70 Jahre Grundgesetz – und die Verfassungsdebatte vor 30 Jahren

Interview

Am 23. Mai wird das Grundgesetz 70. Es gilt weltweit als gelungene Verfassung und als Glücksfall der deutschen Geschichte. 1989 stand eine Ergänzung zur Debatte. Der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuss im Gespräch über Lernkurven und Zumutungen der liberalen Demokratie.

 Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes, die Grundrechte (Ursprungsfassung), am Jakob-Kaiser-Haus in Berlin

Am 23. Mai wird das Grundgesetz 70. Es gilt weltweit als gelungene Verfassung und als Glücksfall der deutschen Geschichte. Das war nicht immer so. Es gab durchaus umkämpfte Zeiten in der Rezeptionsgeschichte des Grundgesetzes. Einen Einschnitt bildete dann die friedliche Revolution in der DDR und Osteuropa 89/ 90, geprägt von Bürgerbewegungen und der Arbeit der Runden Tische - und dem Vorschlag, eine gemeinsame Verfassung zu erarbeiten, um das Beste aus beiden deutschen Erfahrungen zu beerben. So ist es nicht gekommen: Die frei gewählte Volkskammer der DDR hat abgelehnt, so zu verfahren. Die deutsche Wiedervereinigung kam auf Grundlage von Artikel 23 zustande (der ja heute der Europa-Artikel ist), also durch Beitritt des Staatsgebiets der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Und so gibt es zu diesem Datum zweierlei Lernkurven und Erfahrung: 70 Jahre, und darin fast 29 Jahre gesamtdeutsch.

Welche Rolle spielt die Zeit, die Länge von Erfahrungen, für die Beziehung einer Gesellschaft zu ihrer Verfassung?

Das hängt von der Gesellschaft ab. Zum Beispiel hat die Gesellschaft in den USA eine Erfahrung von mehr als 200 Jahren. Deren Verfassung ist tatsächlich so etwas wie eine Bibel - obwohl momentan nicht sehr heilig damit umgegangen wird. Das gegenteilige Beispiel ist Frankreich. Frankreich hat sich nach 1789 praktisch bei jedem größeren Einschnitt eine neue Verfassung gegeben. Also hier ist der Verfassungsglaube nicht sehr ausgeprägt, sondern vielmehr die Idee der Republik.

1989 hatten wir das 40jährige Jubiläum des Grundgesetzes - von 1949 bis 1989 - feiern können, und da hätte es dazu kommen können, eine neue Verfassung für das neue Land zu gewinnen. Darauf kommen wir gleich zurück. Zur Frage der Erfahrung: 2019 weckt ja die Erinnerung an die Weimarer Verfassung, die ein tragisches Schicksal erlitten hat. ie wird gegenüber dem erfolgreichen Modell des Grundgesetzes abgewertet, weil sie gescheitert ist,. Aber zerstört wurde die Verfassung der Weimarer Republik  1933 durch das Dritte Reich.

Während das Grundgesetz jetzt schon 70 Jahre alt ist. Die Dauer hängt nicht so sehr mit dem Charakter der Verfassung zusammen, sondern es hängt von den Umständen ab, in denen die Verfassungen entstanden sind. Die Weimarer Verfassung hatte unter riesigen Hypotheken begonnen, 1919 ist ja auch das Datum der Friedenskonferenz von Paris, und hier wurde in politischer Dummheit leider nicht versucht, den besiegten Feind in die Gemeinschaft der Völker zurückzuholen, wie dies dann nach dem Zweiten Weltkrieg passierte, sondern man hat die neue Republik bestraft als den allein Schuldigen an diesem ersten Weltkrieg und seinen immensen Opfern auf allen Seiten.

Was ich sagen will: Die Rahmenbedingungen, unter denen eine Verfassung entsteht, sind immens wichtig für ihr weiteres Schicksal. Das Grundgesetz ist geboren worden unter der Aufsicht der westlichen Alliierten. Aber diese Alliierten waren dezidiert demokratische Verfassungsstaaten. Das Grundgesetz entstand unter einer Art Schutzglocke, es war gleichsam ein Schirm gespannt über die Möglichkeit, in friedlichen Verhältnissen mit relativ geringen internen Konflikten die Verfassung zu gestalten. Der Einfluss der Alliierten darauf war - außer diesen Rahmenbedingungen, die sie für diesen Prozess zur Verfügung gestellt haben - inhaltlich gar nicht stark.
Das Grundgesetz konnte Stabilität und Ruhe bringen, und in der Nachkriegsentwicklung wurde Deutschland nicht als Außenseiter abgestempelt und bestraft, sondern die Bundesrepublik wurde in den Kreis der westlichen Nationen aufgenommen, konnte so wachsen und Vertrauen aufbauen.

Und diese positive Geschichte wird dann auf das Grundgesetz projiziert. Dieser Erfolg und auch die Hinwendung der Deutschen zum Grundgesetz geschieht also nicht einfach aus dem Text und Geist des Grundgesetzes als solchem, sondern auch aus der Erfahrung. Im Deutschlandfunk läuft gerade eine Serie "Mein Grundgesetz". Jeden Morgen kurz vor halb neun können sich ganz normale Bürger melden und erklären, zu welchem Artikel sie etwas sagen wollen.

Teilweise haben sie ganz falsche Vorstellungen von dem Sinn und der Bedeutung dieses Artikels, aber darum geht es ja nicht. Die Sendung zeigt, dass die Leute diesem Grundgesetz zugewendet und zugeneigt sind. Und das liegt, wie gesagt, gar nicht so sehr unbedingt an einem Text, der auch nicht immer ganz verstanden wird, sondern eben an den Wachstumsbedingungen, unter denen das Grundgesetz ebenso alt geworden ist. Und die waren positiv.

Gilt das in gleicher Weise für die 30 Jahre Rezeption des Grundgesetzes im Gebiet der neuen Bundesländer?

Ich nehme an, dass das nicht ganz so ist. Ich nehme an, dass einige noch fremdeln mit der Art und Weise, wie das Grundgesetz zum Grundgesetz der neuen Bundesländer der vorigen DDR geworden ist, nämlich auf Grundlage des Beitrittsartikels. Aber auch hier würde ich sagen: Das ist vielleicht nur ein Anlass, weil es im Grunde nicht die Verfassung ist, die da mit gewissem Misstrauen und Vorbehalten betrachtet wird, sondern auch hier wieder die Art, wie dieses Grundgesetz Geltung erlangte.

Manchmal hört man, es sei  oktroyiert worden - das ist natürlich nicht wahr, sondern die Leute in der DDR wollten es ganz mehrheitlich so. Ich habe ja bei diesem Prozess auch am Rande mitgewirkt, und ja, ich halte es für überstützt, wie es zustande gekommen ist. Alles stand unter dem Druck aus der DDR-Bevölkerung, nachdem die Mauer gefallen war am 9. November 1989, dann ab Anfang des Jahres 1990 der Druck der Stürmung der Stasi-Zentralen, dann der Spruch "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh´n wir zu ihr". Die Massenflucht und die Androhung der Massenflucht zwang ja im Grunde genommen alle Beteiligten, die Währungsunion bereits zum ersten Juli herbeizuführen.

Das heißt, das Verfahren, der Prozess, ist doch dank dieser Beschleunigung und auch dank vieler - aus meiner Sicht - politischer Fehler, die vor allen Dingen auch im Westen gemacht worden sind, so gelaufen, dass das, womit die Leute heute unzufrieden sind, dann unter Umständen auch projiziert wird auf die ganze Ordnung und auch das Grundgesetz. Wo das Grundgesetz von einigen Menschen in den neuen Bundesländern eher etwas verhalten aufgenommen wird, ist es nicht so, weil das Grundgesetz als solches nicht angemessen zu sein scheint, sondern weil die Bedingungen, unter denen es dort zur Geltung kam, politisch nicht so klug waren wie sie hätten klug sein sollen.

Warum gab es damals eigentlich so wenig Unterstützung für diesen Vorschlag einer Verfassungsdebatte, also so eine Art Grand Debat oder wie immer man sich das vorstellen sollte, im Osten wie im Westen?

Ich will kurz vorab deutlich machen, worum es eigentlich ging. Die Idee war ja ausgegangen von einigen westlichen Menschen im linksliberalen Spektrum, grün und so weiter, und einigen Bürgerrechtlern: Dass mit dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung, die dann am 3. Oktober 1990 stattfand, ja nicht nur die DDR untergegangen ist, sondern eigentlich auch die Bundesrepublik, dass ein neuer gesamtdeutscher Staat entstanden war, für den auch ein gesamtdeutscher Verfassungsprozess stattfinden sollte.

Der Vorschlag war also, nicht einfach eine Verfassung im technischen Sinn zu konstituieren und dann in eine Vertragsform zu bringen, sondern den Prozess der Vereinigung als politischen Prozess zu organisieren, in dem gleichsam wechselseitig die Erfahrungen, die die verschiedenen Teile des Landes in West und Ost gemacht haben, Eingang finden. Das hat wenig Resonanz gefunden.

Das Schicksal des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches ist ja protokollarisch nachlesbar. Der Entwurf wurde in der frisch gewählten Volkskammer eingebracht – damals ging man ja davon aus, dass der Prozess der Vereinigung nicht so schnell gehen würde, auch Kanzler Kohl hatte ja von einer Konföderation oder etwas in der Art gesprochen. Für diesen Prozess brauchte die DDR ja ihrerseits auch eine Grundlage, um auf Augenhöhe mit dem westdeutschen Teilstaat zu verhandeln.

Und das war denn vielen in der Volkskammer einfach zu verdächtig: Eine DDR-Verfassung  könnte unter Umständen der Versuch sein, die DDR doch noch zu erhalten. Richard Schröder hat eine fulminante Rede gehalten in der Volkskammer und sich dagegen ausgesprochen. Dann war klar, wenn die SPD das nicht mitmacht, gibt es keine Mehrheit für sowas wie eine Verfassungsgebung. Das entsprach sicher auch der Einstellung breiter Teile der Bevölkerung der DDR.

Später erarbeitete dann eine gemeinsame Verfassungskommission einige Ergänzungen und betonte im Bericht für den gesamtdeutschen Bundestag, dass kein Legitimationsdefizit durch ein fehlendes Plebiszit entstünde. Was meinen Sie dazu?

Die Staatsrechtslehrer waren der Auffassung, dass das Grundgesetz eine eindeutige demokratische Legitimation habe. 1949 hat es ja auch keine unmittelbare Volksbeteiligung gegeben, aber man hat gesagt, dieser Mangel ist durch die praktische Akzeptanz durch die Bevölkerung geheilt worden, mit Wahlbeteiligungen von 80 und mehr Prozent als einem wiederkehrenden Plebiszit für das Grundgesetz.

Das gilt auch für den ostdeutschen Beitritt, auch hier gilt das Grundgesetz ohne Legitimationsmakel, weil die DDR es ja gewollt und beschlossen hat. Die DDR hat nach demokratischen Wahlen in der Volkskammer den Beitrittsvertrag verabschiedet. Jede Hälfte des Landes konnte erkennen, was sie am Grundgesetz hat, deswegen hat sich das Grundgesetz gleichsam als eine gemeinsame Formel vorgestellt.

Das Problem sehe ich eher darin, dass die Juristen ein wirklich politisches Problem nicht vorhergesehen haben, nämlich dass irgendwann, wenn erwartbar auch Enttäuschung ausbricht, dann eine Basis fehlt für das Zusammenwachsen. Das war ja der Grund, warum wir dann 1990 dieses „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ gegründet haben. Es waren Intellektuelle aus Ost und West, keine Volksbewegung. Und es hat auch keine Resonanz gefunden.

Unser Argument war: Wir müssen die Gemeinschaftsbildung, den Prozess der Herstellung einer Gemeinschaft als Ganze sehen. Es würde gar nicht so große Differenzen geben, denn auch die Verfassung des Runden Tisches hat ja viele Teile vom Grundgesetz übernommen. Wichtig gewesen wäre der Prozess der Bildung eines gemeinschaftlichen nationalen Willens. Der bedeutet hätte, dass beide Seiten gleichen Respekt füreinander und für ihre Erfahrungen, für ihre Fehler, Hoffnungen, Enttäuschung haben würden, weil sie sich auf gleicher Ebene befänden und sagen: Ja, und auf diese Historie aus den Trümmern und auch wunderbaren Denkmälern der vergangenen Geschichte bauen wir ein neues Haus.

Das ist unterblieben, Ich finde, das macht sich auch heute wieder bemerkbar. Das ist, glaube ich, ein Geburtsmakel. Bis er sich abgegriffen haben wird, wird es vielleicht noch einmal 30 Jahre dauern. Immerhin ist ja bis heute schon eine ganze gesamtdeutsche Generation seitdem groß geworden.

Zum Verfassungsentwurf des Runden Tisches selber hatten Sie, Herr Preuß, Ende April 1990 in der FAZ geschrieben: „Die politischen Eliten der Bundesrepublik brauchen sich nicht zu ängstigen. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches versteht sich nicht als Alternative zum Grundgesetz, sondern als eine problembewusste Fortschreibung“, und dann erklären Sie den Unterschied: Das „durchgängige Charakteristikum“ der Verfassung des Runden Tisches „dürfte wohl darin liegen, dass sie konsequenter als das Grundgesetz nicht nur als Staats-, sondern als Gesellschaftsverfassung konzipiert ist.“ Können Sie das bitte erläutern?

Das bezieht sich auf den Streit der zwei Strömungen unter Verfassungstheoretikern, aber auch Politikwissenschaftlern und Analytikern der politischen Kultur. Die Etatisten gingen davon aus, dass Demokratie eine Form der Staatsverfassung sei, also eine Frage der Organisation des Staates. Sie sehen eine Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft: Die Gesellschaft ist frei und spontan und weitgehend unreguliert, der Staat ist gleichsam der Inbegriff der Regelhaftigkeit und der Organisation des Volkswillens nach Verfahren, Organen, Aktionsformen und so weiter. Die Gesellschaft ist auf Spontanität und freie Entfaltung gegründet, und der Staat greift nur ein gemäß der alten Kant’schen Idee „Wo die Freiheit der anderen beginnt, ist die Grenze der Freiheit“. Diese Grenzziehung ist die Aufgabe des Staates, mehr nicht.

Und dann gibt es die Gesellschaftstheoretiker unter den Verfassungsrechtlern. Sie sagen: Die Verfassung soll auch und muss auch die gesamte Gesellschaft in ihrem Funktionieren erfassen. Sie ist auch bestimmten sozialen Idealen verpflichtet. Denn Gesellschaften, die vollkommen und nur auf das Prinzip der Freiheit setzen, geben damit den Weg frei, dass sich die Stärkeren durchsetzen, dass oligarchische Strukturen sich durchsetzen und die Schwächeren der Gesellschaft abhängig werden. Um das zu vermeiden, muss das, was im staatlichen Sektor selbstverständlich ist, auch für die Gesellschaft geregelt werden: Die Verfassung muss die Schwächeren vor Ausbeutung, Diskriminierung und Ausschließung schützen, die Möglichkeit der Regulierung der inneren Ordnung und des Status politisch relevanter Verbände vorsehen, um zu verhindern, dass sich in der Gesellschaft Oligarchien bilden. Alle haben die gleichen Rechte, es gibt von der Konstruktion her keine Abhängigkeiten.

Für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches, an dem ja maßgeblich Wolfgang Ullmann mitgeschrieben hat, waren zuerst einmal die vielen ganz klassischen Freiheitsrechte zentral, die Rechte, die den Individuen ja auch nach dem Grundgesetz zustehen und die eine Sehnsucht waren, weil sie so ja in der DDR nicht existiert haben, also die Freiheiten der Religion, der Meinung und der Presse, der Versammlung, aber auch der Berufswahl etc..

Aber wir haben eben auch einen großen Teil von sogenannten sozialen Rechten aufgenommen, das sind Rechtspositionen, die nicht einfach nur durch Unterlassung des Staates, durch Zurückdrängen staatlicher Herrschaft aus dem privaten Raum entstehen, sondern durch aktives sozialstaatliches Handeln erfüllt werden.

Das Recht auf Arbeit ist hier so ein Modellfall, an dem wir lange gearbeitet haben. Wir sagen: Natürlich kann der Staat nicht jedem einen Arbeitsplatz bereitstellen. Ein Arbeitsplatz kann nicht garantiert werden, aber ein Recht auf Arbeit kann eine Verfassung durchaus verankern. Wir haben dazu eine Verfahrensordnung vorgestellt: Der Staat muss das Ziel der Vollbeschäftigung mit seiner Wirtschaftspolitik verfolgen. Wenn er Marktregulierung betreibt, dann muss der Aspekt, dass damit Arbeit geschaffen werden muss, eine genauso wichtige Rolle spielen wie der, dass das Kapital sich entfalten kann. Oder auch die Umwelt: Es reicht nicht zu sagen „Eine gesunde Umwelt ist ein Staatsziel. Punkt“ und nicht dafür zu sorgen, dass das umgesetzt werden kann durch praktische Schritte, die verfassungsrechtlich in der Grundlinie festgelegt sind – zum Beispiel, dass Umweltdaten erhoben werden müssen, dass Daten vorliegen müssen, das Bürgerinnen und Bürger einen Auskunftsanspruch haben über die Umweltverhältnisse in ihrer Umgebung. Das sind kleine Schritte, fast Verwaltungsrecht. Aber es sind alles Formen der Gesellschaftsgestaltung, was heißt, dass die Verfassung eben auch die Verfassung des realen Lebens darstellt.

Was erben wir von diesem Verfassungsaufbruch von 1989/90?

Es gibt da im ersten Artikel  eine  charakteristische Idee und Formulierung, die Präambel stammt bekanntlich von Christa Wolf -: Anstelle der „allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz“ haben wir geschrieben „Jeder Mensch schuldet dem anderen die Anerkennung als Gleicher.“ Die Anerkennung des Anderen als Gleicher, dieses Moment der Anerkennung und des wechselseitigen Respekts - ich glaube, das ist das, worin sich  das neue Verfassungsdenken ausdrückte. Wir haben es nicht erfunden, es geht auf Traditionen zurück, aber das ist, was fortwirkt und neue Aktualität gewinnt. Es ist ja nicht zufällig, dass heute die Idee des Respekts wieder eine große Rolle spielt, lange Zeit stand die Freiheit an erster Stelle der Werteskala. Dass die Sozialdemokratie jetzt eine „Respektrente“ fordert (auch wenn man darüber sicherlich streiten kann). Die Aktualität von Respekt sehen wir auch darin, dass das Bewusstsein stärker wird, dass Hass ein Verbrechen sein kann, das sogenannte Hassverbrechen.

Die „Anerkennung als Gleiche“ ist nochmal etwas anderes als die Gleichbehandlung, die Anerkennung von Differenz, das Verbot der Diskriminierung. Es geht darum, dass der Mensch als Person wechselseitig anerkannt werden muss, in seiner Subjektivität und Andersartigkeit, „als solcher“. Das ist ja auch mit dem Begriff der Würde im Grundgesetz gemeint. Ich glaube, das ist ein Gedanke, auf den es ankommt, der wichtig ist und der strukturiert.

Wenn jemand sagt, dass es ein Verstoß gegen diese Anerkennung als Gleicher ist, wenn ein Boss von einer großen Firma das 50 fache eines Arbeiters verdient, geht es eher darum, diese extreme Ungleichheit auf den Punkt zu bringen. Ungleichheit prinzipiell ist noch nicht auf die Frage von „Anerkennung als Gleiche“ bezogen worden, und vielleicht ist das auch richtig so. Letztens sagte jemand, dass er sich geschämt habe, als er einem Bettler etwas in seinen Becher legte, aber ihn nicht angeguckt hat. Und das werden Sie häufig finden - „Die sind bedürftig, dann müssen wir was geben - aber sie sind doch irgendwie anders, und deswegen gucke ich sie nicht als meinesgleichen in die Augen.“ Das ist ein kleines Beispiel, um zu zeigen was ich meine: Die sozioökonomische Frage ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Umverteilung. Und das andere, die Anerkennung als Gleiche, ist doch noch etwas Elementareres.

Was würde uns Wolfgang Ullmann, der große Demokratielehrer, heute auf den Weg geben? Bündnis 90/ Die Grünen diskutieren aktuell ein neues Grundsatzprogramm, darin wird auch betont, dass wir einen lebendigen Parlamentarismus brauchen, der ergänzt wird durch eine Kultur von Bürgerbeteiligung. Ist das die Richtung, in die Wolfgang Ullmann die Demokratie entwickeln wollte – auch europäisch?

Ja, ich glaube schon, dass Ullmann in diese Richtung gedacht hat, und das war ja auch damals die Perspektive. Und auch die Grundrechtecharta der Europäischen Union steht in dieser Tradition.

Ich bin nur nicht sicher, ob das heute ausreicht. Was mich wirklich umtreibt, ist die Tatsache, dass in den liberalen Demokratien selbst ein solches Missbehagen fühlbar ist. Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei - all diese Länder, die 40 Jahre realen Sozialismus erlebt und erlitten haben, weisen jetzt so eine gewisse Tendenz zu autoritären Formen des Regierens auf. Es macht sich dort eine gewisse Enttäuschung breit, allerdings sehen wir das auch in Amerika, Italien und England. Was sie sich mit dem Brexit eingebrockt haben, ist ja auch ein Versagen der liberalen Demokratie.

Und ich kann mir noch nicht erklären, wie es kommt. Es gibt ja verschiedene Antworten darauf - die Ungleichheit, der Kapitalismus, der Neoliberalismus. Das überzeugt mich alles nicht hundertprozentig. Wir haben auch nicht wie in Weimar eine ökonomische Krise, die dann dazu führt, dass die Leute Nazis gewählt haben.  - obwohl heute auch Wähler von links nach rechts wandern. Es ist wichtig zu lernen, wie sich die Demokratie, vom Nationalstaat kommend, mehr öffnen muss, wie diese Idee von Europa gestärkt werden muss.

Es ist ja kein Zufall, dass die Rechten Anti-Europäer sind. Sie sind für den Nationalstaat, weil es das ist, was sie kennen und von dem sie glauben, dass sie in dem Rahmen Sicherheit organisieren können - physische Sicherheit, soziale Sicherheit, emotionale Sicherheit - was alles nicht stimmt. Und die Frage ist: Wie verhält sich dazu die liberale Demokratie – die tatsächlich selbst soziale Sicherheit nicht anbieten konnte, wir haben ja die Finanzkrise gehabt, und wir haben die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust angesichts der Geschwindigkeit der Veränderungen. Sie ist nie zu beruhigen.

Wir müssen sehr darüber nachdenken, wie es kommt, dass die liberale Demokratie aus sich selbst heraus so viel Feindschaft auslöst. Wo entspricht die liberale Demokratie doch nicht den Bedürfnissen der Menschen, wo geht sie an Bedürfnissen der Menschen vorbei?

Ich habe das Gefühl, dass die Leute denken, es entgleitet ihnen im Grunde genommen ihr Alltag, durch die schnelle Entwicklung und Veränderung der physischen, der sozialen oder auch der kulturellen Umwelt. Da ist ja die große Anzahl von Touristen z.B. in Kreuzberg ein harmloses Beispiel für Entfremdung und gefühlte soziale Heimatlosigkeit. Das ist etwas, was man nicht ohne weiteres beherrschen kann, auch nicht mit Schlagworten wie „taking back control“. Da ist was dran, dass die Leute das Gefühl haben, es verändert sich zu schnell und zu viel um sie herum, was sie dann nicht mehr verstehen. Das betrifft natürlich in erster Linie alte Leute meiner Generation, die jedes Mal ein bisschen fremdeln, wenn da wieder irgendein neues Gebäude das Stadtbild und den Kiez verändert – aber eben auch jüngere.

Ich verstehe mich als jemand, der sich vor eine Versammlung hinstellt und für die liberale Ordnung wirbt: Leute, lasst euch nicht für dumm verkaufen, sondern bedenkt doch mal, welche Möglichkeiten eine liberale Demokratie euch bietet, wie ihr euch beteiligen könnt. Vergleicht das doch mal mit Ländern, wo es ständig Verbote gibt, für Verbände und Vereinigungen, und kritisch Denkende werden eingesperrt. Also ich beschreibe die Vorteile einer liberaldemokratischen Ordnung. Und dann weiß ich, das ist noch nicht das Ganze.

Vielleicht ist das die einzige fragwürdige Tugend eines solchen Systems: die immense Herausforderung durch ständige Offenheit. Sie birgt so viele Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch viele Risiken. Und diese Offenheit ist auch schwer zu ertragen.

Vielen Dank für das Gespräch.