„Ich nahm mir vor, eine volle Gegenstimme zu produzieren“

Volker Liskowsky wurde im Herbst 1989 Zeuge, wie Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen die DDR und seinen Heimatort Reichenbach durchquerten. Während es zunächst friedlich blieb, eskalierte die Situation am 4. Oktober 1989.

Mein Zeitzeugenbericht soll im Jahr 1988 beginnen. Meine Frau hatte im Westen Deutschlands zwei Cousins, die in den Jahren 1916 und 1917 geboren wurden, so dass meine Frau ab 1986 berechtigt war, anlässlich der Geburtstage ihrer Cousins einen Antrag auf eine Besuchsreise zu stellen, der auch immer genehmigt wurde. Im Dezember 1987 wurden unsere Zwillinge geboren, meine Frau konnte aus diesem Grund nicht reisen. Dafür stellte ich im Sommer 1988 einen Antrag, meine Tanten in Bielefeld, die Zwillinge waren, zu ihrem 68. Geburtstag besuchen zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt. Ich verlangte, den Leiter des Volkspolizeikreisamtes Reichenbach zu sprechen, einen Oberstleutnant. Ich bekam tatsächlich einen Termin.

Auf meine unmittelbare Frage, warum mir eine Besuchsreise nach Westdeutschland verwehrt wird, antwortete er, dass er nicht verpflichtet sei, mir das zu sagen. Ich erwiderte, dass es nur zwei Gründe geben könne, entweder fehlendes Vertrauen in meine Rückkehr oder eben Schikane. Er antwortete, schikaniert wird bei uns kein Bürger, worauf ich meinte, es könne also nur fehlendes Vertrauen sein. Ich hielt ihm vor, ob er mir zutraue, meine Frau mit sieben Kindern einfach im Stich zu lassen. Das verneinte er auch. Nach etwa 20 Minuten Reden und Gegenreden gab er mir den Tipp, einfach noch einmal eine Besuchsreise zu beantragen. Diese Gelegenheit nahm ich wahr und stellte unmittelbar den Antrag, die Cousins meiner Frau besuchen zu dürfen. Diese Reise wurde genehmigt. So fuhr ich im September 1988 erstmals seit 32 Jahren wieder in den Westen. Den Cousins meiner Frau begegnete ich nicht.

Ergebnis der Reise war, dass meine Frau und ich beschlossen, einen Ausreiseantrag zu stellen, aber erst nach Abklingen meiner überwältigenden Eindrücke. Wir legten als Termin der Abgabe des Antrages den Mai 1989 fest. Im April 1989 meldeten die westlichen Medien, dass Ungarn mit dem Abriss der Grenzsicherungsanlagen beginnen wird. Für mich war sofort klar, dass damit das Ende des sozialistischen Systems und vor allem das Ende der DDR eingeleitet wird. Wir strichen den Gedanken an eine Abgabe des Ausreiseantrages und beobachteten voller Erwartungen die Ereignisse in der DDR.

Wir waren auch etwas aktiv, denn meine Frau verweigerte für die am 7. Mai 1989 anstehende Kommunalwahl die Annahme der Wahlbenachrichtigungskarte, so dass sie als Nichtwählerin registriert werden musste. Ich nahm die Karte an und nahm mir vor, eine volle Gegenstimme zu produzieren. Als ich 3 Minuten vor 18:00 Uhr, also drei Minuten vor Schließung des Wahllokals, mit meinen fünf größeren Kindern dieses betrat, wurde ich freudig von meiner ehemaligen Schuldirektorin und zwei mir bekannten eigentlich sympathischen Bürgern begrüßt. Sie herzten die Kinder und gaben mir den Wahlzettel, den ich einfach in die nebenstehende Urne stecken sollte. Ich ging aber in die fernab stehende Wahlkabine und strich mit einem dort bereitliegenden Buntstift jeden Kandidaten auf dem Wahlzettel einzeln durch. Da die Schreibplatte auch noch mit einem Tuch überzogen war, musste ich stark aufdrücken, so dass der Stift abbrach. Ich erledigte den Rest mit einem Kuli. Als ich die Wahlkabine verließ, bemerkte ich, dass ich von einem Stasi-Offizier beobachtet wurde, der etwa fünf Meter entfernt hinter geschickt aufgestellten Propagandatafeln stand. Weil dieser Offizier in einem Neubaublock Tür an Tür neben meiner Mutter wohnte, war mir bekannt, dass er bei der Stasi arbeitete.

Volker Liskowsky

Prof. Dr. Volker Liskowsky, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen aus Reichenbach im Vogtland, langjähriger Stadt- und Kreisrat. Der Kontakt zu den Freundinnen und Freunden der Heinrich-Böll-Stiftung und die Teilnahme an „Zeigt her Eure Erinnerungen“ kam durch seine Tochter zustande, die frühere Studienstipendiatin und seit vielen Jahren Mitglied der Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung ist.


Bahnsteig der Freiheit

Die Ergebnisse der Wahl sind bekannt, unsere Abneigung gegen den Staat wuchs. Als im Juli unsere Kinder im Garten gegen die Kinder eines westdeutschen Bekannten Fußball spielten, meinte ich, das Rückspiel findet im nächsten Sommer in Reutlingen statt. Wir warteten also sehnlichst auf die Ereignisse, von denen wir den Untergang der DDR erwarteten. Wir erlebten die Demonstration von Bürgerrechtlern während des Evangelischen Kirchentages in Leipzig. Auch in Reichenbach regte sich etwas: Der katholische Pfarrer hing kritische Beiträge, verbunden mit kleinen Karikaturen in seinen an der Mauer der katholischen Kirche befestigten Schaukasten.

Die Ereignisse des Septembers 1989 sind bekannt. Als nach den berühmten Worten von Außenminister Genscher in der Deutschen Botschaft in Prag bekannt wurde, dass die Botschaftsflüchtlinge mit Zügen über die DDR in den Westen reisen müssen, waren meiner Frau und mir sofort klar, dass diese Züge über Reichenbach fahren und hier womöglich halten werden, weil in Reichenbach die elektrische Strecke endete und hier üblicherweise die Loks gewechselt wurden. Wir gingen davon aus, dass die ersten Züge so zwischen 1:00 und 2:00 Uhr in Reichenbach eintreffen könnten und begaben uns deshalb etwa um 1:30 des 1. Oktober auf den Bahnhof, genauer auf den Oberen Bahnhof in Reichenbach im Vogtland.

Wir stellten unseren Wartburg gegenüber dem Taxiplatz ab und begaben uns auf den Bahnsteig, der noch frei zugänglich war. Neben uns stand ein Pkw, aus dem ein Elternpaar mit einem Jungen im Alter von 5 bis 6 Jahren stieg. Auch diese Familie sah sich auf dem Bahnhof um. Als meine Frau und ich noch auf dem Bahnsteig standen, kam eine Gruppe von drei oder vier Männern in Zivil. Zweifelsfrei war zu erkennen, dass diese Leute in einer besonderen Funktion auf dem Bahnhof tätig sein wollten. Einer von ihnen hatte Ähnlichkeit mit Schabowski, dessen Gesicht mir damals bekannt war. Als wir aus dem Bahnhofsgebäude traten, kam ein B1000-Bus an, dem etwa 5 bis 6 Stasi-Leute entstiegen. Einen davon kannte ich, einen Major, aufgewachsen in unserem gemeinsamen Heimatdorf Friesen. Die Stasi-Leute wurden von lauten Rufen der Taxi-Fahrer empfangen, die sie offen als Stasi bezeichneten. Meine Frau und ich setzen uns in unseren Pkw und unterhielten uns bei heruntergelassenen Scheiben, weil wir alles mitbekommen wollten, was auf dem Bahnhof geschah. Neben uns saßen im Auto die Eltern mit dem Kind. Als nichts mehr auf dem Bahnhof geschah und die Züge offensichtlich noch nicht kamen, fuhren wir nach Hause.

Am Sonntag, dem 1. Oktober, gingen wir mit unseren sieben Kindern in die Kirche. Unmittelbar danach begab ich mich mit den fünf großen Kindern im Alter von 5 bis 15 Jahren auf den Bahnhof. Wir waren so gegen 11:00 Uhr dort. Die Bahnhofshalle war abgesperrt, so dass wir nur auf dem Vorplatz unmittelbar bei den Taxis am Eisengitterzaun stehen konnten. Vor uns war ein Bahnsteig, dahinter befanden sich zwei Gleise, auf einem stand ein Güterzug, das andere war frei. Hinter dem zweiten Bahnsteig stand ein Zug mit Botschaftsflüchtlingen. Durch die Lücken zwischen den Waggons war zu erkennen, dass aus den Fenstern Flüchtlinge lehnten, die z.B. riefen, dass man sie endlich freilassen sollte. Zu sehen war, dass Geldscheine auf den Bahnsteig rieselten.

Auf den Bahnsteigen standen Polizisten und Leute in Zivil. Zu meinem Erstaunen erkannte ich in einem Zivilisten den Familienvater wieder, der in der Nacht mit Frau und Kind im benachbarten Auto saß, das Kind also als Tarnung. Die Leute am Zaun verhielten sich ruhig, mir ist nicht in Erinnerung, dass hin- und hergerufen wurde. Nach kurzer Zeit wurde auf das freie Gleis ein weiterer Güterzug gestellt, so dass die Sicht auf den Flüchtlingszug versperrt war. Ich begab mich sofort mit meinen Kindern auf die Brücke nach Obermylau, auf der wir den Flüchtlingszug mit anderen Menschen erwarteten. Der Zug kam dann auch. Ich kann das Bild nicht vergessen: Aus jedem Fenster ragten zu beiden Seiten zwei oder drei Köpfe, die Menschen johlten laut. Am letzten Fenster hielt ein Flüchtling eine Deutschlandfahne heraus. Der Zug passierte die Brücke, das Johlen wurde leiser und verstummte dann endlich. Wir Passanten auf der Brücke sahen uns stumm an, manche umarmten sich. Ich drückte einer Frau die Hand, die Gattin eines bekannten Kinderarztes. Ich glaube, ich habe sie auch umarmt. Wir fuhren dann betroffen nach Hause. Das war das eigentliche Schlüsselerlebnis.

Ob unmittelbar nach diesem ersten Zug weitere Züge in Reichenbach hielten, ist mir nicht bekannt. Auf alle Fälle sickerte durch, dass am Mittwoch, dem 4. Oktober 1989, wieder ein Zug in Reichenbach halten solle. Meine Erlebnisse am Bahnhof beim Aufenthalt dieses Zuges beschrieb ich in einem am 29.10.1989 angefertigten Erlebnisbericht, den ich unmittelbar meiner Kirchgemeinde zur Veröffentlichung übergab:

Meine Erlebnisse am 4. Oktober in Reichenbach

Als wir am 4. Oktober 1989 zwischen 21.00 und 21.15 Uhr aus dem Konzert kamen, fuhren wir am Bahnhof vorbei, um zu sehen, ob vielleicht ein Prager Zug auf dem Bahnsteig stehe. Aber außer etwa 50 Neugierigen auf dem Bahnhofsvorplatz war nichts zu sehen. Auf unsere Frage hin sagten uns zwei Frauen, dass noch kein Zug durch sei. Wir fuhren nach Hause. Gegen 22.15 Uhr hielt uns die Neugier nicht mehr, und wir fuhren abermals zum Bahnhof. Unter der Brücke zur Auffahrt zum Bahnhof stand eine Polizeikette, davor eine Menschenmenge aus etwa 100 Personen. Wir wollten das Fahrzeug auf den Durchgang zur Fedor-Flinzer-Straße parken, was uns ein Polizist verbot. Wir parkten es dann vor dem Parkplatz der Textilfachschule.

Wir gingen zu der Menschenmenge vor der Polizeikette, immer noch in der Meinung, dass wir wie am Sonntag auf den Bahnhofsvorplatz kämen. Gerade als wir uns in die Menge mischten, rannte ein Mann in weißer Jacke mit blutüberströmtem Unterarm weg, offensichtlich die Folge eines Hundebisses. Die Polizeikette bestand aus 8 bis 10 Polizisten. Von uns aus ganz rechts stand ein Polizist mit einem Polizeihund, der keinen Maulkorb trug und ständig ohne Reizung gegen die Menge sprang, vom Hundeführer aber zurückgehalten wurde. Wir trafen die beiden Frauen wieder, die uns sagten, dass sie wie Vieh vom Bahnhofsvorplatz getrieben wurden. Viele Passanten versuchten absolut friedlich mit den Polizisten zu reden. Diese hatten aber offenbar den Befehl, keinen Dialog einzugehen, so dass sie auf keine einzige Frage reagierten. Fragen waren u.a.: Warum eine so dichte Kette? Warum haben sie alle einen Schlagstock in der Hand? Warum Polizeihunde gegen friedliche Menschen?

Ein Passant wollte unbedingt zum Bahnhof, weil er nach Plauen müsse, um an seine Diabetesspritzen zu kommen. Er zeigte einen Ausweis, wurde aber nicht durchgelassen. Ein Bürger versuchte, einen Sprechchor anzustimmen. Es wurde dann auch zögernd fünf- bis siebenmal „Wir bleiben hier“ gerufen. Weitere Bemühungen mit gleichem Text blieben ohne Erfolg, da die Passanten angesichts der drohenden Haltung der Polizisten keine Lust zum Rufen hatten. Ziemlich plötzlich verdichtete sich die Kette auf drei Reihen, und ohne vernehmbares Zeichen marschierte diese schnell gegen die Passanten. Ich stand etwa zwei Meter vor der Kette, rannte wie alle anderen Bürger sofort los. Meine Angehörigen (Frau und zwei Söhne) waren nicht bei mir. Ich hörte Knüppelschläge. Die Kette ging etwa 30 Meter vor, wir wurden in die Moritz-Löscher-Straße getrieben. Ich suchte meine Angehörigen, die ich dann auch erleichtert fand. Eine Frau suchte ihren Mann, der aber offensichtlich verhaftet wurde. Passanten sagten, es wäre der Rufer. Etwa 20 Minuten später fuhren wir nach Hause. Kurz vorher wurde das Auto von Dr. S. gestoppt, der aber nach heftigen Protest durchgelassen wurde.

Gegen 24.00 Uhr ging ich nochmals zum Schauplatz. Da stand die Polizeikette noch, die Menschenmenge hatte sich aufgelöst. Ich ging noch zum Tunnel Fedor-Flinzer-Straße. Dort diskutierte ein Passant, der zum Bahnhof wollte, weil er in Reichenbach keine Übernachtung fände, mit einem Bahnpolizisten. Da kam plötzlich von hinten ein anderer Bahnpolizist und holte mit dem Schlagstock zum Schlag aus, worauf der Passant wegrannte. Nun ging ich endgültig nach Hause.

Ich möchte hinzufügen, dass mich die geschilderten Vorgänge zutiefst erschüttert haben, da ich eine solche Gewalt noch nie erlebt hatte und auch nicht für möglich hielt.