themen Krieg und Immigration und bringt Frauenrechte und soziale Fragen zur Sprache. Und sie schreibt für eine breite Leserschaft, die sowohl Erwachsene als auch Kinder umfasst. In dem Kinderbuch Kater Ziku lebt gefährlich beschreibt Nasrallah aus der Perspektive der Katze ihrer Tochter das Leben in der Familie, bis ihr Haus 1982 zerbombt wurde. In Flug gegen die Zeit erzählt sie von einem älteren Ehepaar aus dem Dorf, das seine nach Kanada und New York emigrierten Kinder besucht und - aufgrund der Sprache, Lebensweise, dem anderen Umgang der Menschen miteinander, dem Land und der Umgebung - eine Entfremdung erlebt. Min Hasad al Ayyam [Von der Ernte der Tage] ist eine Artikelsammlung in drei Teilen, in denen Nasrallah sich mit einer Vielzahl an sozialen und kulturellen Fragen auseinandersetzt: Gewalt gegen Frauen, Dichterinnen und Politikerinnen, ihr Dorf, das Leben in Beirut und das Durchhaltevermögen seiner Künstler, Auswanderung und viele andere Themen mehr.

Am bekanntesten ist sie jedoch für ihre Bücher und Schriften über die Auswanderung. Und das ist ihr auch bewusst: „Das ist etwas, das ich selbst durchlebt habe ... und ich schrieb viele Romane gegen die Auswanderung“, erklärt sie und zitiert ihre Großmutter, die den Libanon als „das Land, das sein Volk nicht halten kann“ beschrieben hatte.

Ich unterstützte Frauen

Auch wenn Nasrallah sich nicht ausdrücklich als Feministin bezeichnet, so sagt sie doch: „Ich habe mit meinem Schreiben auf jeden Fall immer Frauen unterstützt, um ihnen einen Teil des Leids zu ersparen, das ihnen in unserer Gesellschaft widerfährt.“ Sie habe die Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung gelenkt, der sich Frauen gegenübersehen, die schon in der Familie anfängt. „Ich wollte, dass die Frau dem Mann gleichgestellt ist … ich habe es erlebt: Aus einer Bäuerin auf dem Feld wurde die Absolventin einer Eliteschule; ich erlebte, dass Frauen sich weiterentwickeln können“, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt. Sie halte den Frauen aber keine Vorträge, denn diese würden sich selbst und ihren Arbeitsbereich gut genug kennen, aber sie erhebe sich gegen Ungerechtigkeiten. Ihre Liebe für Gerechtigkeit, Frauen- und Menschenrechte sei ihr von ihrer Familie mitgegeben worden genauso wie das Gebot, alle Menschen wertzuschätzen, ganz gleich, wer sie sind, wo sie herkommen und welche Arbeit sie verrichten.

Dankbarkeit

Es besteht kein Zweifel daran, dass Nasrallah mit ihren Büchern Wirkung erzielt hat. Sie werden rund um die Welt gelesen und gehören in vielen libanesischen Schulen zum Lehrplan. Zu ihren deutschen Leser/innen besteht eine enge Bindung, eine gegenseitige Bewunderung, die in den 1980er-Jahren begann und noch immer anhält. Sie glaubt, dass sich die deutschen Leser/innen sehr für ihre Bücher und Schriften interessieren. Sie bleibe über die Seminare, die sie besucht, immer mit ihnen in Kontakt, und die Leser/innen nähmen auch an Diskussionen und Gesprächen im Libanon teil, was über Ausschüsse zustande käme, die einen „Kulturtourismus“ organisieren. In diesem Rahmen kämen immer wieder Leute zu ihr, um zu erfragen, wie sie ihre Bücher schreibe. Sie seien sowohl an Geschichten über Frauen als auch an ihrer persönlichen Geschichte interessiert.
Und so kommt es, dass diese willensstarke und großherzige Frau aus dem südlibanesischen Dorf, die eine tiefe Liebe für das Land, ein starkes Verantwortungsgefühl und einen großen Gerechtigkeitssinn in sich trägt, nun vom Goethe-Institut ausgezeichnet wird. Sie ist sehr dankbar für die Medaille, auch wenn sie sagt, dass sie nicht für eine Auszeichnung arbeite, sondern aus Liebe zum Schreiben: „Genau wie ein Hahn krähen muss“, sagt sie mit einem Lächeln, „so müssen wir schreiben.“