Die Yogyakarta-Prinzipien +10

Reflektion

Die Gremien der Vereinten Nationen haben unmissverständlich festgehalten, dass alle Menschen den Schutz des UN-Menschenrechtssystems genießen, wenn sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, geschlechtlichen Identität, ihres Geschlechtsausdrucks oder aufgrund von Geschlechtsmerkmalen diskriminiert oder Gewalt ausgesetzt werden. Menschenrechte sind ein dynamisches System. Die Yogyakarta-Prinzipien plus 10 reflektieren, wie das Völkerrecht sich in den letzten zehn Jahren in diesem Bereich entwickelt hat.

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Rainbow flag

Vor exakt siebzig Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedete die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Obgleich nicht rechtlich verbindlich, ebnete das Dokument einer Vielzahl von Menschenrechtsverträgen den Weg, die die ratifizierenden UN-Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, zentrale Menschenrechtsstandards umzusetzen. Die ersten rechtsverbindlichen UN-Abkommen umfassten ein breites Spektrum an bürgerlichen und politischen[1] einer-, sowie sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten[2] andererseits.

Abkommen zu spezifischeren Formen von Diskriminierung und Gewalt folgten in späteren Jahren. Dazu zählen u. a. das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC), das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW), das Übereinkom­men der Vere­in­ten Natio­nen gegen Folter und andere grausame, unmen­schliche oder erniedri­gende Behand­lung oder Strafe (Convention Against Torture, CAT) und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities, CRPD).

LSBTI-Menschen spilten keine Rolle bei der Entwicklung der Menschenrechte

Die Entwicklung der Menschenrechte im System der Vereinten Nationen zeugt von der Erkenntnis, dass ein größeres Augenmerk auf schwerwiegende und systemische Menschenrechtsverletzungen gelegt werden muss und dass gefährdete Gruppen wie Frauen, Kinder, Migrant*innen, rassifizierte Menschen, also Menschen, die auf Grund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden, oder Menschen mit Behinderungen mehr Schutz benötigen. Dabei wurden jedoch lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und intersexuelle Menschen (LSBTI) in keinem einzigen UN-Abkommen berücksichtigt. Diskriminierung und Gewalt gegenüber LSBTI-Menschen fanden in den 1940ern und während des größten Teils des 20. Jahrhunderts in den maßgeblichen UN-Dokumenten keinen Niederschlag.

Verschiedene Menschenrechtsorgane der UN, darunter der UN-Menschenrechtsrat, diverse Verträge und Sonderverfahren haben diese Missachtungen erst in der jüngeren Vergangenheit in den Fokus genommen – zunächst auf Grundlage der sexuellen Orientierung, zuletzt zunehmend in Bezug auf geschlechtliche Identität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale (Sexual Orientation, Gender Identity and Expression, and Sex Characteristics, SOGIESC). Inzwischen haben die UN-Gremien und Mitgliedsstaaten eine Vielzahl von Empfehlungen, abschließenden Bemerkungen, allgemeinen Kommentaren und Beschlüssen zu diesen Missachtungen formuliert.

Die Bereitschaft der Vereinten Nationen, Probleme im Zusammenhang mit sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmalen konsequent anzugehen, wurde 2016 auch durch die Mandatierung des unabhängigen Experten gegen Gewalt und Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität (SOGI) unterstrichen.[3]

Die Yogyakarta-Prinzipien (2006)

Im November 2016 versammelten sich namhafte Menschenrechtsexpert*innen, darunter Mandatsräger*innen der Vereinten Nationen, um einen Prinzipienkatalog zusammenzustellen, der klärt, wie internationale Menschenrechtsnormen in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität anzuwenden sind. Die daraus hervorgegangenen, insgesamt 29 Yogyakarta-Prinzipien (YP)[4] gelten als bahnbrechendes Dokument, das seither extensiv von Menschenrechtsmechanismen und Anwält*innen herangezogen wird.[5]

Auch Staaten haben die Prinzipien offiziell befürwortet, Kanada, Chile, die Tschechische Republik, Finnland, Deutschland, die Niederlande und Uruguay – die beiden Letztgenannten ausdrücklich mit Blick auf gesetzliche Bestimmungen und Richtlinien in Bezug auf Trans*Menschen.[6] Der berühmte Malteser Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act (GIGESC) erhielt ebenfalls viel Lob für die Umsetzung der in den YP festgehaltenen Standards.

Die Yogyakarta-Prinzipien plus zehn (2017)

Seit 2016 haben die Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen systematisch und konsequent Diskriminierung und Gewalt im Zusammenhang mit sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmalen thematisiert. Dies hat zu einer maßgeblichen Weiterentwicklung der Menschenrechtsstandards geführt. Um diesen Fortschritten zu entsprechen, wurden die YP im Jahr 2017 durch neue Prinzipien ergänzt.

Die YP plus 10 wurden am 10. November 2017 verabschiedet. Das Dokument reflektiert Entwicklungen im Bereich internationaler Menschenrechtsnormen und schließt nun auch Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale als eigenständige Bereiche ein. Während in den YP eine ausführliche Berücksichtigung von Problemen intersexueller Menschen noch fehlte, kommt Verstößen auf Grundlage von Geschlechtsmerkmalen in den YP+10 nun zentrale Bedeutung zu. Beide Dokumente sind gemeinsam zu lesen – die YP plus zehn korrigieren oder überschreiben die ursprünglichen YP nicht, sondern ergänzen sie.

Für die Menschenrechte von Trans*Menschen relevante Prinzipien

Die YP plus 10 beinhalten neun zusätzliche Prinzipien sowie 111 zusätzliche staatliche Verpflichtungen. Generell sind alle Prinzipien und staatlichen Verpflichtungen für die Rechte von Trans*Menschen relevant, einige befassen sich jedoch ausdrücklich mit Menschenrechtsverletzungen, die vor allem sie betreffen. Dazu gehören unter anderem das Recht auf die Anerkennung des Geschlechts und das Recht auf Sanitärversorgung.

Das Recht auf rechtliche Anerkennung des Geschlechts leitet sich aus dem Recht auf Anerkennung vor dem Gesetz ab – Prinzip 3 der ursprünglichen YP. Diese spielt eine wichtige Rolle in der Bekämpfung von Diskriminierung, weil sie Trans*Menschen nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftlich legitimiert. In den meisten Teilen der Welt müssen Trans*Menschen jedoch übergriffige und diskriminierende Anforderungen erfüllen, um ihren Personenstand ändern lassen zu können.[7]

Die Menschenrechtsgremien der UN und regionale Körperschaften wie etwa der Europarat haben in den vergangenen zehn Jahren einen Rahmen progressiver Rechtsprechung geschaffen, der nun auch in den YP plus 10 reflektiert wird.

Prinzip 31 thematisiert die rechtliche Anerkennung „ohne Verweis auf, Zuteilung oder Offenlegung“ des biologischen Geschlechts, sozialen Geschlechts, sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität, Geschlechtsausdruck oder Geschlechtsmerkmale; das Recht auf Ausweispapiere sowie das Recht auf die Änderung geschlechtsspezifischer Informationen wie Geschlechtsangabe und Namen in diesen Dokumenten.

Angaben zum Geschlecht dienen keinem rechtlichen Zweck

Als tragende Säule dieses Rechts sieht das Prinzip 31 die verpflichtende Abschaffung von Angaben zum biologischen und sozialen Geschlecht in offiziellen Dokumenten vor. In der Praxis hieße dies, dass Ausweispapiere künftig nicht mehr das übliche „m“ und „w“ enthalten. Argumentativ begründet wird dies damit, dass ein Vermerk zum biologischen oder sozialen Geschlecht keinem rechtlichen Zweck dient – eine Erkenntnis zu der auch das deutsche Bundeverfassungsgericht 2017 in einem Urteil gelangte.[8]

Das Bundesverfassungsgericht kam überdies zu dem Schluss, dass die Geschlechtsangabe, wenn sie nur die Optionen männlich und weiblich zur Auswahl stellt, diskriminierend ist. Auch wenn der fragliche Fall einen intersexuellen Menschen betraf, lässt sich die Sicht des Gerichts ebenso auf nicht-binäre Trans*Personen, die sich nicht mit einer binären Geschlechtsidentität identifizieren, übertragen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Abschaffung von Geschlechtsangaben in den meisten Rechtssystemen voraussichtlich ein weit gestecktes Ziel ist, nennt das Prinzip für die Zwischenzeit staatliche Verpflichtungen. Dazu gehört die Maßgabe, dass die rechtliche Anerkennung schnell, transparent und zugänglich zu erfolgen hat; dass sie eine Vielzahl von Geschlechtsbezeichnungen zur Auswahl stellt; dass sie auf Bedingungen verzichtet und ausschließlich auf Selbstbestimmung basiert. Zudem sollen Menschen nicht aufgrund ihres Einwanderungsstatus oder ihrer Vorstrafen davon ausgeschlossen werden.

Das Recht auf Sanitärsversorgung ist ein Schlachtfeld für LSBTI-Menschen

Das Recht auf Sanitärversorgung ist vielleicht nicht der naheliegendste Gedanke, wenn es um die Rechte von LSBTI geht. Es ist jedoch ein Menschenrecht, das für LSBTI-Menschen und besonders Trans*Menschen und Menschen mit non-konformer geschlechtlicher Identität zum Schlachtfeld geworden ist.

Das Recht auf Sanitärversorgung wurde erstmals 2010 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Menschenrecht anerkannt. 2014 richtete die UN ein thematisches Mandat ein, um sich gezielt mit dem Problem zu befassen.

2016 wurde ein thematischer Bericht über die Gleichstellung der Geschlechter in der Umsetzung des Menschenrechts auf Zugang zu sicherem Wasser und zu sanitären Anlagen veröffentlicht, in dem der Sonderberichterstatter, Léo Heller, festhielt, dass insbesondere LSBTI-Menschen hier in der Ausübung ihrer Rechte beeinträchtigt werden. Heller zufolge werden LSBTI-Menschen beim Zugang zu Sanitäranlagen, Produkten für die Monatshygiene und Toiletten diskriminiert und sind regelmäßig Belästigungen, Gewalt und in manchen Fällen Festnahmen ausgesetzt, wenn sie versuchen, eine Toilette zu benutzen.[9]

Der sichere Zugang zu Sanitäranlagen muss gewährleistet werden

Der Sonderberichterstatter unterstrich dabei die besondere Vulnerabilität von Trans*Menschen und Menschen mit non-konformer Geschlechtsidentität und hielt fest, dass einige Staaten Personen nur Zugang zu den Toiletten gewähren, die dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen. Er betonte, dass dies eine Verletzung der Rechte von Trans*Menschen auf die Inanspruchnahme grundlegender Dienstleistungen ist und sie Diskriminierung und Gewalt aussetzt.

Die Nutzung von Toiletten hat sich als enormer Rückschlag für Trans*Menschen erwiesen, wie etwa an den berüchtigten „Bathroom Bills“ insbesondere der Vereinigten Staaten zu ersehen. Heller verwies auch auf das Problem diskriminierender Toilettennutzungsregelungen an Schulen und hielt fest, dass viele Trans*Jugendliche, um Belästigungen zu vermeiden, während der Schulstunden darauf verzichten, auf die Toilette zu gehen. Dies kann zu Harnwegsinfektionen und Nierenproblemen führen und sich überdies nachteilig auf die schulischen Leistungen von Trans*Jugendlichen auswirken.[10]

Entsprechend den Erkenntnissen des Sonderberichterstatters fordert Prinzip 35 der YP+10 „gleichberechtigten, angemessenen, gefahrlosen und sicheren [Zugang] zu Sanitäranlagen und Hygiene, dies unter menschenwürdigen Bedingungen, ohne zu diskriminieren, auch nicht auf Grundlage sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck oder von Geschlechtsmerkmalen.“ Zu den staatlichen Verpflichtungen gehören die Bereitstellung sicherer und angemessener öffentlicher Sanitäranlagen, auch in Bildungseinrichtungen und an Arbeitsplätzen sowie in Gefängnissen.

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Trans*- und LSBTI-Menschen müssen sich nicht länger darauf berufen, unter dem Schutz internationaler Menschenrechtsnormen zu stehen. Die UN-Gremien haben klar und deutlich bestätigt, dass die UN-Menschenrechte für alle gelten, die auf Grund von sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmalen Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt sind.

Menschenrechte sind ein dynamisches System, vergleichbar einem lebendigen Baum oder einem fortlaufenden Work-in-progress. Auf UN-Ebene und in regionalen Foren werden sich jene Menschenrechte, die sich auf sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale beziehen, in den kommenden Jahren mit Sicherheit weiterentwickeln. Dass ein YP plus zwanzig dies eines Tages reflektiert, ist nur eine Frage der Zeit.


[1] Internationaler Pakt  über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). 1966.

https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-D…

[2] Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR). 1966.

https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-D…

[4] YP.

[7] Siehe auch: hyperlink other article on LGR by Dodo.