Als führende Messestädte in Ost und West hatten Leipzig und Hannover traditionell gute Beziehungen. Als 1989 nach willkürlichen Verhaftungen ein Hilferuf von Umweltaktivist/innen aus Leipzig den Hannoveraner Rat erreichte, wurde nicht gezögert und Solidaritätsaktionen gestartet. So erlebten einige Hannoveraner/innen den Mauerfall bei den "Ökolöwen" in Leipzig.

Im Jahr 1989 waren die Grünen aus Hannover noch sehr stark der eigenen Gründungsidee verhaftet. Als Grün-Alternative-Bürgerliste, kurz GABL, war man stolz auf die regionale Eigenständigkeit und die Wurzeln aus einem breiten Spektrum von Bürgerinitiativen und versuchte sich nach den Kommunalwahlerfolgen der vorhergehenden Jahre an ersten losen Haushaltsabsprachen mit der bis dahin seit Jahrzehnten dominierenden SPD im Rathaus.
In der Geschäftsstelle der damaligen GABL-Ratsfraktion kam im Sommer `89 unerwartet ein telefonischer Notruf von einem Mitarbeiter aus dem evangelischen Tagungszentrum Kloster Loccum. Ein Mitarbeiter dort hatte direkte Kontakte zu einer christlichen Umweltgruppe in Leipzig und war dadurch über willkürliche Verhaftungen von Umweltaktivisten in Leipzig informiert worden. Er bat die GABL um Unterstützung, denn Hannover und Leipzig pflegten als führende Messestädte in ihrem jeweiligen Teil Deutschlands schon seit einigen Jahren eine Städtepartnerschaft über den eisernen Vorhang hinweg.
Die Fraktionsmitarbeiterin Silvia Hesse, damals zuständig für die Umwelt- und Baupolitik der Ratsfraktion, startete daraufhin eine spontane Unterschriftenaktion und setzte sich sofort mit den zuständigen Stellen in Ost und West in Verbindung, um Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Inhaftierten zu lenken. Die vielfältigen sonst eher anonymen Berichte des Sommers `89 über die steigende Unruhe und Kritik der DDR-Bevölkerung an den Unzulänglichkeiten ihres Staates bekamen plötzlich in Hannover einen sehr konkreten persönlichen Bezug. Der Oberbürgermeister und führende Kirchenvertreter der Stadt meldeten sich bei ihren Kollegen in der DDR und hakten nach. Am 28. November 1989 verurteilen Vertreter aller Ratsfraktionen im Rahmen einer Aktuellen Stunde die Verhaftungen und Unterdrückungsmaßnahmen gegen Oppositionelle in der Partnerstadt Leipzig.
Silvia Hesse hatte inzwischen zusammen mit Initiativen, Gewerkschaften und Kirchenvertretern einige tausend Unterstützungs-Unterschriften für die Inhaftierten gesammelt, die dem damaligen Leipziger OB Seidel bei einem Besuch in Hannover von der GABL-Ratsfraktion übergeben wurden. Von der GABL brach nach dem damals langwierigen Prozess für einen DDR-Besuch (Visa-Antrag) Anfang November eine kleine Gruppe nach Leipzig auf, um vor Ort Solidarität zu zeigen.
Eine Gesellschaft im Umbruch
Silvia Hesse und ihre Mitstreiter trafen auf eine Gesellschaft im Umbruch. Die kirchliche Umweltgruppe, bald danach umbenannt in „Ökolöwen“, stand dabei im Zentrum und freute sich sehr über den Besuch aus der Partnerstadt. Die Montagsdemonstrationen waren gerade dabei, zur Volksbewegung zu werden, und die Staatsmacht begann bereits merklich zu wackeln. Die Gefangenen waren inzwischen wieder frei, aber den Besucher/innen aus dem Westen wurden Listen einer noch größeren Zahl von Aktivist/innen gezeigt, auf denen klare Vorgaben zur Festsetzung im Bedarfsfall hervorgingen. Die Lage erschien sehr zugespitzt mit unklarem Ausgang.
Noch während des Besuches in Leipzig kam die Nachricht von der Maueröffnung in Berlin, und es war ein sprunghaftes Anwachsen der Demonstrationen zu verzeichnen. Die ursprünglichen Initiatoren fühlten sich zunehmend an den Rand gedrängt, aber noch überwog die Erleichterung über die friedliche Fortentwicklung.
Als Silvia Hesse nach gut einer Woche erschöpft, aber optimistisch spät abends wieder in ihrem Zuhause in Hannover ankam, wurde sie zuerst von der Familie unter die Dusche geschickt. Nicht nur die ganze Kleidung, auch die Haut roch penetrant nach DDR. Trabbi-Abgase und Braunkohledunst hatten sich in jeder einzelnen Pore festgesetzt. Die deutsch-deutschen Unterschiede sollten sich auch in den folgenden Begegnungen noch an überraschenden Details immer wieder deutlich zeigen.
Am 11. November 1989 nutzten schon etwa 10.000 DDR-Bürger/innen das erste Wochenende nach der Öffnung der Grenzen zu einem Besuch in Hannover. Am 19. November 1989 waren es 50.000, etliche davon auch aus Leipzig. Da kam auch der erste Besuch aus Leipzig bei Silvia Hesse zuhause an, vier Personen im Trabbi gut sieben Stunden unterwegs, standen mit Hausschuhen in der Hand vor der Wohnungstür. Eine freundliche Geste gegenüber den Gastgebern, die damals noch weitgehend unbekannt war in unseren Kreisen. Es war der Beginn eines lebhaften Austausches und von Freundschaften.
Schon am 16. Dezember 1989 kam es zu einem großen Begegnungstreffen in Hannover mit 8.000 Leipziger/innen. 2.000 davon fuhren mit zwei Sonderzügen, von der Stadtverwaltung eingeladen. Sie verbrachten das Wochenende mit ihren meist privaten Gastgebern in Hannover. Die GABL konnte aus dieser großen Gruppe etwa 200 Ökolöwen und deren Familien in Hannover begrüßen. Im Kulturzentrum Pavillon wurde ein regelrechtes Programm mit themenbezogenen Stadtbesichtigungen und regem Informationsaustausch organisiert. In Workshops zu Themen wie Verkehr, Wohnen und Umwelt stellten die Hannoveraner Ihren Stand der politischen Auseinandersetzung vor. Für die Kinder der Ökolöwen gab es parallel ein eigenes Kinderprogramm.
Als Gegeneinladung fanden auch Fachveranstaltungen in Leipzig für Hannoveraner statt. Besonders unverständlich war für uns Westler z.B. bei einem großen Stadtentwicklungsworkshop, zu dem die Leipziger Ökolöwen die freie Architektenszene aus Hannover eingeladen hatte, deren Skepsis gegen den von uns favorisierten Genossenschaftsgedanken für die Rettung der oft leerstehenden, verfallenden Bausubstanz und die Sicherung bezahlbarer Mieten. Was für uns im Westen eine gerade wiederentdeckte Vergemeinschaftung von Wohneigentum mit sozialem Schwerpunkt war, klang für die Leipziger Freunde allzu sehr nach dem gerade überwunden geglaubten staatlich verordneten Sozialismus.
Oft wohnten die Umweltaktivist/innen aus Leipzig dort völlig selbstverständlich und unbehelligt in besetzten, leerstehenden Häusern mit unklaren Eigentumsverhältnissen. Das ging noch etliche Jahre so, bis nach und nach die Besitzstandsklärung zur Übernahme und Sanierung durch solvente Investoren, meist Westler oder deren Beteiligungsgesellschaften mit Steuerabschreibungsmodell führte. Der Leipziger Altbaubestand erscheint heute in großen Gebieten umfassender saniert als in Hannover, nur gehört er den Leipzigern nur selten…
Beide Stadtverwaltungen ließen um die Jahreswende eine 13 Punkte umfassende Erklärung veröffentlichen, die u. a. Hilfen für das Leipziger Gesundheitswesen und die Müllabfuhr vorsah. Hannover eröffnete auch ein Kontaktbüro in Leipzig.
Was bleibt
Noch im Januar 1990 wurde der ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig, Bernd Seidel, in Untersuchungshaft genommen. Gegen ihn wurde wegen des Verdachts auf Fälschung der Ergebnisse bei der letzten Kommunalwahl in der DDR ermittelt. Am 6. Mai 1990 bei den nächsten Kommunalwahlen wird die Leipziger SPD, die den hannoverschen Oberstadtdirektor als Kandidaten für die Funktion des Oberbürgermeisters nominiert hatte, mit 35,13 Prozent stärkste Partei. Dr. Hinrich Lehmann-Grube wird von der Leipziger Stadtverordnetenversammlung einen Monat später zum neuen Oberbürgermeister mit 88 der 118 abgegebenen Stimmen gewählt.
Am 16. und 17. Juni 1990 waren „Hannover-Tage“ in Leipzig. Rund 4.000 Hannoveraner/innen an ihrer Spitze Oberbürgermeister Schmalstieg, erwiderten den Besuch der Leipziger.
Nach dieser euphorischen und intensiven Phase flachte jedoch der organisierte Bürgeraustausch von Seiten der Verwaltungen ab. Sie arbeiteten aber noch Jahre eng zusammen, und es gab einige befristete Abordnungen Hannoverscher Verwaltungsmitarbeiter/innen und etliche Westdeutsche bewarben sich auf Stellen in der Partnerstadt oder siedelten mit ihrem Gewerbe dorthin um.
Was auch blieb, waren die persönlichen Kontakte zu engagierten Menschen hüben wie drüben, die teilweise bis heute die freundschaftlich oder auch beruflich und politisch damals neu gewonnenen Kontakte weiter pflegen.
Zum jüngsten Landtagswahlkampf waren wieder Grüne aus Hannover zur Unterstützung beim Plakatekleben und für die Standarbeit bei den Leipziger Grünen zu Gast (zwei Direktmandate gewonnen). Für nächstes Frühjahr denken einige „Alt-Grüne“ aus beiden Städten über eine gemeinsame Veranstaltung zur politischen Bilanz aus der 30-jährigen freundschaftlichen Kooperation nach.