Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Indien

Hintergrund

Seit Narendra Modi 2014 seine hindunationalistische Partei zum Sieg führte, liegt rechter Populismus in der Luft. Die Parlamentswahlen im Jahr 2019 werden zeigen, ob die Oppositionsparteien im Stande sind, Modis disruptive Politik ernsthaft herauszufordern und besser Alternativen anzubieten. 

Rechtspopulismus in Indien: Foto von Narendra Modi in einer feiernden Menschenmenge

Kaum 20 Kilometer von der Hauptstadt Neu-Delhi entfernt wurde der 15-Jährige Junaid Khan an einem Feiertag in einem Zug erstochen und seine beiden Brüder von einem Mob verprügelt. Die Gruppe beschimpfte sie als „Muslime“, „Terroristen“ und „Betrüger“. Ihr einziges Verbrechen war es, dass sie Muslime sind, Bärte und eine Gebetsmütze trugen. Als Junaid blutend im Schoß seines Bruders lag, der um Hilfe flehte, schaute ihm die Menschenmenge nur zu. Seit 2014 zog eine Welle ähnlich brutaler Übergriffe über ganz Indien hinweg.

Rechter Populismus liegt in der Luft

Als Narendra Modi 2014 seine hindunationalistische Partei Bharatiya Janta Party (BJP) zum Sieg führte, drehte sich seine Kampagne vor allem um vikas - oder wirtschaftliche Entwicklung. Seitdem bestimmen jedoch Lynchmorde an Muslimen, das Rindfleischverbot der BJP, der Aufbau eines privaten hinduistischen Militärs und die fortdauernde Instrumentalisierung nationaler Ressentiments, die durch inhaltsleere Slogans wie „Indien zuerst” oder „Neues Indien“ geschürt werden, die Schlagzeilen. Klar ist: Populismus liegt in der Luft. Dabei ist Populismus an sich in der indischen Politik nichts Neues, doch der Populismus von rechts ist in dieser Form nie da gewesen.

Die aktuelle Welle populistischer Politik wird dabei von einer wachsenden Ungerechtigkeit, Korruptionsskandalen und Protesten von Bürger/innen gegen die politische Klasse genährt und weist ganz besondere Merkmale auf.

Politischer Stil, Ideologie und Identitätspolitik verschmelzen und interagieren miteinander

Zum einen, weil er durch Wahlen an die Oberfläche gespült wurde und der politische Stil von Premierminister Narendra Modi seinen Aufstieg weiter vorantreibt, Modi ist ein Hindu-Hardliner, der gut reden kann und der gerne neue Wege ausprobiert, um mit den Massen in Kontakt zu treten. Zudem betont er stets seinen „männlichen“ Führungsstil.

Zweitens ist der rechte Populismus angelehnt an die Idee von einer hinduistischen Mehrheitsgesellschaft, welche die extreme Rechte vertritt. Dies gilt vor allem für die Vorstellung von der Nation. Der indische Populismus bietet eine Reihe von ideologischen Anknüpfungspunkten wie zum Beispiel die Hindu Rashtra (Hindu-Nation), die gemeinsamen Gegner (Muslime, in geringerem Maße Christen) und eine „machohafte“ hinduistische Männlichkeit, die die verletzbare Nation schützt.

Drittens unterscheidet sich Modis Populismus in der Wirtschaftspolitik von anderen rechten Populismen, die sich beim wirtschaftlichen Fortschritt eher auf Märkte und Geschäftsleute verlassen. Modi setzt stattdessen auf eine pro-Business-Haltung mit marktfreundlichen Elementen (neues Insolvenzrecht; Reform der indirekten Besteuerung) und verbindet diese mit volksnahen Elementen (Bankkonto für Arme; moderne Toiletten für alle, Darlehensverzichte in der Landwirtschaft).

Auch wenn er die Entwertung von 86 Prozent des Geldes im Land als Wohlfahrtsaktion bezeichnete, traf sie am Ende besonders arme Menschen. Der aktuelle Populismus kreist also nicht nur um Ideologie. Er ist ein Phänomen, bei dem politischer Stil, Ideologie und Identitätspolitik miteinander verschmelzen und interagieren.

Modis populistischer Politikstil: Reden, Tweets und die Personalisierung der Macht

Dreh- und Angelpunkt des neuen indischen Populismus ist Modis Politik. Er versteht es, die Massen anzusprechen, sich gegen Eliten zu stellen und die Rechte der nationalen Mehrheit in den politischen Fokus zu rücken. Während seiner Kampagne grenzte sich Modi von den korrupten Eliten im Kongress ab, indem er sich als einfacher Mann (aam admi) und ehemaliger Teeverkäufer (chaiwala) inszenierte. Er erklärte, dass er als Wächter (chowkidar) das Staatsvermögen gegen den raubenden Kongress schützen würde und bezichtigte den früheren Premierminister Manmohan Singh der Tatenlosigkeit, indem er ihn den „stillen, schweigenden“ Singh nannte.

Zur gleichen Zeit setzte er mit seinem bewusst männlichen Führungsstil ein Gegengewicht zum Auftreten von Singh. Modi selbst verkörpert Effizienz, Dynamik und Potenz und versprach, allein durch seine Persönlichkeit und Willenskraft alle politischen Blockaden aufzulösen und hart gegen beide externen Gegner (Pakistan und China) wie gegen die interne Bedrohung („muslimische Terroristen“) vorzugehen.

Modi: "Ich bin das neue Indien"

Keine Frage, seine 1,40 Meter breite Brust sollte zeigen, dass er fähig ist, die härtesten Bürden für „Mother India” zu stemmen. Dies beschwor er auch immer wieder während der Wahlen. Nachdem er Premierminister wurde, rief Modi den Slogan „Ich bin das neue Indien“ aus und präsentierte sich selbst als die Stimme des Volkes und die Verkörperung der Nation.

Dieser Anspruch ist sehr gefährlich, denn er stellt den Premierminister über alle Institutionen (mitsamt der Judikative) und disqualifiziert jegliche Opposition. Folglich wurden Nicht-Regierungsorganisationen, Wissenschaftler/innen, Künstler/innen, Studierende, Oppositionsparteien oder jeder, der die Regierung Modis infrage stellt, als Gegner/in des Volkes, der Nation oder als ausländische Agent/in gebrandmarkt. Dies führte in Indien zu einer Personalisierung der Macht und zu einer Ablehnung jeglichen Pluralismus.

Demokratie ist für Modi und für die meisten anderen Populisten in erster Linie dazu da, Wahlen zu gewinnen - und das will er um jeden Preis. Um politischen Profit daraus zu schlagen, werden Bürger/innen nach ihrer Religion, Kaste oder Klasse gegeneinander ausgespielt. Es wird eine Kampfesrhetorik benutzt oder mit einem Mal das Geld um 286 Prozent entwertet, obwohl 93 Prozent der Arbeit im informellen Sektor stattfindet und auf Bargeldzahlungen angewiesen ist. Wie aber nimmt dieser Populist Kontakt zu den Massen auf?

Direkte Kommunikation über das Radio und die Sozialen Medien

Der politische Stil von Modi hängt mit der Nutzung von Massenmedien zusammen, auf die er sich verlässt, um seine Botschaften zu verbreiten. Dabei scheut der Premierminister die Presse (die seine Minister abschätzig "Presstitutes“ nennen) und bevorzugt es, direkt über das Radio oder über die sozialen Medien zu kommunizieren. Modi hat früh gelernt, diese Medien für sich zu nutzen und seine Herangehensweise ist ein Schlüsselfaktor für seinen politischen Stil und den populistischen Führer Modi.

Auf der einen Seite kommuniziert der Premierminister monatlich direkt über eine Radiosendung namens „Herzgespräche“ (Mann Ki Baat), über soziale Medien, Hologramme und öffentlichen Reden mit dem Volk. Er nutzt diese Medien auch, um seine politischen Widersacher zu delegitimieren.

Das wurde sichtbar, als er Dinge sagte wie „Ich bin ein Hindunationalist”, „finde ich Schwarzgeld, verteile ich 15.000 Rupien an jede/in Bürger/in“, „Indien zuerst, eine allumfassende Nation”, „Säkularisten, wählt die Banken-Partei!“ (eine zynische Anspielung auf die Kongresspartei und andere Parteien, die mithilfe von Säkularismus Wähler/innen gewinnen wollen).

Auf der anderen Seite wird der virtuelle Raum von dem organisierten Cyber-Flügel der BJP überwacht, der Kritiker im Netz systematisch zum Schweigen bringt. Sie bedrohen sie und bezeichnen sie als Zurückgebliebene (“libertards”), Kommunisten und britische Söldner (in Anspielung auf die ehemalige Kolonie) und fordern sie auf, das Land zu verlassen. Dadurch wird ein vereinfachter, binärer Konflikt konstruiert, der zwischen „uns“ und „den anderen“ unterscheidet. Hinduisten gegen ihre Gegner – Muslime, Christen, Intellektuelle, die für die Minderheiten eintreten, und die englischsprachigen, liberalen Eliten.

Das Schreckgespenst der Hindu Rashtra und seine Gegner

Ein weiteres besonderes Merkmal dieser Zeit ist die Auferstehung eines aggressiven Hindu-Fundamentalismus (Hindutva) in Gesellschaft und Politik. Das stellt eine doppelte Bedrohung für Indiens säkulare Demokratie dar. Die Machtübernahme der BJP flößte ihrer Trägerorganisation, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), und ihrer Schwesterorganisation, der so genannten Sangh Parivar, neues Selbstvertrauen ein. Sie treten seitdem energischer in der Zivilgesellschaft auf, mobilisieren besonders auf kommunaler Ebene und sind in Gewalttaten und Einschüchterungen verwickelt, die sich gegen Minderheiten wie Muslime und Christen sowie gegen alle richten, die sich ihnen widersetzen.

Auf politischer Ebene arbeitet die BJP aus der Regierung heraus offen wie verdeckt daran, dass die Aktivitäten der RSS/Sangh Unterstützung erfahren. Sie tauschen überall im Land die Leitenden öffentlicher Bildungseinrichtungen aus, um diese Institutionen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie ordnen an, dass Geschichtsbücher umgeschrieben werden, damit sie der Geschichtserzählung der RSS entsprechen und sie schlagen Veränderungen in der indischen Verfassung vor, um deren säkularen Geist auszuhöhlen.

Das Wesen der indischen Republik soll sich hin zu einer Hindu-Nation wandeln

Dies ist ein Versuch, den sozio-politischen Diskurs in Indien radikal durch den Angriff auf den Säkularismus, Minderheitenrechte und Gleichheit zu verändern. Das Wesen der indischen Republik soll sich wandeln: Weg von einer säkularen, pluralistischen, demokratischen Republik ‑ wie sie in der Verfassung verankert ist ‑ hin zu einer Hindu Rashtra (Hindu-Nation), ganz nach den Vorstellungen des rechten Flügels in Indien.

Solch ein Staat würde dann als nicht-egalitärer Hindu-hegemonialer Staat konzipiert sein, welcher nur diejenigen Bürger/innen einschließt, die rassisch und kulturell zum Hinduismus gehören. Religiöse Minderheiten würden zu Bürger/innen zweiter Klasse degradiert.

Zwangskonvertierung von Frauen als propagandistischer Vorwurf

In diesem Kontext sind zwei Kampagnen der Hindutva-Einheiten von besonderer Bedeutung, da sie die weitreichenden Auswirkungen des rechten Populismus auf Geschlechter, Minderheitenrechte und Demokratie erkennbar machen. Bei ersterer handelt es sich um eine aggressive Kampagne von Daharam Jagran Manch (Forum der Glaubenserweckung, eine Tochterorganisation der RSS), die sich gegen religionsübergreifende Ehen richtet. Mit ihrem Begriff „Love Jihad“ warfen sie der muslimischen und christlichen Jugend vor, junge Hindu-Mädchen in eine Ehe zu locken, um sie dann zu konvertieren.

Richtige Liebesehen, besonders über Religionen und Kasten hinweg, lösen immer noch großes Unbehagen in vielen Teilen der indischen Gesellschaft aus. Gekoppelt mit dem propagandistischen Vorwurf gewollter Konvertierungen wurde daraus eine effektive Kampagne, die das Patriarchat mit dem Kommunitarismus vermengte.

Nicht nur muslimische und christliche Männer, die mit Hindu-Frauen verheiratet waren, gerieten ins Visier, sondern durch die Anwendung von Gewalt, Einschüchterungen, emotionaler Erpressung, Unaufrichtigkeit und dem Einsatz von Drogen wollten sie Frauen zum Hinduismus zwingen. Muslimische (und christliche) Männer wurden als verräterische Außenseiter dargestellt – ein Feind, der „andersartig“ ist und danach trachtet, Frauen zu verführen und dadurch die Hindu-Nation auszulöschen.

Durch das Schüren einer gefühlten Bedrohung für hinduistische Frauen und die Nation, die Gefühle von Angst und Leidenschaft erzeugte, versuchte die Kampagne systematisch Feindseligkeiten entlang unterschiedlicher Linien der Gesellschaft zu entfachen.

Ghar Wapsi Kampagne zwingt Minderheiten zur Konvertierung

Die zweite Kampagne wurde gemeinsam von Dharam Jagran Manch und der RSS-nahestehenden Gruppen ins Leben gerufen, um Christen und Muslime zum Hinduismus zu konvertieren, ein Vorgang, den sie Ghar Wapsi oder Heimkehr nannten. Sie behaupteten, dass jeder Inder ein Hindu sei und Christen sowie Muslime sich verirrt hätten oder von Missionaren nach Indien gebracht worden wären.

Die Ghar Wapsi Kampagnen treten immer wieder in ganz Indien auf. Eine große Anzahl von Mitgliedern einer Minderheit wird dann zur Konvertierung gezwungen. Beide genannten Kampagnen führten zu mehr Intoleranz, mehr Unsicherheit unter Minderheiten und kommunalen Auseinandersetzungen.

Obwohl beide Kampagnen den Wortlaut und den Geist der indischen Verfassung verletzten, welche das einklagbare Recht, „seine Religion auszuüben und seinen Glauben zu verbreiten“ garantiert und gegen existierende Gesetze wie dem „Special Marriage Act“ von 1954 (welche Ehen von Mädchen über 18 und Jungen über 21 Jahren anerkennt, unabhängig von ihrer Religion oder Kaste) verstößt, hat die Regierung bisher nichts unternommen, um solche Vorgänge zu stoppen.

Regierung unterstützt Hasskampagnen

Im Gegenteil, diese Hasskampagnen wurden sogar aus der Regierung heraus unterstützt. Eine Anzahl von BJP-Mitgliedern des Parlaments und auch Minister äußerten ihre Unterstützung und verbreiteten Hassparolen im Parlament. Trotz Protesten von Intellektuellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren schwieg der Premierminister wie versteinert zu diesen Vorgängen.

Während die Folgen der Hindutva-Ideologie für Minderheiten klar sind, bleiben die Auswirkungen auf Geschlechterfragen komplexer. Wie oben beschrieben, ist das Geschlecht impliziter Teil für die Konstruktion einer Hindu-Nation, die typischerweise im Namen der Ehre Frauen und Mädchen Beschränkungen auferlegt oder von ihnen fordert, mehr Kinder in die Welt zu setzen.

Die Rolle der Frauen im Hindu-Populismus

Interessant ist dabei, dass frauenfeindliche Positionen starke Verurteilungen von Frauen aus allen Gesellschaftsbereichen in Indien hervorrufen, auch innerhalb der BJP. In der BJP gibt es eine Reihe wortgewandter Frauen und Ministerinnen, die sich oft für fortschrittlichere Geschlechterrollen einsetzen. Dennoch bleiben ihre Ansichten in Bezug auf Fragen der Religion und Minderheitenrechte reaktionär und sie unterstützen die Idee einer Hindu-Vorherrschaft.

Gleichzeitig gibt es ebenso viele Frauen, die gegen das Hindutva-Projekt sind. Es gibt auch solche, die sich aktiv an Hindutva-Aktivitäten beteiligen – Vorfälle von Gewaltanwendungen gegen Muslime miteingeschlossen. Der Fall von Sadhvi Pragya Thakur, die für den Malegaon-Terroranschlag im Jahre 2008 angeklagt wurde, ist lediglich der bekannteste von vielen weiteren.

Da es momentan noch an Studien über Gender und den rechten Hindu-Populismus mangelt, können zwar keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden, doch diese Vorfälle werfen Fragen über den Platz von Gender im religiösen Hindu-Extremismus auf und entlarven die gängige Vorstellung, dass politisch aktive Frauen immer für Pazifismus, Gleichheit und Gerechtigkeit stehen.

"Not in My Name" gibt dem Widerstand eine Stimme

Die indische Demokratie steht heute ganz klar am Scheideweg. Auch wenn eine Politik für die Mehrheitsgesellschaft schleichend zunimmt, so trifft sie doch auf Widerstand von Richter/innen des Obersten Gerichtshofes, Journalist/Innen, Schriftsteller/innen, Künstler/innen und weiten Teilen der akademischen Welt sowie progressiven und säkularen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Kampagnen wie „Not in My Name“ geben diesem Widerstand eine Stimme. Die Ablehnung der Regierungspolitik steigt sichtbar an, denn inzwischen gehen auch die Landbevölkerung und Studierende auf die Straße. Für die Parlamentswahlen im Jahr 2019 wird entscheidend sein, ob die unterschiedlichen Anführenden der Oppositionsparteien wirklich im Stande sind, Modis disruptive Politik ernsthaft herauszufordern und eine besser Alternative anzubieten.