Heinrich Böll: "Billard um halb zehn"

Rezension

Spielt da wirklich einer „Billard um halb zehn“? Ist damit der Vormittag gemeint oder die Nacht und warum tut er das? Vera Lorenz liest den Roman von Heinrich Böll zum ersten Mal. Wegen des Titels.

Drei verschiedene Hilfsqueues auf einem Billardtisch
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Drei verschiedene Hilfsqueues auf einem Billardtisch

Bauen und sprengen

Da ist einer, in diesem Fall ein Mann in den besten Jahren, der in einer nicht genannten Stadt mit Kirchen und Fluss und Hafen ein eigenes Statikbüro mit Angestellten betreibt, der jeden Morgen um halb zehn ins Hotel geht und dort mit einem Cognac und in Begleitung eines Hotelboys bis elf Uhr im Billardzimmer verschwindet, um Carambolage zu spielen, aber vor allem, um zu reden und zuzuhören. Das ist Robert Fähmel.

Er ist Statiker und nicht Architekt wie sein alter Vater Heinrich, der von Ehrgeiz und Erwartungen getrieben die Stadt vor fast 50 Jahren betreten hat und dem alles gelang. Bis in den letzten Kriegstagen sein Lebensprojekt, die Abtei St. Anton, unnötiger Weise gesprengt worden ist. Sein Enkel Joseph wird St. Anton wiederaufbauen. Wird er?

Der Roman spielt an einem Tag

„Billard um halb zehn“ spielt an einem einzigen Tag, am 6. September 1958. Es ist der 80. Geburtstag des Patriarchen Heinrich Fähmel, der für den Abend einen kleinen familiären Empfang im Café Kroner plant. Dies ist sein Tag, geeignet für Rückblicke, ausgeschmückt mit Episoden, verziert mit etwas Zeitkritik. - Das könnte ein gutes Buch werden, interessiert Heinrich Böll aber nicht.

Der erzählt eine andere Geschichte oder genauer: andere Geschichten. In 13 Abschnitten schaut er seinen Figuren dabei zu, wie sie durch diesen Septembertag kommen, wie sie in Erinnerungen der peinigenden Art festhängen, dem Erlebten und Erlittenen nachgehen.

Neben den drei Fähmel-Männern sind es deren Ehefrauen oder Freundinnen, dazu eine Tochter, die Sekretärin, Schulfreunde, ihre Familien. Eine Menge Personal kommt ins Spiel, manche Typen schmücken die Szenen, besonders das Völkchen im Hotel macht Freude.

Böll muss ein feiner Beobachter gewesen sein. Fein und fies. Er verzeiht es seinen Mitmenschen nicht, wie sie ein paar Jahre nach Kriegsende leben als hätten sie mit den Nazis nichts zu tun gehabt und als gäbe es da noch und wieder was zu verteidigen an deutscher Ehre. Ich lese die Wehmut, fast schon die Bitternis, heraus, die den Autor Heinrich Böll gequält haben mag.

Das Personal kennt sich von früher

„Billard um halb zehn“ springt vom September 1958 in einen Julitag, der über 20 Jahre her ist, und zurück. Aus der Kindheit des heutigen Statikers Robert rühren die Beschädigungen seiner Generation. Er und Schrella, Nettlinger und die anderen Jungen, die im Juli 1935 den Ball schlagen, stehen auf verschiedenen Seiten, verprügeln einander, lauern sich auf, verbünden sich.

Einer von ihnen wird Nazi, zwei schaffen die Flucht, ein anderer wird für ein misslungenes Attentat hingerichtet. – Das habe ich so oder anders schon gelesen und doch zieht es mich in den Text. Warum will Robert kein Architekt sein in einem Land, das in Schutt und Asche liegt? Hier sollte es um die Baubranche doch gut bestellt sein, die Aufbau-Branche. Was für ein Geheimnis hütet er?

Die Nazis werden an keiner Stelle des Romans so genannt und eine Hauptrolle bekommen sie auch nicht. Die Hauptrollen bekommen die Schrellas und diejenigen Fähmels, die den Verlockungen der Herrenmenschen nicht erlegen sind, die nicht vom „Sakrament des Büffels“ essen. Dieses christliche Motiv leuchtet mir sofort ein, ich kann mir was drunter vorstellen, auch ohne im erklärenden Anhang nachzulesen.

Das Billardzimmer als Versteck vor der Welt

Johanna, die große Liebe des alten Fähmel, Mutter der gemeinsamen Kinder, kostet auch nicht vom Büffel-Sakrament, die zwingt ihre Kinder sogar zu hungern, obwohl zu essen da wäre. Johanna verschließt sich der Welt, flieht in ihren Glauben, übersteht die Nazizeit in einem Sanatorium und bleibt auch später dort. Ihr Sohn Robert kehrt aus dem Krieg zurück. Er hat keine Liebe für seine beiden Kinder übrig. Er versucht, durch eine klare Tagesstruktur sein Leben im Griff zu behalten.

Fast hat der Leser, die Leserin Mitleid mit ihm, wie er da jeden Morgen mit dem Hotelboy und dem Cognac ins Billardzimmer geht, sich vor der Welt versteckt. Wenn wir richtig schön mitleiden, macht die Geschichte eine tolle Wendung. Die Familie Fähmel kommt noch einmal zusammen. Auch die Mutter Johanna. Dann knallt’s. Dann wird nicht nur der Empfang im Café Kroner abgesagt werden.

 

Heinrich Böll, „Billard um halb zehn“, in: Kölner Ausgabe, Band 11, Kiepenheuer & Witsch
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